FPO - Entscheidung während der Häutung
Die genaue Zahl aller bisher in Österreich entstandenen politischen Bewegungen, Parteien und wahlwerbenden Gruppen ist noch nicht festgestellt worden. Es handelt sich um einige hundert. Sie alle mußten aber letzten Endes auf drei politische Typen reflektieren: auf die „Schwarzen“, auf die „Roten“ und auf die „Nationalen“.
Die genaue Zahl aller bisher in Österreich entstandenen politischen Bewegungen, Parteien und wahlwerbenden Gruppen ist noch nicht festgestellt worden. Es handelt sich um einige hundert. Sie alle mußten aber letzten Endes auf drei politische Typen reflektieren: auf die „Schwarzen“, auf die „Roten“ und auf die „Nationalen“.
Um 1880, nach dem Ende der liberalen Mehrheit im österreichischen Abgeorndetenhaus, waren die grand old men dieser drei Gruppen auf der Suche nach dem neuen politischen Kurs noch in einem Boot: Karl Lueger, später Personifikation der christlichsozialen Bewegung, Viktor Adler, später Einiger der österreichischen Sozialdemokratie und Georg von Schönerer, Vorkämpfer der deutschnationalen Bewegung in Österreich, im Dritten Reich der Vorläufer genannt.
1882, bei der Abfassung des „Linzer Programms“, ist Lueger nicht mehr dabei. Trotz aufkeimender Zwiespältigkeiten einigen sich Schönerer und Adler noch einmal in der Sorge um die nationalen Belange der Deutschen in der Monarchie und in einer Frontstellung gegen die Schwarzen. Schon geht Lueger eigene Wege, die ihn, wenn auch nicht geradewegs, ins Lager der katholischen Sozialreformer führen. 30 Jahre nachher erkennt Otto Bauer mit dem geschärften Blick des Gegners die Ausgangslage der christlichsozialen Bewegung (Sozialdemokratische Monatszeitschrift „Der Kampf“, 1911, Juniheft): „Bleibendes Verdienst dieser Bewegung ist es, zum erstenmal große Massen in das politische Leben geführt, den volksfremden Liberalismus gestürzt und die großen sozialen Fragen auf die Tagesordnung gestellt zu haben.“
Mitte der achtziger Jahre zerreißt auch das Band zwischen Schönerer und Adler. So wie Schönerers Rassenantisemitismus die Distanz zu Adler legte, stand fortan zwischen Schönerer und Lueger die nunmehr bereits vollzogene Wendung des Letzteren zur katholischen Sozialreform und der politische Instinkt Luegers angesichts des nationalen,
habsburg- und staatsfeindlichen Fanatismus des Führers^ der Alldeutschen. Das alles ist heute nicht nur schwacher Nachhall aus Urgroßvaters Tagen. Es ist Geschichte, die nachher immer wieder Gegenwart wurde: Erst in jüngster Zeit kommt die SPÖ mit Teilen ihrer Bewegung nur mit Mühe über den Graben, den ihre antiklerikalen Vorväter einmal im Verein mit Schönerer gezogen haben. Und die heiße Lohe des emotional angetriebenen Antiklerikalis- mus weht 1970 durch den Sitzungssaal des Nationalrates, als der Abgeordnete Friedrich Peter den Schwarzen im Zorn zuruft: „So kann doch nur ein Schwarzer denken!“
Dritte Kraft zwischen Schwarz und Rot
Der kräftige marxistische Grundgehalt der österreichischen Sozialdemokratie legte zunächst eine strikte Demarkationslinie zwischen das nationale Lager und die politische Linke, auf der es in Österreich längst keine liberale Bewegung mehr gibt. Trotzdem ereignete sich bis heute eine ununterbrochene Serie großer innenpolitischer Entscheidungen, die nur mit einer wirksamen taktischen Aktionsgenciein- schaft der politischen Linken und der Nationalen erzwungen werden konnten.
Friedrich Funder beschreibt zum Beispiel den endgültigen Sturz der christlichsozialen Vormacht in Wien als Folge des Ausgangs der Reichsratswahl im Juni 1911: „Unter der Sammelparole: Der Klerikalismus steht und fällt in Wien, wählten damals in der Stichwahl Sozialdemokraten und Deutsch-Freisinnige zusammen die christlichsozialen Kandidaten, die meistens die relative Mehrheit der Stimmen für sich hatten, nieder.“
Die Wahlentscheidung von 1911 bestimmte aber die Ausgangslage in der Republik von 1918, deren Provisorische Nationalversammlung dementsprechend beschickt wurde. Nicht zuletzt deswegen kamen die Sozialdemokraten so an die Spitze und gaben der jungen Republik das erste Gepräge: Karl Seitz Staatsoberhaupt, Karl Renner Staatskanzler, Jakob Reumann Bürgermeister von Wien.
Da in der Ersten Republik keine der damals im Nationalrat vertretenen Parteien jemals eine absolute Mehrheit erringen konnte, blieben die „nationalen Parteien“ der Dritten Kraft (1919 noch neun, nachher: Großdeutsche Volkspartei, Landbund für Österreich, Nationaler Wirtschaftsblock) zwischen den beiden Großparteien auf der politischen Rechten und Linken „Zünglein an der Waage“. Bis 1933 hieß das: keine
Koalition mit der politischen Linken, Koalition mit den Christlichsozialen.
Während 1933/34 nacheinander die KPÖ, die NSDAP und die SDAP von der Regierung Dollfuß aufgelöst wurden, blieb der Großdeutschen Volkspartei dieses Schicksal erspart und sie überlebte so die Partei Luegers. Bei der Beschlußfassung über die Maiverfassung 1934 konnten die verbliebenen Abgeordneten dieser Partei die Rolle der Opposition im Rumpfnationalrat übernehmen und für die nationalen Belange im Dollfuß-Österreich das Wort nehmen.
In der Zweiten Republik kehrte die Dritte Kraft 1949 als „Wahlpartei der Unabhängigen“ (WdU) in den Nationalrat zurück. Sie erreichte auf Anhieb fast die gleiche Mandatszahl, mit der vor 1933 die Dritte Kraft im Nationalrat vertreten gewesen war (16, vorher 19). Die sozialistischen Spitzenpolitiker Adolf Schärf und Oskar Helmer beschreiben in ihren politischen Erinnerungen, wie sie am Vorabend der Nationalratswahl 1949 mit Hilfe sozialistischer Gesinnungsfreunde in Großbritannien und Frankreich auf das in Österreich noch bestehende Besatzungsregime einwirkten, um das Comeback der Dritten Kraft zu ermöglichen. Obwohl die SPÖ bei der Wahl im Jahre 1949 nicht wenige der bisher innegehabten Nationalratssitze verlor und ihr Verlust damit größer war als jener der ÖVP, war dieser Wahltag nach Ansicht des damaligen Parteivorsitzenden Adolf Schärf ein Sieg der SPÖ: Mit dem Wiederauf treten der Dritten Kraft war die von der ÖVP 1945 errungene absolute Mehrheit im Nationalrat für die nächsten 17 Jahre dahin. Die ÖVP blieb mandatsstärkste Fraktion, konnte aber nur noch in einer Koalition mit der SPÖ eine Regierung auf parlamentarischer Grundlage bilden. Während die Dritte Kraft seither die Diffamierung des Koalitionsregimes zu einem wesentlichen Bestandteil der Fabrikation ihres politischen Images benützt, garantierte sie anderseits jahrelang dieses System, da sie auch nach dem Ende des Besatzungsregimes bis zum Tode des Bundespräsidenten Adolf Schärf (1965) als Juniorpartner einer „kleinen Koalition“ nicht in Betracht kam.
Eine „höchst widernatürliche Ehe“ nannten in der Zeit der Ersten
Republik sozialdemokratische Politiker die damals rasch aufeinanderfolgenden Koalitionsregierungen der Christlichsozialen mit Parteien der Dritten Kraft. Dieses umstrittene Experiment wurde tatsächlich erst nach einer gewissen Denaturierung des ursprünglichen Charakters der christlichsozialen Bewegung möglich: nach der weitgehenden Abschwächung des sozialreformatorischen Charakters zugunsten dessen einer Staatspartei; nach dem Einschwenken auf kulturpolitische Ziele der Dritten Kraft; nach der Verschärfung der Konfrontation mit der politischen Linken als Folge bestimmter wirtschafts- und sozialpolitischer Konzepte. Für die Parteien der Dritten Kraft war die Mitwirkung als Juniorpartner im Verhältnis zur geringen Zahl ihrer Mandate eher ertragbringend. Um so kostspieliger wurde auf die Dauer das gemeinsame versuchte Experiment für die Christlichsozialen. Während diese von den Mandaten, die bei der Nationalratswahl 1927 auf die von ihnen gemeinsam mit den Großdeutschen aufgestellte „Einheitsliste“ entfielen, nur 73 (gegen 82 bei der vorangegangenen Wahl) bekamen, stieg die Zahl der Nationalratssitze der Großdeutschen, wie ausbedungen, um drei. Es kam noch ärger: Während die Parteien der Dritten Kraft auch nachher ihre Position im Nationalrat gut behaupten konnten, ging es mit den Christlichsozialen nach 1927 unaufhaltsam bergab. 1930 kamen an ihrer Statt die Sozialdemokraten an die Spitze und Karl Renner auf den Stuhl des Ersten Präsidenten des Nationalrates.
Auch nach 1945 ging dieses Spiel weiter. Gute Wahlerfolge für die Dritte Kraft bedeuteten jeweils schlechte Wahlerfolge für die ÖVP (und umgekehrt). In den seit 1949 stattgefundenen Nationalratswahlen (Ausnahme: 1953) war mit einem Ansteigen der Wählerstimmen für die Dritte Kraft (WdU, VdU, FPÖ) regelmäßig ein größerer oder kleinerer Verlust von Wählerstimmen der ÖVP verbunden. Dieser Regelzustand mag in verschiedenen Fällen verschiedene Ursachen gehabt haben. Die damit gemachte Erfahrung bestimmte jedenfalls das politische Klima in den Grenzzonen zwischen ÖVP und Dritter Kraft.
Nationale Belange — Liberale Ziele
Man sagt, innerhalb der FPÖ sei neuerdings die Wahrnehmung „nationaler Belange“ nur mehr Gegenstand des Interesses jener, die inzwischen 50 Jahre und älter geworden sind. Die Idee, nach fast 100 Jahren wieder eine liberale Partei in Österreich in Front zu bringen, scheint faszinierend zu sein, allerdings in Kreisen außerhalb der FPÖ mehr als innerhalb dieser Partei. In unserer Zeit ist eine bestimmte Form des Neoliberalismus in Europa unterwegs: in Frankreich nach der Parole: Ni Marx ni Jesus, in der BRD und in anderen Ländern dort, wo das schleißig gewordene Netzwerk bisheriger ideologischer Bindungen im Zeitalter der Entideologisierung größere Massen für liberale Ziele entläßt.
In Österreich hat die Welle der Entideologisierung in den sechziger Jahren nicht nur die ÖVP und die SPÖ, sondern auch die FPÖ erfaßt
Stimmte 1955 die Nationalratsfraktion der WdU’, nicht zuletzt in Wahrnehmung nationaler Belange, gegen das Bundesverfassungsgesetz zur Erklärung der immerwährenden Neutralität des Landes, dann tritt jetzt die FPÖ entschlossen auf den Boden dieser Neutralität. Verlangte die FPÖ 1962 anläßlich der Schulreform noch in den nichtöffentlichen Ausschußberatungen die Wahrnehmung „nationaler Belange“ durch dieses Gesetzeswerk, dann ist jetzt dieser Tenor seltener und schwächer zu hören. Stimmte noch vor einem Jahrzehnt die FPÖ-Fraktion im Nationalrat gegen die damalige Neuordnung der Beziehungen zwischen dem Staat und der katholischen Kirche, dann läßt sie es jetzt einfach beim Fehlen jedes Organs für religiöse Fragen bewenden. In dem Maße aber, in dem ideologische Färbungen der FPÖ verblaßten, wurden die Konturen einer von den Prinzipien des Wirtschaftsliberalismus geprägten Interessenvertretung schärfer erkennbar.
Bei dem Versuch der FPÖ, zwischen der ÖVP und der SPÖ des Jahres 1971 stehend, so etwas wie eine „Äquidistanz“ zu beiden Großparteien zu wahren, geriet sie mit zunehmender Liberalisierung schließlich in jene Position, von der aus sie 1971 bei der Auflösung des Nationalrates der SPÖ nur mehr die übertriebene Forcierung sozialpolitischer Aktivitäten der SPÖ-Allainregierung vorhielt. Das aber heißt nicht, daß eine „liberale FPÖ“ dieses scheinbar optimale Image der Dritten Kraft, vollends und überall auf die innere Struktur der Partei paßt. Nicht nur alte Männer stoßen sich daran; die Nationalen, die ohne die Eigenschaft alt in nicht wenigen Bundesländern präsent sind, begrüßen keineswegs das, was man im Sinne der Neuen Linken Umfunktionieren nennt; und das liberale Image ist nicht immer das Ideal der Jugend in der FPÖ, mit der Bundesobmann Friedrich Peter oft mehr Kämpfe zu bestehen hat als im Umgang mit seinen Kameraden unter den alten Kämpfern.
Hingegen hat das Motiv „liberal“ zweifellos in den Massenmedien manchen Nerv getroffen. Die Vorstellung eines liberalen Revival begeistert manchen Leitartikler und Kommentator. Der ORF, mag er noch so sehr auf das Image seiner Unabhängigkeit aus sein, wendet einen Gutteil der andernorts frei gewordenen Interessen und Sympathien der FPÖ zu. Es ist daher zu verstehen, daß Bundesobmann Friedrich Peter auch nach der Wahlniederlage der ÖVP vom 1. März 1970 deren Nationalratsfraktion noch einmal auf die Barrikaden trieb, um den letzten Angriff der SPÖ auf das, was sie das „System Bacher“ nennt, aufzuhalten.
So wie vor 90 Jahren Adler und Schönerer, stehen heute Kreisky und Peter einander in seltsamer Gelassenheit gegenüber. Zweifellos entstand das dazu gehörige neue politische Klima nicht zuletzt als Folge des bisherigen Verlaufs jenes gleichzeitigen Experiments, das SPD und FPD gemeinsam in Bonn unternehmen. Das aber heißt im Falle der FPÖ, daß sie daran ist, zugleich Ziele, Methoden und Typen zu ändern. Die harten Bänke der Opposition sind in Österreich auf die Dauer nicht begehrt. Nur schwer findet die ÖVP, in einer Bewegung stehend, die seit 1906/07 immer staatstragend gewesen ist, den Stil der Oppositionspartei; auch die SPÖ empfahl sich nach ihrer Wahlniederlage im Jahre 1966 nicht als effiziente Oppositionspartei, sondern als vertrauenswürdige Regierungspartei. Die Dritte Kraft in Österreich, Generationen lang Sammelbecken verschiedener Malkontenter, Gegner einer definierten österreichischen Staatlichkeit, militanter Kämpfer in der Illegalität und die Partei derer, denen das NEIN leichter von der Lippen kam als das JA, tut sich trotz der Bemühungen, mit denen Friedrich Peter das Pferd versammeln will, nicht leicht bei der Hinwendung auf den ins Positive gewandelten Stil.
Das Zünglein
So erlebt die FPÖ den 10. Oktober 1971, während ihre Häutung noch im Gange ist. Oder genauer gesagt: während einer Entflechtung, in der die Entscheidung darüber, was sie bisher gewesen ist und was sie in Zukunft sein will, erst fällig wird.
Leichthin reden viele Österreicher von einer kleinen Koalition SPÖ/ FPÖ. Das wäre ein Experiment, das es trotz aller geschilderten Naheverhältnisse, bisher nicht gegeben hat. Dieses Modell einer kleinen Koalition hat für alle drei politischen Parteien, also nicht nur für die ÖVP, schwer kalkulierbare Risken in sich, die in den Hauptquartieren der FPÖ wahrscheinlich mit größerem Eifer prognostiziert werden als in jeder anderen Partei. Die Geschichte der politischen Parteien in Österreich beweist, daß bisher noch keine politische Partei auf die Dauer Bestand und Erfolg behalten hat, die nacht auf eine der bereits entwickelten Typen reflektierte. Ob das absolut Neue, auf das viele Menschen in unseren Tagen warten, auch einen neuen politischen Typ realisieren wird, ist die große Frage in diesem entscheidungsschweren Jahr 1971.
Die Frage lautet: Wird die Dritte Kraft am 10. Oktober 1971 wieder einmal „Zünglein“ sein? Die Frage bezieht sich zunächst auf die Wahlentscheidung dieses Tages. Daß es der FPÖ gelingen wird, das Plus für ihren erwarteten Wahlerfolg ausgerechnet der SPÖ abzujagen, das behaupten nicht einmal ihre Wahlwerber. Zu einem solchen Zweck hätte sich die SPÖ wohl kaum darauf eingelassen, zusammen mit der FPÖ ein seit 50 Jahren unangefochtenes, von Karl Renner selbst entwickeltes Prinzip der Nationalrats Wahlordnung am Vorabend einer neuen Wahl abzuändern. Damit kommt die Dritte Kraft, wie immer seit 1949, primär nicht der SPÖ, sondern der ÖVP in die Quere. Und selbst dann, wenn die FPÖ bei der Nationalratswahl 1971 nicht mehr erreichen würde, als ihre 1970 errungene Position verhältnismäßig zu behaupten, würde das, zusammen mit einem Abwehrerfolg der SPÖ, unter Umständen schon ausreichen, um dem Kabinett Kreisky über die Hürde des 10. Oktober 1S71 zu helfen. Es sei denn, der Bundespräsident würde nachher von der Praxis abgehen, die er 1970 bei der Berufung Kreiskys zum Bundeskanz- her einführte.