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Die „neuen Reichen“ wählten nicht ÖVP

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Zwei Wochen nach den Nationalratswahlen ist das Ergebnis bereits leicht überschaubar, vor allem aber leichter durchschaubar: In der Wahlnacht selbst haben sich nicht nur die „Kameraden und Freunde“ in der Kärntnerstraße und die „Genossen“ in der Löwelstraße, sondern auch die „Kameraden und Genossen Wähler“ einigermaßen über den Ausgang gewundert.

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Zwei Wochen nach den Nationalratswahlen ist das Ergebnis bereits leicht überschaubar, vor allem aber leichter durchschaubar: In der Wahlnacht selbst haben sich nicht nur die „Kameraden und Freunde“ in der Kärntnerstraße und die „Genossen“ in der Löwelstraße, sondern auch die „Kameraden und Genossen Wähler“ einigermaßen über den Ausgang gewundert.

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Wenn von einem bundeseinheitlichen Trend bei der Stimmenabgabe gesprochen werden kann, dann tritt dieser in einem deutlichen Ost-West-Gefälle zutage: Bei der ÖVP hielten sich Niederösterreich, Burgenland und Kärnten gegenüber 1966 verhältnismäßig gut, während der „goldene Westen“ — mit Vorarlberg, Tirol und Oberösterreich — die größte Verlustquote brachte. Bei der SPÖ steht Tirol an der besten Stelle, Burgenland dagegen an der schlechtesten, während die FPÖ am besten in Niederösterreich abschnitt und am schlechtesten in Kärnten. Hatten Politologen gemeint, daß das politische Verhalten der Wahlberechtigten von der Konjunkturentwicklung abzuleiten sei, daß also Konjunkturaufschwünge der ÖVP und Konjunkturrückgänge der SPÖ als Vorteil anzurechnen seien, dann wurde diese These am 1. März eindeutig widerlegt. Denn die ÖVP hat besonders in Gemeinden mit einem sehr hohen Pro-Kopf-Einkommen Stimmenverluste einstecken müssen, während sie in echten Industriegemeinden weniger Wähler verloren hat

Diese Feststellung geht auch aus der noch in der Wahlnacht durchgeführten Multivariatenanalyse hervor. Die Wähler in ÖVP-Hochburgen und solche mit hohem Durchschnittseinkommen haben letztlich die Wahlentscheidung herbeigeführt: 44,6 Prozent der ÖVP-Verluste und 40,7 Prozent der SPÖ-Gewinne — im Ver-

gleich zu 1966 — fallen dieser Kategorie zu.

Wie läßt sich diese Entwicklung deuten?

Darüber spricht man nicht gerne. Keine Partei —vor allem aber auch der Wähler — will den Hintergrund dieser Realität sehen: Er ist das Ergebnis eines Lizitationsdenkens, das sich bei steigendem Wohlstand breitmacht. Dabei spielt auch die Wahlpropaganda eine bedeutende Rolle. Am Beispiel der ÖVP-Hochburgen ist hinlänglich bewiesen, daß die „Angstmasche“ der Kärntnerstraße ins Leere gegangen ist. Im Gegensatz dazu hat aber die Unzufriedenheitspropaganda der SPÖ ins Schwarze getroffen. Ihr Ruf nach dem „Mehr“ ist vor allem bei den „neuen Reichen“ auf fruchtbaren Boden gefallen. Nicht so sehr die politische Experimentierfreudigkeit, nicht so sehr die „umfassenden Programmalternativen“ der SPÖ, sondern eben dieses Lizitieren haben dem 1. März ihren Stempel aufgedrückt. Die Aspekte, die sich daraus ergeben, sind nicht gerade die erhebendsten. Gewinnt nächstes Mal jene Partei, die noch höher lizitiert? Ein beredtes Beispiel des vergangenen Wahlkampfes ist dabei auch die Verkürzung des Wehrdienstes im Bundesheer.

Ob dieses Lizitationsdenken nun aber mit einer zunehmenden demokratischen Reife der Wählerschaft vereinbar ist — wofür viele das Wahlergebnis vom 1. März ansehen

wollen —, ist fraglich. Die Verantwortlichen der politischen Parteien müßten freilich daraus ihre Schlüsse ziehen. Denn nicht die echt Wohlhabenden oder Armen haben umgeschwenkt, sondern die Mittelschicht. Das „Neidauge“, das man bislang nur auf den nächsten Nachbarn warf, hat nun auch die allgemeine Wahlentscheidung in neue Bahnen gelenkt

Die Rolle des ORF

Die Jungwähler haben einstweilen noch nicht auf diese neue „Österreich-Linie“ eingeschwenkt. Bereits im Wahlkampf wurde das Werben um die Stimmen der heranwachsenden Generation etwas überschätzt. Am 1. März war weder der Jungwählergewinn der SPÖ wahlentscheidend noch der Jungwählerverlust der ÖVP. Anders verhält es sich mit der Wahlentscheidung der Frauen: diese war für die ÖVP ungünstiger als sie für die SPÖ günstig war. Unter den Faktoren, die für die Verluste der ÖVP maßgebend sind, steht an fünfter Stelle der Frauenanteil. In Gemeinden mit sehr hohem Frauenanteil hat die Volkspartei sogar ein wenig über dem normalen Trend verloren, doch erreichen die Prozentsätze nur einen Bruchteil der zu Beginn angeführten Faktoren. Interessant scheint auch noch die Feststellung, daß bei dem für die SPÖ erfolgreichen Wahlausgang die SPÖ-Hochburgen nur eine untergeordnete Rolle spielten.

Der SPÖ ist es also gelungen, zusätzliche Wählerschichten anzusprechen, während die ÖVP sowohl Prozent- wie auch machtmäßig auf den Stand von 1962 zurückgefallen ist. Das Verblüffende ist — wie schon mehrmals erwähnt —, daß es eine Parallele zwischen Wechselbereitschaft zur SPÖ und gestiegenem

Wohlstand gibt. Ist man im Lager der ÖVP der Meinung, daß „Österreich kleiner geworden ist, daß die Massenmedien eine Einebnung der Gesellschaft herbeigeführt haben und daß es daher keine Hochburgen einer Partei mehr geben kann“, so wollen die Sozialisten dieses Argument nicht gelten lassen. Der Ein-ebnungseffekt, stellt man bei diesen fest, hätte doch dazu führen müssen, daß auch die Sozialisten, die in ihren Hochburgen denselben ORF empfangen, keine weiteren Gewinne hätten verzeichnen dürfen. Gerade das Gegenteil ist aber eingetreten, wenn auch nur im bescheidenen Ausmaß.

Dazu müßte aber auch gesagt werden, daß der Verstädterungsprozeß in den SPÖ-Hochburgen bereits abgeschlossen ist, während in den bisher ÖVP-dominierten Gebieten die Urbanisierung erst nach und nach um sich greift. Unter diesem Aspekt sind auch die Ergebnisse der westlichen Bundesländer zu sehen. Von den fünfundzwanzig österreichischen Wahlkreisen konnte nur der Wahlkreis 24 — Kärnten — das von der ÖVP erhoffte Ergebnis erreichen.

Vielleicht haben in diesem Bundesland auch die Landtagswahlen einen Teil dazu beigetragen — jedenfalls konnte die ÖVP im „Sonnenland“ von 100 Stimmen des Jahres 1966 noch 96,6 erhalten. An zweiter Stelle folgt der Wiener Wahlkreis 7, der immerhin noch 96,1 der 100 Stimmen von 1966 für die ÖVP gebracht hat. Absoluter Minusrekord konnte aber in Oberösterreich — aus dem Innviertel — verzeichnet werden: Von den 100 ÖVP-Wählern der Nationalratswahlen 1966 waren 1970 nur noch 88,2 zu einem Volksparteivotum, bereit. Unter der Neunzigergrenze liegen dann noch Vorarlberg, das Traun- und das Hausruckviertel sowie Tirol.

Für die FPÖ war Niederösterreich der silberne Streifen am Horizont: mit einem Index von 113 Wählerstimmen von 100 des Jahres 1966 bietet sich nun für die Weiterarbeit dieser Partei ein neues Hoffnungsgebiet an. Während die ÖVP kein einziges Mal den Hunderterindex 1966 erreichen konnte, blieb die FPÖ nur in Kärnten (Index: 83,4) und Wien (Index: 97,5) unter dieser Grenz.

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