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Eine kritische Bilanz

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„Geschichte kann man nicht sehen, ebenso wie man Gras nicht wachsen sieht...“ Diesen Satz von Boris Pasternak, dem verfemten russischen Nobelpreisträger, könnte man einem ausländischen Besucher sagen, der das Österreich der 50er und 60er Jahre kannte und nun wieder am Ende der 70er Jahre zurückkehrt.

In der Tat sind Veränderungeh der gesellschaftlichen Situation in Österreich aufs erste nicht ins Auge springend. Man muß ein wenig tiefer sehen, um zu erkennen, wie sehr der ideologische Untergrund, auf dem die moderne industriestaatliche Realität aufbaut, verschoben ist. Und 13 Jahre Alleinregierung haben die Gegensätze der beiden großen Lager deutlicher hervortreten lassen, als dies in der vorhergegangenen Koalitionszeit der Fall war. Eine neue Medienwirklichkeit macht Gegensätze noch ersichtlicher und setzt Akzente ohne Rücksichtnahme auf liebgewordene Traditionen.

Als die ÖVP 1966 in einem Anfall von Entschlossenheit der Großen Koalition ein Ende bereitete, sah sich die Regierung unter Josef Klaus vor allem mit einer zentralen Aufgabe konfrontiert: die unerledigten Pakete von hin- und hergeschobenen Proj blemen der Koalition aufzuarbeiten.

Sachzwänge waren es also, die sich vor der Volkspartei türmten: etwa die Neuordnung der verstaatlichten Industrie, die Durchführung einer aufgeschobenen Wohnungsgesetzgebung, die Rundfunkreform. Ökonomisches und politisches Muß zwang die Regierung Klaus daher, ein scharfes Reformtempo einzuschlagen. Auch lagen die Konzepte praktisch fix und fertig vor, weil die ÖVP ja schon in der Koalitionszeit Vorstellungen entwickelt hatte, ohne sie damals verwirklichen zu können. Für die Rundfunkreform lag ein Volksbegehren auf den Tischen des Hohen Hauses.

Die Volkspartei hat lange Zeit ihren Sprung in die Ära der Alleinregierung als selbstauferlegte Mutprobe angesehen. Zuerst und dann vier Jahre lang stand immer die Frage oben an: Würde der soziale Friede halten? Würde es zu einem Ausgleich zwischen „konservativer“ Regierung und sozialistischer Gewerkschaft kommen können?

Mit dem Ausbau der Paritätischen Kommission band man den ÖGB jedenfalls geschickt in den wirtschaftspolitischen Willensbildungsprozeß ein, engte damit aber automatisch auch die eigene Bewegungsfreiheit für gesellschaftspolitische Maßnahmen ein. Man konnte sich „Ideologie“ nur in kleinen Dosierungen leisten, die die Sozialpartnerschaft nicht in Frage stellten. Und so verschob sich gewissermaßen die Große Koalition auf eine neue Ebene.

Der Zwang zu einer pragmatischen und technokratischen Entscheidungspolitik ließ „weltanschauliche“ Vorhaben in den Hintergrund treten. Trotzdem sollte man nicht vergessen, daß die Volkspartei zwischen 1966 und 1970 vor allem familienpolitische Maßnahmen setzte (Alleinverdienerfreibetrag, Erhöhung der Kinderbeihilfe, Änderung

„Die Volkspartei hat lange Zeit ihren Sprung in die Ära der Alleinregierung als selbstauferlegte Mutprobe angesehen“ des Steuerrechts etc.). Für die vom Sozialstaat deklassierten Bauern und Selbständigen wurden Krankenkassen geschaffen. Wesentliche Maßnahmen in bezug auf eine stärkere Föderalisierung konnten eingeleitet werden.

Das lag auf der ideologischen Linie der ÖVP: Motivationen einer christlich-sozialen Politik spielten ebenso eine Rolle wie die Verstärkung der damals besonders in der Bundesrepublik Deutschland forcierten sozialen Marktwirtschaft (1966 war Ludwig Erhard auch CDU-Chef geworden). Industriepolitische Maßnahmen, die der später in die Regierung berufene Professor Stephan Koren verstärkte, müssen erwähnt werden -ebenso wie etwa die Teilprivatisierung der ÖBB in Form der Errichtung eines eigenen Wirtschaftskörpers.

Der Vorrang der Sachpolitik vor der Weltanschauungspolitik war auch Ursache für mehrere innerparteiliche Krisen. Die jährlichen Budgetverhandlungen waren keine Umverteilungskämpfe, sondern ministerielle Prestigekriege. Die Offenheit und Ehrlichkeit dieser Auseinandersetzungen (von Josef Klaus als „Verlebendigung der Demokratie“ bezeichnet) verkleinerten die Vertrauensbasis der Volkspartei in ihrer eigenen Stammwählerschaft.

Die am Ende der Legislaturperiode als wirtschafts- und budgetpolitische Notwendigkeiten verordneten Belastungen (Autosondersteuer, Alkoholsteuer, etc.) wurden aber nicht mit dem Etikett „gerecht“ versehen, sondern lediglich als „notwendig“ verordnet.

Bundeskanzler Josef Klaus, der sich wiederholt als „Reformer“ einstufte, hat in seinen Memoiren festgehalten, daß er den Leistungsstaat in den vier Jahren ÖVP-Alleinregie-rung dem Wohlfahrtsstaat voranstellte. Aber es ist eine Tücke der Reform, daß sie nie beendet werden kann und daß Leistung herausfordert, Wohlfahrt aber dankbar macht.

Der nur knappe Mandatsvorsprung am 1. Mai 1970 (81 : 79 für die SPÖ) und die Bildung einer Minderheitsregierung reduzierten vorerst die Zielvorstellungen einer an der Macht befindlichen sozialistischen Bewegung. So konnte nicht vorrangig sein, Sozialismus zu verwirklichen, sondern die Macht zu konsolidieren und sie auch zu betonieren.

Diese taktische pragmatische Rechnung ging dann durch die Erringung und Erhaltung der absoluten Mehrheit 1971 und 1975 auf. Dabei spielten von Haus aus gewisse Randgruppen eine Rolle, die einigermaßen zutreffend als „Kreisky-Wähler“ zu bezeichnen sind.

Die psychologische Ausgangslage für die SPÖ war 1970 allerdings an-

„Und so brachten 100 Jahre Zuwarten dem Pragmatiker Bruno Kreisky eine totale Parteiloyalität ein“ ders als 1966 für die Volkspartei. Historisch gesehen hatte das bürgerliche Lager von den Christlich-Sozialen bis zur ÖVP immer den Führungspart gespielt; die Sozialdemokraten hatten praktisch 100 Jahre Opposition hinter sich - selbst zwischen 1945 und 1966 war man als „Bereichsopposition“ dem alten Stil treu gebheben.

Eine Politik des Zuwartens und der ständigen punktuellen Schwächung des Gegners war die praktische Auswirkung der theoretischen Maxime des Marxismus, daß der gesellschaftliche Prozeß auf einen Sieg des Sozialismus hinauslaufen müsse.

Die „Veränderung der Gesellschaft“ konnte daher auch dann angestrebt werden, wenn man sich selbst eine Grenze setzte. Und so brachten 100 Jahre Zuwarten dem Pragmatiker Bruno Kreisky eine totale Parteiloyalität ein, die bis heute die eigentliche Ursache des im Grunde unsozialistischen Führerprinzips in der SPÖ darstellt. v

Fast alle Maßnahmen der SPÖ seit 1970 zielten aber nicht allein auf quantitative sachdiktierte Veränderungen ab, sondern waren auf qualitative Mutation ausgerichtet. Alle großen Vorhaben haben nicht radikale Veränderungen angestrebt oder erwirkt, jedoch substanzielle Weichenstellungen vorgenommen.

Ein Beispiel?

Die Schulpolitik der Volkspartei zwischen 1966 und 1970 war darauf ausgerichtet, mehr Österreichern bessere Bildung zu vermitteln: So vermehrte man die Zahl der Mittelschulen und damit die Zahl der Mittelschüler drastisch. Man wollte neun Schuljahre einführen und schuf die materiellen Voraussetzungen für einen Sturm junger Leute auf die Hochschulen. An der Struktur und am System der schulischen Organisation wurde nichts wesentliches verändert, war ja Schulpolitik auch immer eine Angelegenheit der schwarzen Reichshälfte gewesen.

Die Schulpolitik der SPÖ zielte von Anfang an auf Strukturveränderungen in der Schule ab. Sie forderte zuerst mehr „Gerechtigkeit“ und mehr „Demokratie“ - durchaus plausible Argumente. Aber hinter diesem Wortparavent verbargen sich tiefgreifende Veränderüngswünsche, die in das Schulorganisationsgesetz und das Universitätsorganisations-gesetz einflössen.

Vergröbend ließe sich sagen, daß nicht die Verbesserung der Lernbedingungen an den Pflicht-, Höheren und Hochschulen Ziel und Ergebnis der neunjährigen SPÖ-Alleinregie-rung war, sondern die Zerstörung von Autoritätsstrukturen, wodurch das Einsickern außerschulischer Beeinflußungen strukturell begünstigt wurde. (Daß die ÖVP den meisten sozialistischen Schulgesetzen ihre Zustimmung gab, bestätigt, daß „Gleichheit“ und „Demokratisierung“ ihre Faszination auch auf NichtSozialisten weiterhin ausüben.)

Unter den Schlagworten „Demokratisierung“ und „Gerechtigkeit durch Gleichheit“ wurden auch in vielen anderen Bereichen Weichen gestellt. Die Auswirkungen der zum Teil nur ansatzweise spürbaren Veränderungen werden voraussichtlich erst in den achtziger und neunziger Jahren voll zum Tragen kommen.

Am spektakulärsten sind ja wohl die großen rechtspolitischen Veränderungen. Ehe und eheliches Güterrecht, vor allem aber das Strafrecht mit der Fristenlösung deformierten systematisch die übernommene Rechtstradition; „Liberalisierung“ baut Hemmungen ab und reduziert Verantwortlichkeit.

Der SPÖ kam mittlerweile zustatten, daß ein weltweiter Strukturwandel in der Gesellschaft vor sich geht. Immer mehr Selbständige werden unselbständig, Bauern verlassen ihre Höfe, Handwerker und Gewerbetreibende geben ihre Klein- oder Mittelunternehmen auf. Aber auch die Industrie verliert Arbeitskräfte; der alte Proletarier stirbt aus und an seine Stelle tritt der Bürokrat. Die Verwaltung überwuchert die Produktion.

Der Unselbständige und der Staat, Gebietskörperschaften oder von Institutionen abhängige Verwaltungsbeamte gehören aber zu Gruppen, die der „Gleichheit“ und der Verantwor-tungsminimierung besonders ' verpflichtet sind. Die SPÖ-Regierung hat diesen Prozeß beschleunigt und verstärkt systematisch durch Sozialgeschenke den Zug zur Abhängigkeit.

Die Regierung Kreisky hat sich jedenfalls in den neun Jahren nicht durch Sachzwänge terrorisieren lassen Und Verläßt sich weiterhin darauf, auch gegen wirtschaftliche Vernunft demokratische Zustimmung zu erhalten.'“Der Sozialismüs österreichischer Prägung ist in neun Jah-

„Die ÖVP hat verbessern wollen- die SPÖ hat verändern können“ ren nicht auf eine Sozialisierung Österreichs hinausgelaufen - wohl aber auf eine weitgehende Schwächung aller noch nicht vom öffentlichen abhängigen Bereiche.

Die wirklich selbständigen Privatunternehmer sind abzählbar und Regierungschef und Finanzminister ziehen ihre Fäden auch dort, wo privatwirtschaftliche Organisation dominiert: Der alte Unternehmertyp ist abgelöst vom modernen „Macher“, der mit Regierung, Körperschaften und Gewerkschaft paktiert.

Der SPÖ ist es überdies gelungen, in neun Jähren durch eine linkslibe'-rale Kultur- und Schulpolitik gewisse Randgruppen zu beeinflussen; die ÖVP hat seinerzeit trotz ihrer „Lei-stungsideölogie“ die Aufsteiger nicht faszinieren können.

Historisch gesehen hat also die ÖVP in vier Jahren - bildlich gesprochen - den Koalitiöhsschutt beseitigen dürfen; die SPÖ hat auf dem freien Bauplatz die Fundamente aufgezogen. Die Volkspartei hat sich in vier Jahren unter einem der fleißigsten Kanzler der Zweiten Republik der Sächreförm verschrieben; die SPÖ hat in rteün Jähren Machtverfestigung betrieben. Die ÖVP hat verbessern wollen - die SPÖ hat verändern können.

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