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Erdrutsch im „Kernland“

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Die ÖVP verliert ein Achtel, die SPÖ ein Zehntel ihrer Wählerrepräsentanz in Niederösterreich. Die FPÖ verviereinhalbfacht ihr Gewicht. Ein Erdrutsch im Land unter der Enns.

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Die ÖVP verliert ein Achtel, die SPÖ ein Zehntel ihrer Wählerrepräsentanz in Niederösterreich. Die FPÖ verviereinhalbfacht ihr Gewicht. Ein Erdrutsch im Land unter der Enns.

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Die erste Hochrechnung am frühen Nachmittag des niederösterreichischen Wahlsonntags wurde nur einer Handvoll Leuten zugemutet: 28 oder 29 Mandate für die OVP, 22 oder 23 für die SPÖ, demnach zwischen vier und sechs Landtagssitze für die FPÖ. Stand knapp nach 15 Uhr. Rücksichtnähme — und nicht Computertechnik — verzögerte, daß sie die Runde machte: Im schlechteren Fall hätte das für die Volkspartei Mandatsgleichstand im Landtag und den Verlust auch der absoluten Sitz-Mehrheit bedeutet, in der für die FPÖ günstigsten Variante wäre ihr auf Anhieb auch gleich dazu ein Sitz in der Landesregierung zugestanden. Um den Landeshauptmann ging es diesmal (noch) nicht: Denn selbst bei Mandatsgleichheit fällt er — laut Landesverfassung—der stimmenstärksten Partei zu. In fünf Jahren werden sich allerdings schon aus Gründen politischer Taktik - als Spätfolge dieses 16. Oktober 1988- eindeutige Bündnisfragen stellen.

Machtpolitisch versucht sich die ÖVP über den Wahlabend hinwegzutrösten: Mit 29 Mandaten (SPÖ: 22, FPÖ: 5) - der entscheidende Sitz ist freilich (nach bis zu Redaktionsschluß vorläufigen Ergebnissen) nur höchst dürftig abgesichert — ändert sich nichts an der absoluten Mehrheit. Ein schwacher Trost im „Kernland“.

Die Verschiebung der Stimmenanteile in der Endabrechnung — ÖVP minus sieben, SPÖ fast minus vier, FPÖ plus 7,7 Prozent — verniedlicht das politische Erdbeben im Land unter der Enns. Denn gegenüber 1983 hat die Volkspartei in Wahrheit ein Achtel und die SPÖ ein Zehntel ihres Gewichts verloren, während sich nunmehr die Freiheitlichen in einer viereinhalbfachen Bedeutung sonnen dürfen.

Wobei das Vergleichsergebnis 1983 - damals legte die ÖVP fünf Prozent Stimmenanteil zu — sicher nicht den „normalen“ Kräfteverhältnissen im Land entsprach. Daß die Volkspartei aber über den damaligen Zugewinn hinaus Federn lassen mußte, ist ebenso überraschend wie der Umstand, daß das schlechte SPÖ-Abschneiden vor fünf Jahren noch einmal unterboten wurde.

Der seinerzeitige Absturz der FPÖ in die Bedeutungslosigkeit ließ zwar eine Umkehr erwarten, aber der Landtagseinzug gleich in Klubstärke ist spektakulär: 9,4 Prozent Stimmenanteil muß man erst gewinnen.

Auf die Wahlbeteiligung - gegen 70 Prozent befürchtet, rund 80 (1983 fast 84) waren es — kann sich keiner ausreden. Und die Wählerstromanalyse, die der ORF am Wahlabend anzubieten wagte, war nicht ohne Skurrilität: Daß just EG-Angst etwa Weinviertier Bauern in Jörg Haiders Arme getrieben hätte, der selbst der unkritischeste Hurra-EGler ist, muß erst jemandem als Erklärung einfallen.

Was nicht heißt, daß es nicht zahlreiche - sich teilweise überschneidende — landes- und bundespolitische Erklärungen gib.t. • Die Landeshauptstadt: Die Beliebtheit St. Pöltens steht - um ein blau-gelbes Tabuthema an den Beginn zu stellen — jener des Finanzamtes um nichts nach. ÖVP und SPÖ (als „Umfaller“) wurde dafür im Wein- und Industrieviertel sowie im Wiener Umland mit Wiener Zweitwohnsitzer-scharen die Rechnung präsentiert.

• Die Gemeindezusammenlegung: Sie wird noch immer in manchen Gegenden als Zwangsehe mit geraubter Selbständigkeit empfunden. Die FPÖ kündigte — für den Fall ihres Einzuges in den Landtag — die .Einbringung eines „Scheidungsgesetzes“ an.

• Die Protestwähler: Der FPÖ wird zugetraut, daß sie der Koalition der Großen auf Landes- wie auf Bundesebene zusetzt. Das ist ein Ventil der Unzufriedenheit, kein Rechtsruck.

• Die irritierten Stammwähler: Arbeiter (SPÖ) und Bauern (ÖVP) fühlen sich durch strukturverändernde Reformen übervorteilt und im Stich gelassen. Im agrarischen Bereich kommt ein gewisses Unbehagen mit dem Genossenschaftswesen, im industrieilen wird das Abrücken von sozialistischen Gemein(wirtschafts)-plätzen als Verrat empfunden.

• Der Wahlkampf: Im Stil der fünfziger Jahre und mit Fortschreibungsparolen — „Den Weg fortsetzen“ — bot er vor allem der FPÖ erst die Plattform, Veränderung zu fordern. Daß sich ÖVP und SPÖ gegenseitig überhaupt nur schonten, tat ein übriges dazu.

Aus all dem zuvorderst bundespolitische Schlußfolgerungen abzuleiten, muß steirischer ÖVP-Besserwisserei vorbehalten bleiben. Daß es nach gerupften „bunten Vögeln“ nun auch zerbeulte „Stahlhelme“ gibt, dient mehr der Schadenfreude als der politischen Strategie.

Für die SPÖ ist die Hoffnung zerronnen, daß Franz Vranitzky schon als Programm genügt.

Für SPÖ, ÖVP und selbst die Grünen sollte klar geworden sein, daß der Protest gegen die Zusammenarbeit der Großen und politische Unzufriedenheit — auf welcher Ebene auch immer — in der FPÖ jenes Ventil sieht, das am wirkungsvollsten Dampf zu machen verspricht.

Eine augenblickliche Uberbewertung der bundespolitischen Einflüsse würde in fünf Jahren Folgen haben: Denn 1993 geht es in Niederösterreich für die ÖVP um den Landeshauptmann.

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