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Der nichtengagierte Wähler

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Vergleicht man die Ergebnisse der Wahlen in den österreichischen Nationalrat nach 1945 mit den Wahlergebnissen anderer Demokratien, so fällt eine Tatsache sofort auf: In Österreich ist (wie schon in der Ersten Republik) die Verteilung der Wählerstimmen auf die Parteien ungewöhnlich konstant.

Noch viel auffälliger wird dieser Umstand, wenn man die Wählerstimmen in einen fiktiven „Rechts-” und einen „Linksblock” teilt und so die Summe der Prozentanteile von ÖVP und FPÖ (VDU, WDU) der Summe der Prozentanteile von SPÖ und KPÖ gegenüberstellt (vergleiche Tabelle 2).

Seit 1953 gab es zwischen diesen beiden konstruierten Blöcken keine wesentlichen Verschiebungen. Obwohl ÖVP und SPÖ seit zwei Jahrzehnten gemeinsam regieren, werden offensichtlich die Rechte und die Linke wahlsoziologisch von einem tiefen Graben getrennt. Zwischen ÖVP und SPÖ gibt es nur sehr wenige Wechselwähler („floating voters”); die überwältigende Mehrheit der Wähler der Regierungsparteien geht mit ihrer Partei durch dick und dünn. Diese Erscheinung läßt sich nicht nur aus den Statistiken ablesen, sondern wird auch von den Ergebnissen der Meinungsumfragen der Sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft (Blecha, Gmoser, Kienzl: „Der durchleuchtete Wähler”) erhärtet. Die Ursache ist, daß beim österreichischen Wähler neben der sozialorientierten Determinierung die traditionsorientierte die größte Rolle spielt, während die sachbezogene Orientierung nur einen geringen Faktor darstellt.

Nun hieße es zwar die Wählerschaft überfordern, würde man, vom Postulat der Demokratie ausgehend, generell erwarten, daß die politische Entscheidung der Stimmabgabe sachbezogen gefällt wird — das ist ein Ideal, dem man möglichst nahe kommen soll. Ein allzu arges Mißverhältnis zwischen den vorwiegend traditions- oder milieubedingten Bestimmungen des Wählerverhaltens und den vorwiegend rationalen Bestimmungsfaktoren läßt sich jedoch nur schwer mit der Funktion demokratischer Wahlen vereinbaren, in denen das Volk die regierenden Eliten bestätigen oder ablösen soll.

Die ÖVP-FPÖ-Wechselwähler

Gibt es auch keine besonders relevante Anzahl von Wechselwählern zwischen den oben konstruierten Blöcken, so existiert doch eine Wählerschicht, die zwischen zwei Parteien fluktuiert und so eine wahlstrategische Schlüsselposition gewinnt. Die zwischen ÖVP und FPÖ schwankende Wählergruppe, die im Hinblick auf die geringe Größe der FPÖ für diese relativ bedeutend ist, nimmt eine solche Position ein. Jeder Stimmgewinn der ÖVP (in Prozentanteilen) spiegelt sich in einem Stimmverlust der FPÖ und umgekehrt. Gewann 1956 die ÖVP 4,70 Prozent der gültigen Stimmen gegenüber 1953, so verlor die FPÖ 4,43 Prozent. 1959 stieg wieder der Stimmanteil der Freiheitlichen um 1,18 Prozent, der der Volkspartei sank um 1,77 Prozent, um 1962 wieder um 1,24 Prozent zu steigen — die FPÖ verlor 1962 0,65 Prozent. Diese zwischen ÖVP und FPÖ stehende Wählerschicht entschied aber, wer in Österreich zur stimmstärksten Partei wurde: 1956 und 1962 entschied sie sich für die ÖVP, wodurch diese die relative Stimmenmehrheit erhielt, 1959 ging sie zur FPÖ — dieser Verlust bedeutete für die ÖVP — stimmenmäßig — den zweiten Platz hinter der SPÖ.

Die Bedeutung dieser Wählergruppe bringt es nun mit sich, daß ihr die Propaganda, und damit die Politik der ersten Regierungspartei ein besonderes Augenmerk schenkt. Dies ist im Mechanismus demokratischer Wahlen begründet, der schwankende Wähler zum begehrten, weil wahlentscheidenden Preis für die Parteien macht. Nur wäre zur österreichischen Situation anzumerken, daß die FPÖ keineswegs eine Partei der Mitte, sondern der Rechten ist, weshalb die zwischen ÖVP und FPÖ fluktuierenden Wähler nicht „Grenzwähler” im Sinn von Resultanten der Hauptströmungen innerhalb der österreichischen Demokratie sind.

Ist man auch über die beherrschende Position der ÖVP-FPÖ- Wechselwähler aus den oben geschilderten Gründen nicht glücklich, so kann man der ÖVP doch nur schwer einen Vorwurf daraus machen. Es ist eine Folge der politischen Struktur Österreichs, daß die Volkspartei glaubt, daß bei rechten Randschichtenwählern mehr zu gewinnen, als bei linken Randschichtenwählern zu verlieren ist.

Dadurch aber erscheint die Politik der Volkspartei in manchen Punkten in einem Licht, das den ursprünglichen Intentionen dieser Partei nicht entspricht. Die ÖVP war doch einmal stolz darauf, die einzige Partei zu sein, deren Name mit „Österreich” beginnt, sie war einmal stolz, daß niemand ihren Patriotismus bezweifeln konnte. Die Wahltaktik hat nun bewirkt, daß immer wieder Konzessionen an die rechten Rand- sebichten gemacht werden, die mit dem früheren Stolz der Partei nicht immer im Einklang stehen. Diese Wahltaktik, die sich logisch aus dem politischen System, vor allem aus dem Verhältniswahlsystem ableiten läßt, führt zwangsläufig zu einem Widerspruch mancher politischer

Schachzüge zu den Strömungen, die einmal als Kern der Volkspartei galten.

In anderen Demokratien …

In den drei ältesten der großen Demokratien, in Großbritannien, in den USA und in Frankreich, ist die Zahl der fluktuierenden Wähler bedeutend größer als in Österreich. Sowohl in den Demokratien mit Zweiparteiensystem (Großbritannien, USA) als auch in Frankreich sind diese Wählerschichten schon seit längerer Zeit Objekte wahlsoziologischer Untersuchungen. Die Analysen von Paul F. Lazarsfeld waren auf diesem Sektor bahnbrechend. Da diese Wählerschichten die Wahlen entscheiden, haben gerade die Parteien größtes Interesse an einer wissenschaftlichen Durchleuchtung der sozialen und lokalen Streuung, des Umfanges und der Verhaltensmotive der Wechselwähler.

Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland besitzen die Wechselwähler eine größere Bedeutung als in Österreich (vgl. Max Kaase, „Analyse der Wechselwähler in der BRD”, in „Zur Soziologie der Wahl”, Sonderheft 9/1965 der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie”). Während aber in Österreich die Wechselwähler ein geringeres politisches Interesse als die parteigebundenen Wähler besitzen, wie im „Durchleuchteten Wähler” nachgewiesen ist, trifft dies für Westdeutschland nicht zu. Sowohl die „Wechsler” zwischen CDU/ CSU und SPD als auch die zwischen CDU/CSU und FDP sind politisch interessierte Wähler, die in ihrer Wahlentscheidung zu einem hohen Prozentsatz aus rationalen Gründen schwanken. In Österreich sind die (ohnehin nur minimal vorhandenen) ÖVP-SPÖ-Wechsler, die dem von Ferdinand A. Hermens geprägten Begriff der „Grenzwähler” entsprechen würden, die politisch ungebildetste Wählergruppe überhaupt; sie sind (mit wenigen, quantitativ unbedeutenden Ausnahmen) nicht- auf Grund rationaler ‘Überlegungen, sondern auf Grund ihrer mangelnden politischen Bildung keine engagierten Wähler.

Wechselwähler im demokratischen System

Es ist Voraussetzung für ein demokratisch-parlamentarisches System, daß die Regierungspartei (oder Regierungskoalition) ihre Mehrheit verlieren kann. Deshalb ist eine mehr als theoretische Möglichkeit der Änderung der Parteipräferenz der Wähler eine Bedingung für das Funktionieren eines demokratischen Systems überhaupt, dm besonderen aber eines parlamentarischen Systems. Hat man grundsätzlich Bedenken gegen Wechselwähler, fügt man diesen Attribute hinzu, die bereits eine negative Wertung einschließen — „Flugsand” etwa —, wendet man sich gegen eine Ent- dogmatisierung der Politik. Man verwechselt dann politische Parteien mit Weltanschauungen, ein Abfall gilt als Verrat.

Nur dann wird die Kontrolle der regierenden Eliten durch die Wähler effektiv sein, wenn die Haltung der Wähler den Parteien gegenüber mehr als eine bloß theoretische Möglichkeit der Änderung der Parteienpräferenz einschließt. Muß eine Partei nicht fürchten, daß ihre Politik bei ihren Wählern tatsächlich derartige Reaktionen hervorruft, muß also eine Partei nicht immer wieder ihre Politik auf ihre Wähler im Hinblick auf deren Verhalten bei der nächsten Wahl abstimmen, dann entsteht allmählich jene nur zu gut bekannte Kluft zwischen Wählern und Gewählten.

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