6802562-1971_42_04.jpg
Digital In Arbeit

Stimmen mit Mascherln

19451960198020002020

Die große Interpretation verlief nicht so dramatisch wie nach dem 1. März 1970; und das hatte zwei Gründe. Einmal war der Gewinntrend der SPÖ (ebenso wie die Verluste der ÖVP) am 10. Oktober 1971 allgemein und, verglichen mit den scharfen demo- und geographischen Gefällen von 1970, geradezu einheitlich. Es gab nicht die scharfen statistischen Zacken, an denen sich Deuter aller Couleurs wundstießen. Zum anderen konnte SPÖ-Abgeordneter und ORF-Wahlanalytiker Blecha mit seinem Institut für empirische Sozialforschung, ungeachtet eines kritischen Papiers der Arbeitsgemeinschaft für interdisziplinäre angewandte Sozialforschung, seine heftig angefochtene Multi- variatenanalyse endgültig etablieren.

19451960198020002020

Die große Interpretation verlief nicht so dramatisch wie nach dem 1. März 1970; und das hatte zwei Gründe. Einmal war der Gewinntrend der SPÖ (ebenso wie die Verluste der ÖVP) am 10. Oktober 1971 allgemein und, verglichen mit den scharfen demo- und geographischen Gefällen von 1970, geradezu einheitlich. Es gab nicht die scharfen statistischen Zacken, an denen sich Deuter aller Couleurs wundstießen. Zum anderen konnte SPÖ-Abgeordneter und ORF-Wahlanalytiker Blecha mit seinem Institut für empirische Sozialforschung, ungeachtet eines kritischen Papiers der Arbeitsgemeinschaft für interdisziplinäre angewandte Sozialforschung, seine heftig angefochtene Multi- variatenanalyse endgültig etablieren.

Werbung
Werbung
Werbung

Dem ORF 1st zuzugestehen, daß er die Chance zweier knapp aufeinanderfolgender Nationalratswahlen zu einem wichtigen Schritt in der Wahlforschung nützte. Mit ORF-Finanzierung arbeiteten diesmal Blecha und Bruckmann zusammen, wobei Bruckmann-Mitarbeiter Dr. Gor- desch zu Kontrollzwecken parallel zur Multivariatenanalyse Blechas eine sogenannte Regressionsanalyse durchführte. Gordesch üiid Blecha sprachen Journalisten gegenüber von einer „erstaunlichen Übereinstimmung“.

Beide Verfahren gehen von dem Grundgedanken aus, die Gemeinden nach einer Vielzahl von Gesichtspunkten (frühere Wahlergebnisse, Altersstufungen, berufliche Strukturen, Mobilität, Wachstum oder Schrumpfung und so weiter) zu gruppieren und in einem zweistufigen Verfahren die Zusammenhänge zwischen jedem dieser Faktoren und dem aktuellen Wählerverhalten aufzuspüren, sozusagen, beispielsweise, den „reinen Einfluß“ des „Agrargemeindeseins“ herauszuschälen. Die Multivariatenanalyse berücksichtigt nur hervorstechende, typische Merkmale.

Wenn es um den Einfluß der Industrialisierung geht, beispielsweise nur das am stärksten industrialisierte Viertel unter allen Gemeinden. Die Regressionsanalyse verarbeitet das gesamte Material.

Gordesch konnte die Multivaraten- analyse allerdings in einigen Punkten „akzentuieren“. Demnach muß sich in Agrargemeinden ein „positiver Wirkungsfaktor“ für die ÖVP ausgewirkt haben, der sie in der Regressionsanalyse etwas weniger benachteiligt erscheinen ließ als in der Multivariatenanalyse, dafür kamen die Dynamik und der Wohlstand wachsender Gemeinden in Gordesčh- Sičht der SPÖ noch etwas stärker zugute als bei Blecha. Offensichtlich, so Gordesch, konnte die SPÖ „in stabile, bis 1970 stabile Wählerschichten der ÖVP eindringen, die nun zu Wechselwählern geworden sind“.

Das Jungwählerverhalten, 1970 laut Blecha genau dem allgemeinen Trend entsprechend, summierte sich diesmal statistisch dahingehend, daß die Gewinne der SPÖ und die Einbußen der ÖVP unter den Jungwählern genau den allgemeinen Prozentsätzen entsprachen, örtlich jedoch gab es interessante Abweichungen: Die Jungwähler haben den örtlich vorherrschenden Trend verstärkt mitgemacht. Wo die SPÖ besonders viel dazugewann, gewann sie unter den Jungwählern noch um einige Zehntelprozent mehr, wo sich die ÖVP besonders gut hielt, hatte sie unter den Jungwählern um einige Zehntelprozent mehr Rückhalt. Obwohl dies alles, wie so viele Abweichungen dieser Wahl, im Bereich der Zehntelprozente blieb, erwiesen sich die Jungwähler als interessantes Barometer für sich anbahnende Veränderungen, für das, was „in der Luft liegt“.

Allerdings nur in der Luft der nächsten Umgebung. Auch zahlenmäßig waren die Jungwähler diesmal schwach vertreten: Seit 1. März 1970 starben 150.000 Wähler, der Geburtsjahrgang 1951 hingegen war schwach und es gab nur einen Nettozuwachs von 61.000 Wahlberechtigten. Wobei der SPÖ-Zuwachs bei den jüngsten Wählern nur geringfügig stärker war als bei den ältesten Wählerschichten.

Die Hochburgen

Regional hatte Vorarlberg einen besonders starken SPÖ-Zuwachs von 5,7 Prozent bei 3,13 Prozent ÖVP- und 2,53 Prozent FPÖ-Verlusten (jeweils auf die Gesamtheit der gültigen Wählerstimmen bezogen).

Im Osten Österreichs (Wien, Niederösterreich) hatten Sozialisten und Freiheitliche relativ starke Zugewinne. Wien brachte der SPÖ im Vergleich mit den Märzwahlen nach Vorarlberg und Salzburg den höchsten Zugewinn. Den geringsten Stimmenzuwachs hatte die SPÖ in der Steiermark (mit 1,1 Prozent) zu verzeichnen, während die ÖVP mit 1,08 Prozent hier die geringsten Einbußen erlitt.

Sowohl Blecha als auch Gordesch fanden, unabhängig voneinander, heraus, daß die Freiheitlichen in den SPÖ-Hochburgen am stärksten gewannen und in ihren eigenen Hochburgen besonders schlecht abschnitten: Mit 0,4 Prozent lagen dort ihre Verluste beim Vierfachen dessen, was sie im Gesamten einbüßten. Noch schlechter schnitt die FPÖ mit Verlusten von 0,6 Prozent nur noch in typischen Wechselwählergemeinden mit hoher Bevölkerungsfluktuation ab. (Bregenz gilt übrigens, zum Beispiel, seit zwei Jahren als Wechselwählergemeinde!)

Die SPÖ wiederum konnte dort, wo sie schwach war, wesentlich stärker zunehmen als in ihren Hochburgen, wo sie gegenüber einem generellen Gewinn von 1,8 Prozent nur noch um 1,1 Prozent Stimmen mehr erhielt. Die stärksten SPÖ-Gewinne wurden, interessanterweise, in den FPÖ-Hochburgen registriert.

Diese Trends gelten nicht ganz für Wien, wo die Gewinne der KPÖ und der FPÖ zu Lasten der ÖVP gegangen sind (wobei genügend Spielraum für Operationen mit dem Begriff „Durchhaus“ bleibt.

Die ÖVP mußte die größten Verluste (2,3 Prozent) in ihren eigenen Hochburgen hinnehmen. In Wahl- sprengeln mit traditionell hohem Anteil an ÖVP-Stimmen verlor die ÖVP 4,1 Prozent, von denen die SPÖ 3,9 Prozent gewann. Die zweithöchsten Verluste der Volkspartei wurden in schrumpfenden Gemeinden registriert, in Agrargemeinden konnte sie sich hingegen gut halten. Man könnte auch sagen: Wo sie 1970 ihre stärksten Einbußen erlitten hatte, hielt sich der verbliebene Wählerstamm nun relativ gut. (Verluste in den Agrargemeinden: 1,5 Prozent; was natürlich, da auf die Gesamtheit der gültigen Stimmen bezogen, einen wesentlich höheren Prozentsatz verlorener ÖVP-Stimmen vom alten Bestand bedeutet.)

Vom ORF wurde auch errechnet, wie auf Grund des Wahlergebnisses eine Mandatserrechnung nach dem alten Wahlrecht ausgesehen hätte. Das Ergebnis kann nicht genau sein, hätte aber der SPÖ eine sehr solide und regierungsfähige absolute Mehrheit gebracht. Etwa: 86:74:5. Oder 85:75:5. Oder auch sechs Mandate für die FPÖ. Legt man das Wahlergebnis vom 10. Oktober auf die Volkszählung dieses Jahres um, würde voraussichtlich ein Mandat von der Volkspartei auf die Freiheitlichen übergehen, der Mandatsbestand der SPÖ aber würde unverändert bleiben.

Natürlich haben nicht nur die Experten das Wahlergebnis analysiert, sondern auch die Parteien, wobei sich die SPÖ auf ihren Fachmann Blecha verläßt, die ÖVP aber, Multivariatenanalyse hin, Methodenkritik her, immerhin zu einem von verschiedenen Seiten mit einem Unterton erbitterter, weil ungewünschter Selbstbestätigung kolportierten Analyseergebnis gelangte: Nicht nur das Wahlergebnis von Gleisdorf, wo die Sozialisten besonders erfolgreich waren, beweist, daß das „Aneinanderrücken“ unter Einbezug von nationalen Herren keine Stimmen gebracht, sondern eine Menge Stimmen gekostet hat. Und in Niederösterreich, wo Dr. Strachwitz für die ÖVP kandidierte, erzielte die FPÖ besondere Erfolge.

Es kann als Ehrenrettung für die vernünftigen Kräne in der ÖVP gelten, daß sie derartige Befürchtungen schon vor der Wahl äußerten. Eine Ehrenrettung für die Wahlpropheten ganz allgemein aber entstand durch eine Indiskretion des „Kurier“, der fünf Tage vor der Wahl eine interne Blecha-Prognose an die Öffentlichkeit brachte. Sie lautete: Knappe 50 Prozent für die SPÖ, etwas unter 43 Prozent für die ÖVP, sehr schwache Zugewinne für die FPÖ. Dahingestellt muß freilich bleiben, ob die geheimen Propheten auch dann nahezu auf Zehntelprozente recht behalten hätten, wenn dieses Umfrageergebnis, wie in Großbritannien üblich, knapp vor der Wahl von Presse und Fernsehen hochgespielt worden wäre.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung