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Vom Feld in die Fabrik

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Kaum ein Tag, an dem die Berichterstattung über Österreichs Innenpolitik nicht aus dem östlichsten Bundesland versorgt wird: Minister, die Spitzen der Opposition, die Jugendverbände und Akademikervereinigungen von SPÖ und ÖVP bereisen nicht nur das Land zwischen Leitha und Raab, sondern haben auch ihre sonstige Aktivität fast ausschließlich ostwärts verlegt. Das zeigt einmal mehr, daß gerade diese Landtagswahlen eine ganz außergewöhnliche Bedeutung erhalten haben: sie sollen offenbar erweisen, wie fest die Bundesregierung in Wien steht und wie sehr die jüngsten Meinungsforschungen beim Wähler ihre Bestätigung finden (siehe dazu auch unseren Beitrag auf Seite 5).

Nun sind nach dem Sinn der Bundesverfassung Landtagswahlen dazu bestimmt, die politischen Stärkeverhältnisse im betreffenden Bundesland widerzugeben; und weil es sich um eine Wahl des Landtages handelt, sollten demgemäß Fragen von landespolitischem Interesse im Vordergrund stehen.

Zwei Theorien halten sich die Waage:

• Eine geht davon aus, daß angesichts des formalen Gesichtspunktes Vergleiche schlechthin unzulässig sind; die Burgenländer würden ergo ausschließlich darüber beschließen, was in die Kompetenz ihres Landtages und ihrer Landesregierung fällt;

• die andere Theorie inkludiert, daß der Wähler ja keine gespaltene Persönlichkeit ist und die Gelegenheit wahrnimmt, über Parteien, die sich um seine Stimme bewerben, zu urteilen. Der einfache Wähler habe demzufolge gar keine exakte Vorstellung über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern; die Parteien seien ja auch weitgehend in Österreich durch starke Disziplinierung an die Zentralen gebunden — lokale Unterscheidungen hätten quasi nur „folkloristischen“, jedoch kaum konkret-politischen Charakter; und schließlich werde in der Wahlwerbung (siehe nunmehr wieder im Burgenland) alles getan, um Identitäten schlüssig aufzuzeigen: Kery mit Kreisky, Soronics mit Schleinzer.

Die Auslegung von Theorien hat im allgemeinen den Vorteil, Beweise nicht antreten zu müssen; im Politischen ist sie ausreichend, dem jeweiligen Sieger oder Verlierer die Ausrede mitzuliefern: der Sieg hat stets mehrere Väter — die Niederlage ist ein Findelkind.

Bei alldem übersieht man aber im östlichsten Bundesland Österreichs die Tatsache, daß gerade das Burgenland einen ungeheuren Strukturwandel mitgemacht hat und noch immer mitmacht. Im Burgenland spiegelt sich vergröbert ein sozialer Prozeß wider, der in gewissem Sinn für das ganze Bundesgebiet von Bedeutung ist. Die politischen Parteien würden daher gut daran tun, die Landtagswahl dazu zu nützen, Strukturdaten mit Wahlergebnissen zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen (was vor allem für die Volkspartei von Bedeutung ist). Erst dann würde sich nämlich herausstellen, daß nicht nur das vordergründige Hin und Her der

Tagespolitik einen Einfluß gewinnt, sondern Entwicklungsprozesse ihr deutliches Spiegelbild hinterlassen.

Das Burgenland ist (noch) das am stärksten agrarische Bundesland Österreichs. Noch immer leben etwa doppelt so viele Bewohner von der Landwirtschaft als in den anderen Ländern; nur handelt es sich im Burgenland vorwiegend um kleinbäuerliche Betriebsformen, weshalb der Pendler- und Nebenerwerbsbauer schon seit langem ein wesentliches Element darstellt. Diese Mischform aus agrarisch und gewerblich, beziehungsweise industriell Tätigen hat zu einem sozialen Mischtyp geführt, der anderswo nicht in dieser Häufigkeit anzutreffen ist. Die Landflucht ist im Burgenland deshalb mehr als Flucht vom Feld in die Fabrik anzusehen — denn als Wohnort-, Arbeitsplatz-und Milieuwechsel.

Das zeigt sich deutlich auch schon in der Tatsache, daß das Burgehland erstmalig zwischen 1961 und 1971 auch keinen Bevölkerungsverlust mehr erlitten hat.

Dieser Prozeß ist begleitet von einem Schrumpfungsprozeß der ÖVP und einem relativ stabilen Wachstumsprozeß der SPÖ. Bis 1964 hatte die Volkspartei in jedem Landtags-aber auch Nationalratswahlkampf im Burgenland gesiegt. 1964 erreichte die SPÖ zum erstenmal eine Mehrheit von nur 0,9 Prozent der Stimmen. Seither liest sich von Landtags- zu Nationalratswahlen die Kurve der SPÖ aber so: 48,2 Prozent (1964), 50,3 Prozent (1968), 48,8 Prozent (1970), 50,2 Prozent (1971) — und bei den Bundespräsidentschaftswahlen erhielt der SPÖ-Kandidat im Burgenland sogar 52,0 Prozent der Stimmen.

Diese Entwicklung ist begleitet von einer Fieberkurve der ÖVP, die seither stets unterlegen ist.

Das allein macht aber eigentlich die Fernwirkung auf gesamtösterreichische Prozesse schon klar: eine auf die Vertretung des sinkenden agrarischen Anteils in der Bevölkerung festgelegte Partei verliert parallel zur Abnahme der Bauernschaft; eine auf Arbeitnehmer ausgerichtete Partei, die — wie die SPÖ im Burgenland — aber auch als Beschützerin des Kleinbauerntums auftritt — gewinnt.

Solange man nun in ganz Österreich den Strukturwandel nicht bremsen kann — ja, ihn sogar begrüßen muß — solange wird nur eine Änderung im politischen Selbstverständnis der Funktion politischer Parteien eine Chancenänderung für die ÖVP ermöglichen.

Das ist im Burgenland teilweise vollzogen worden: der Spitzenkandidat der ÖVP ist zum erstenmal seit 1945 nicht mehr ein Agrarier, sondern ein Angestelltenvertreter. Man wird sehen, welche Wirkung dieser Rollentausch erzielt. Man sollte aber Illusionen fahren lassen, daß eine Neuformierung stets und ausschließlich von Personen abhängt. Ebenso entscheidend ist die politische Weichenstellung: die Lehren des Burgenlandes können nämlich schon vor dem 8. .Oktober gezogen werden.

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