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Männer und Mächte

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Der 4. Juni wird nicht allein ein Stichtag für Österreichs „große, alte, bürgerliche Partei“ (um einen amerikanischen Jargon zu transponieren) sein, sondern ein Tag der Weichenstellung für die Innenpolitik dieses Landes überhaupt. Denn wer immer als Parteiobmann der ÖVP zur Debatte steht, ob es zu einer Stichwahl kommt oder nur ein Wahl Vorschlag zur Diskussion steht: hinter den Kandidaten stehen Mächte —

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Der 4. Juni wird nicht allein ein Stichtag für Österreichs „große, alte, bürgerliche Partei“ (um einen amerikanischen Jargon zu transponieren) sein, sondern ein Tag der Weichenstellung für die Innenpolitik dieses Landes überhaupt. Denn wer immer als Parteiobmann der ÖVP zur Debatte steht, ob es zu einer Stichwahl kommt oder nur ein Wahl Vorschlag zur Diskussion steht: hinter den Kandidaten stehen Mächte —

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und hinter diesen stehen (auf einen Nenner vereinfacht) zwei Konzepte für die Strategie der Volkspartei. Einer Strategie, die nicht so bald wieder geändert werden kann, und die über das Auf und Ab zumindest im nächsten Jahrzehnt entscheiden wird. Für diese zwei Konzepte stehen zwei Namen — aber auch ein dritter als Obmann wird sich für eines der beiden zu entscheiden haben.

Es ist offensichtlich: Es geht nicht um Sympathie oder Antipathie zu den Kandidaten — es geht auch nicht um „Telegenität“, um „Glamour“, gegen Kreisky — kurz, nicht allein um Personen: Es sollte für die Delegierten primär um die Frage gehen, welches Konzept sie als die langfristige Strategie der ÖVP für angemessen halten.

Die Frage nach dieser Strategie einer in die Opposition geworfenen Partei ist zwar mit aller Vehemenz nach dem 1. März 1970 auf gebrochen, aber die Forderung auf gesellschaftspolitisches Farbebekennen, wo die Ansatzpunkte einer Bewältigung der Zeitprobleme liegen, ist relativ alt.

Die Strategie hat allerdings in dieser Beziehung im letzten Jahrzehnt erhebliche Mäander gezeichnet.

1960/61 gab es eine vehemente Strömung, die unter dem Synonym „Reform“ antrat, und Nahziele der Volks partei mit Hilfe der FPÖ in einer Sprengung der Großen Koalition verwirklichen wollte.

1963 wäre diese Strategie von der SPÖ, nicht von der ÖVP, fast verwirklicht worden. Doch stürzte die SPÖ (ob deshalb oder nur zum Teil mitverursacht) in die Olah-Krise und verschaffte dem Parteivorsitzenden Pittermann eine scharfe Opposition gegen dieses rotblaue Bündnis von seiten des ÖGB und des Traditionsblocks ln der SPÖ.

1966 stand auch nach dem absoluten Wahlsieg der ÖVP die große Koalition als einzig mögliche Variante zuerst im Strategiekonzept der ÖVP. Erst als die SPÖ freiwillig in die Opposition ging („Wir müssen uns in der Opposition regenerieren“), blieb die Alleinregierung: denn eine kleine Koalition stand für den siegreichen Dr. Klaus schon deshalb nicht zur Debatte, weil man die damalige Verliererpartei zur Parlamentsmehrheit nicht brauchte.

Eine Entscheidung für heute allerdings fiel im Jänner 1970: die ÖVP, vor allem aber Parteiobmann Doktor Klaus, wies die indirekte Aufforderung zur kleinen Koalition durch das FPÖ-Angebot für die Zukunft als „Anbiederung“ zurück — und stand auch nach dem 1. März dazu („Keine Koalition der Verlierer“).

Nun aber hatte sich auch die FPÖ gefangen: Nach dem Scheitern der Regierungsverhandlungen zwischen ÖVP und SPÖ war nur noch die Minderheitsregierung der SPÖ strategisch möglich — ein von Doktor Kreisky doch offensichtlich nur ursprünglich als Zwischenspiel auf dem Weg zur absoluten Mehrheit gedacht.

Doch im Herbst 1970 stand auch Kreisky an der Klippe der Entscheidung: Bestand der Regierung durch eine FPÖ-Zustimmung zum Budget — aber nur um den Preis einer Wahlrechtsreform, die ihn aber um das eigentliche Ziel einer baldigen absoluten SPÖ-Mehrheit betrog. Nun ist auch für den Bundeskanzler eine neue Entscheidung bald reif. Kann er schon jetzt eine absolute Mehrheit erringen?

Eine sorgfältige Durchrechnung der Wahlergebnisse der Bundespräsidentenwahl muß für ihn wie für alle anderen politischen Auguren klarstellen, daß von einer „Zerreißung des bürgerlichen Lagers“ keine Rede ist. Daß zwar die ÖVP als politische Formation in der Krise steckt, daß aber eine absolute Mehrheit der SPÖ bei baldigen Neuwahlen alles andere als wahrscheinlich ist.

Das sind, will man es systematisch sehen, die Präliminarien und Daten zu einem 4. Juni, an dem die Volkspartei die Weichenstellung für ihre Strategie vornehmen muß.

Nur zwei Varianten haben im Grunde realistischen Vorrang. Soll die ÖVP im großen und ganzen bleiben, wie sie ist und mit der FPÖ irgendwann zu einer kleinen Koalition kommen? Oder soll die ÖVP einen tiefergreifenden Wandel durchmachen, der den gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung trägt und nach dieser Phase in der Opposition im Rahmen einer großen Koalition oder sogar einer Alleinregierung wiederkommen?

Für die Variante eines Bündnisses mit der FPÖ steht heute der bisherige Generalsekretär Schleinzer. Der Kärntner, von der Heimat her mit dem Umgang mit Freiheitlichen vertraut, ist schon am Tag seiner Wahl zum Generalsekretär jener Mann gewesen, der den ersten März als eine „Panne“ bezeichnete — die man durch Taktik und Parteikosmetik (man erinnere sich an seine Rede sicherlich sehr bald auf der Semmeringtagung) vergessen lassen könne. Analysiert man Schleinzers Reden aus den letzten Monaten, wird man unschwer das Fehlen jedes Angriffs gegen die FPÖ feststellen können; aber auch den fehlenden Hinweis auf größere Strukturbereinigungen, die etwa in einer Hinwendung der ÖVP zur wachsenden Gruppe der Arbeitnehmer, der Konsumenten bestehen könnte. Und einer von Schleinzers „Ghostwriter“ in der Kärntner Straße berichtet glaubwürdig, d’aß Schleinzer stets das soziale Moment in seinen Äußerungen abschwächt — kurz, überhaupt den Augenblick für nicht günstig erachtet, sich festzulegen oder Richtungen zu weisen.

Sein Konzept müßte etwa so aus- sehen: ÖVP plus FPÖ = in öster reich bis auf weiteres mehr als 50 Prozent. Daß die SPÖ eine absolute Mehrheit erhält, muß Schleinzer (angesichts der ihm zur Verfügung stehenden Daten in der Kämtnerstraße) für unwahrscheinlich halten. Deshalb kann die Volkspartei auch in ihrer Ausrichtung auf die bisherigen gesellschaftlichen Gruppen innerhalb ihres Bereiches verharren — und mit einer möglichen Absicherung durch die FPÖ auch einen „geordneten Rückzug“ zur Konsolidierung antreten. Neuwahlen könne man nur dann riskieren, bis diese Konsolidierung abgeschlossen ist. Bis dahin gilt das Taktieren — einerseits, um zu verhindern, daß es doch noch zu einer Allianz zwischen Kreisky und Peter kommt (also Entgegenkommen gegenüber der FPÖ), anderseits, daß keine Neuwahlen über Nacht hereinbrechen (also auch Nachgeben in jenen Fragen, in denen man Neuwahlen ausgesetzt ist — vor allem bei den kommenden Budgetverhandlungen).

Zwei Imponderabilien bleiben offen:

• Welchen Preis kann die Volkspartei der FPÖ zahlen, um diese an sich zu binden? Wahrscheinlich nur den, der FPÖ eine gesellschaftliche Gruppe als Hoffnungswähleretock zu überlassen. Kann es aber für die FPÖ überhaupt ein Äquivalent dafür geben, in einer rotblauen Koalition schlechthin alle Nichtsozialisten zu repräsentieren?

• Die andere Unsicherheit muß in der Formel bestehen, daß ÖVP plus FPÖ auf jeden Fall eine Mehrheit in Österreich ergibt. Wie lange gilt sie noch, wenn die ÖVP zuwenig Arbeitnehmerlook besitzt, und schon 1980 der Prozentsatz der unselbständig Erwerbstätigen bei 80 Prozent liegen wird?

Stefan Koren, urbaner Wirtschaftsprofessor mit kurzer Parteierfahrung, steht für die andere, die zweite mögliche Strategie der ÖVP für das nächste Jahrzehnt.

Diese Strategie geht von der Ein schätzung der SPÖ als derzeit größte Partei des Landes aus: Ist die SPÖ ein monolithischer Block und wie kann in ihr der innerparteiliche Interessenausgleich bewerkstelligt werden? Der Interessensausgleich zwischen Gewerkschaftsflügel, traditionellem Parteiapparat und — nennen wir es so — den JUSOS, also Sozialisten mit starkem ideologischem Anspruch?

Wie kann sich eine SPÖ mit Regierungsverantwortung am wahrscheinlichsten verhalten, wenn sie die Probleme der Budgetsanierung (Sozialversicherung, Landwirtschafts subventionen), der Steuerreform (Mehrwertsteuer!), der wirtschaftlichen Abschwächung und des Preisdrucks (und damit auch Lohndrucks) bewältigen will?

Koren bleibt die Antwort nicht schuldig: Die SPÖ wird nicht umhin können, diese Probleme mit der git>- ßen Oppositionspartei zu lösen, sie wird es sich zwischen Gewerkschaftsflügel und JUSOS nicht leisten können, auf Dauer auf die FPÖ zu setzen. Und sie wird vor allem nicht allzu schnell Neuwahlen riskieren wollen, wenn sie die absolute Mehrheit nicht in der Tasche hat.

Das ist für Koren allerdings die langfristige Spekulation. Für ilfn gilt es, zuerst die ÖVP in der Opposition zu sanieren, grundlegend zu sanieren, und über dieses Sprungbrett wieder an den Regierungstisch zu kommen. Sanierung der ÖVP: das ist für den Klubobmann eine Anpassung an Gesellschaftsprozesse; für den Bauernbund eine Wählerstrategie im „ländlichen Raum“, für den Wirtschaftsbund der Vorstoß in das junge „Management“, für den ÖAAB der Vorstoß von der Beam- tenenkl’ave zu den Arbeitern und den jungen Angestellten, den Arbeitnehmern im Bereich der Dienstleistungen, in den „neuen“ Erwerbszweigen, die Technologie und Fremdenverkehr erst mitgeboren haben.

Koren steht dafür, keinen Bund der ÖVP der FPÖ zu „opfern“, sondern vorbehaltslos auch gegen die FPÖ zu kämpfen — also die Unzufriedenen des 1. März 1970, die zur FPÖ abwanderten, zurückzuholen. Und die SPÖ-Regierung dort zu attackieren, wo sie Konsumenteninteressen (etwa an der Preisfront) verletzt.

Die folgerichtige Konsequenz zieht daher andere Schlüsse,’ als Doktor Schleinzer sie zieht:

• Ablehnung des Budgets für das nächste Jahr; damit die Fortsetzung der Demaskierung der FPÖ.

• Das Risiko von Neuwahlen selbst dann, wenn man der kleinere Partner bleibt. Verhinderung der absoluten Mehrheit Kreiskys (die sowieso höchst unwahrscheinlich ist).

1 Nach Neuwahlen aber Regierungsverhandlungen — die die SPÖ zuerst mit der ÖVP führen müßte. Gerade da kann eine tragfähige neue Basis der Regierungsarbeit im Sinne Körens gesucht werden.

Freüich — auch Stefan Koren muß Imponderabilien kalkulieren:

Gelingt die Bündereform, öffnet sich die ÖVP für gesellschaftspolitische Initiativen? Hier könnte dem neuen ÖAAB-Obmann Mode die zentrale Rolle zufallen.

Vor allem aber auch: könnte die ÖVP auf Dauer in einer Koalition mit der SPÖ bestehen, ohne in das alte Dilemma der Zeit vor 1966 (nur mit umgekehrten Vorzeichen) zurückzufallen — oder wäre man gerade erst dann wieder der Interessewahrer der Nur-Selbständigen?

„Geordneter Rückzug“ oder „Gesellschaftspolitische Öffnung“,

Koalition mit der FPÖ (also der häßliche „Bürgerblock“ mit allen zeitbedingten Vor- und Nachteilen für die Sozialpartnerschaft) oder Koalition mit der SPÖ (also eventuell zurück zum Proporz).

Dazwischen gibt es wenig Platz für dritte Varianten. Höchstens den, wieder ohne Rücksicht auf die nächste Zeit (Monate, Jahre?) zur größten Partei zu werden, die SPÖ in offener Feldschlacht zu überwinden, auf ein Versagen von Kreisky und seinem Team zu spekulieren: kurz — nichts zu sein als konsequente, nichts schonende Opposition. Ein harter dritter Weg.

Will ihn etwa der junge Josef Krainer gehen, gedrängt von den Unschlüssigen? Eine Lösung für ein Dilemma?

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