Das rote Dilemma: WEG UND ZIEL

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Die SPÖ formiert sich mit Kanzler Christian Kern neu. Die Partei wird sich dem sozialen Wandel anpassen müssen, um nicht unterzugehen.

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Die SPÖ formiert sich mit Kanzler Christian Kern neu. Die Partei wird sich dem sozialen Wandel anpassen müssen, um nicht unterzugehen.

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Michael Häupl hat es klar ausgedrückt: Christian Kern wird als Parteivorsitzender dann erfolgreich sein, wenn er Wahlen gewinnt. Das ist von erfrischender Offenheit: Nicht die Wählerinnen und Wähler haben sich an die SPÖ, die SPÖ hat sich an die Gesellschaft anzupassen. Parteien sind nicht Ersatzkirchen, Parteien sind politische Dienstleistungsunternehmungen, die Nachfrage befriedigen müssen.

In einer beweglichen Gesellschaft verschiebt sich diese Nachfrage unentwegt. Parteien müssen sich diesem Wandel immer wieder anpassen, sonst werden sie überflüssig: Wie etwa die italienische Democrazia Cristiana, die heute nur noch im Museum der politischen Geschichte zu besichtigen ist. Parteien müssen daher die gesellschaftlichen Trends beobachten und analysieren, um die entsprechenden Rückschlüsse ziehen zu können -bestimmt vom Eigeninteresse, nicht unterzugehen.

Das wird nicht immer so zugegeben: Der liturgisch gehobene Blick, mit dem Parteien -auch und gerade die Sozialdemokratie -Werte zitieren, verstellt den Blick auf die Realität in einer Demokratie, in der eben der Wahlerfolg darüber entscheidet, wer regiert. Werte werden politisch wirksam erst durch Wahlerfolge.

Ausgangspunkt: Die Realität

Die SPÖ, die noch nie in der Geschichte bei Wahlen so abgestraft wurde wie bei der Bundespräsidentschaftswahl am 24. April, ist aufgefordert, sich nicht Werte zu geben; sie muss sich vielmehr fragen, welche Werte von der Gesellschaft nachgefragt werden. Und, natürlich: Werte können nicht losgelöst von Interessen gesehen werden.

Die SPÖ wäre in ihrer Krise schlecht beraten, sich einfach auf die Werte zu besinnen, die sie gestern groß und zur politisch bestimmenden Kraft der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts gemacht haben. In der Zwischenzeit hat sich viel verändert, und die SPÖ hat ihre bestimmende Rolle deshalb weitgehend eingebüßt, weil sie auf diese gesellschaftlichen Veränderungen entweder nicht oder nur hilflos reagiert hat. Die SPÖ ist gut beraten, bevor sie sich auf die Frage nach einer zukunftsweisenden Strategie einlässt, zunächst der Realität ins Auge zu schauen. Und zu dieser Realität zählen folgende Einsichten:

1. Die Zeit der Klassenparteien ist vorbei, weil es keine Klassen mehr gibt - jedenfalls nicht im Sinne von Bürger, Bauern, Arbeiter. Die meisten Arbeiter sind in ihrem Status in der nach wie vor ungleich geschichteten Gesellschaft nicht die Letzten, die nichts zu verlieren hätten; sie sind die Vorletzten, die sich vom Aufstieg der Letzten fürchten. Und diese Letzten sind Zuwanderer, Flüchtlinge, also "Fremde". Aus diesem Grunde ist die Arbeiterpartei von heute eben nicht die SPÖ, sondern die FPÖ -denn die hat keine Hemmungen, die Ängste der verkleinbürgerten Arbeiter anzusprechen und zu nutzen.

Die Ursache für die ja auch objektiv, das heißt nachvollziehbaren Ängste ist aber nicht eine "schlechte Politik", sondern die abnehmende Fähigkeit der Politik, die Gesellschaft überhaupt zu gestalten. Die Verhältnisse in der Gesellschaft werden primär von dem bestimmt, was unscharf, aber nicht falsch "Globalisierung" heißt. Gegenüber dem damit verbundenen Verlust von Politikfähigkeit ist die Europäisierung der Versuch, Politikfähigkeit wieder herzustellen. Gerade dieser Versuch wird durch den aus Zukunftsängsten kommenden Ruf nach Renationalisierung behindert.

2. Die Zeit der Volksparteien ist vorbei, weil es das Volk so nicht gibt -jedenfalls nicht als eine grundsätzlich homogene Gesamtheit, die sich durch eine einzige Partei vertreten ließe. Die Volksparteien von heute - besser: die Allerweltsparteien -versuchen, es allen recht zu machen und landen so zwischen allen Stühlen. Am Beispiel der Asyl-bzw. Flüchtlingspolitik wird dies deutlich: Was den einen potentiell SPÖ-Wählenden zu autoritär ist, ist den anderen zu liberal. Am Schluss fühlen sich alle von der SPÖ verraten.

Dass in der Stichwahl am 22. Mai die beiden Kandidaten zur Auswahl stehen, deren Positionen sich voneinander am deutlichsten unterscheiden, sollte allen in der SPÖ zu denken geben: Die Partei kann nicht, wenn sie erfolgreich sein will, auf alles verzichten, was Ecken und Kanten hat.

3. Die Zeit stabiler politischer Verhältnisse ist vorbei, weil immer weniger Wählerinnen und Wähler sich langfristig loyal mit einer bestimmten Partei verbunden fühlen. Das ist die Folge gesellschaftlicher Flexibilisierung: Immer weniger Menschen verbringen ihr ganzes Leben in ein-und demselben Milieu; immer mehr Menschen reihen verschiedene, oft gegensätzliche Erfahrungen aneinander.

Für die ÖVP ist der kontinuierliche Rückgang des katholischen Aktivsegments - also der regelmäßigen Besucherinnen und Besucher des Sonntagsgottesdienstes eine ähnliche Herausforderung wie für die SPÖ die Abnahme der Zahl gewerkschaftlich organisierter Arbeiter. Immer mehr Menschen sind nicht Teil eines geschlossenen Milieus, deshalb wächst die Zahl der Nicht-und auch der Wechselwähler.

Nicht gegen, sondern mit dem Wind

Wenn die SPÖ die Zukunft (mit)gestalten will, darf sie nicht die Kraft sein, die im Interesse einer immer kleiner werdenden Gruppe die Wachstumssegmente der Gesellschaft vernachlässigt. Die SPÖ, ohnehin in Gefahr, als die strukturkonservative Partei schlechthin dazustehen, muss sich daran orientieren, was die großen, bewegenden Konfliktlinien der Gegenwart und auch der Zukunft ausmacht. Unterzieht man das Wahlverhalten der letzten Jahre und Jahrzehnte einer Analyse - einschließlich der Wahl vom 24. April 2016, so zeigt sich, dass Wahlen entlang folgender Linien entschieden werden:

- Geschlecht: Frauen und Männer haben ein unterschiedliches Wahlverhalten. Männer wählen überproportional FPÖ (in den USA: die Republikaner), Frauen überproportional die Grünen (in den USA: die Demokraten).

- Alter: SPÖ und ÖVP sind zunehmend die Parteien der Alten geworden -Jüngere stimmen überproportional für die Grünen (und Neos) wie auch für die FPÖ.

- Bildung: Bei SPÖ und der FPÖ ist der Anteil der Wähler ohne höheren Bildungsabschluss überproportional, bei ÖVP, Grünen und Neos der Anteil der Wähler mit Matura.

Gefragt: Ein in sich schlüssiges Puzzle

Welche Schlussfolgerungen muss eine Partei daraus ziehen, die sich an zukünftigen Wahlerfolgen orientiert? Da jüngere Wählerinnen und Wähler länger als Nachfragende auf dem politischen Markt sein werden als ältere, müssen bei allen Parteien die Alarmglocken läuten, die Schwierigkeiten haben, an Jüngere heranzukommen. Und: Da der Anteil der Menschen mit höherem Bildungsabschluss in Zukunft weiter steigen wird, hat die SPÖ einen doppelten Wettbewerbsnachteil: eben nicht nur bei den Jüngeren, sondern auch bei der wachsenden Zahl von Wählerinnen und Wählern mit Matura.

Jede Partei steht im Wettbewerb mit anderen Parteien. Sie kann in einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft nicht einfach nur einer Linie folgen, sie muss sich aus verschiedenen Linien ein Puzzle zusammenstellen, das in sich schlüssig und mehrheitsfähig ist: innerparteilich und, noch viel wichtiger, im Konkurrenzkampf mit anderen Parteien.

Alles das hat die SPÖ in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger geschafft. Ein umfassender Neuanfang ist jetzt gefragt, der wirklich bei "Null" ansetzt -und nicht bei den heiligen Kühen aus vergangenen Perioden: im Interesse der Sozialdemokratie und auch im Interesse der österreichischen Demokratie generell. Denn dieser ist mit einer immer tiefer sinkenden Sozialdemokratie nicht gedient.

| Der Autor ist Politologe und Jurist. Seit 2006 ist Anton Pelinka Professor an der Central European University in Budapest. |

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