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Machtpolitik durch Wahlrecht?

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Kann eine politische Partei der Reform des Wahlrechtes nur dann zustimmen, wenn für sie damit ein unmittelbarer Machtzuwachs in Aussicht gestellt wird? Um diese Frage beantworten zu können, muß man sich überlegen, welche Rolle das Wahlrecht in der Entwickhing einer politischen Gemeinschaft spielt, welche Rolle es spielen soll. Man soll, um zu einem möglichst allgemeingültigen Schluß zu kommen, 'dieses Problem durch einen Vergleich der Situationen in verschiedenen demokratisch regierten Ländern untersuchen.

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Kann eine politische Partei der Reform des Wahlrechtes nur dann zustimmen, wenn für sie damit ein unmittelbarer Machtzuwachs in Aussicht gestellt wird? Um diese Frage beantworten zu können, muß man sich überlegen, welche Rolle das Wahlrecht in der Entwickhing einer politischen Gemeinschaft spielt, welche Rolle es spielen soll. Man soll, um zu einem möglichst allgemeingültigen Schluß zu kommen, 'dieses Problem durch einen Vergleich der Situationen in verschiedenen demokratisch regierten Ländern untersuchen.

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Die Reform des Wahlrechtes wirft unmittelbar die Frage auf, inwieweit sich Macht institutionalisieren läßt, inwieweit die künftge Entwicklung durch ein auf Grund der bestehenden Verhältnisse konzipiertes System eingefangen werden kann. Sicherlich gilt gerade für das Wahlsystem der Satz: „Jamais une force ne joue seule, tout est en rapport“ (ein einzelnes Element spielt nie die alleinentscheiidenide Rolle, alles ist Wechselwirkung). Nur im Zusammenhang mit anderen politisch relevanten Größen wirkt sich das Wahlsystem auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens aus. Feststehen dürfte, daß auch das raffinierteste Wahlsystem, das Uberleben eines Regimes, das auf Grund von ideologischen, wirtschaftlichen oder soziologischen Entwicklungen unhaltbar geworden ist, nicht garantieren kann. So waren im Jahre 1951 in Frankreich die in der Regierung vertretenen Parteien SFIO und MRP bemüht, mit Hilfe des äußerst gefln-kelten Wahlsystems der „Apparente-ments“, das auf dem Verhältniswahl -recht basierte, jedoch den Zusammenschluß von Parteien vorsah und diesen in den Wahlkreisen, in denen sie die absolute Mehrheit erhielten, sämtliche Mandate zusprach, den Fortbestand ihrer Herrschaft zu garantieren. Trotz des momentan erzielten Erfolges bestand die Vierte Republik nur noch einige Jahre. Auch de Gaulle gelang es 1958, die KPF, die fast 20 Prozent der Stimmen erhalten hatte, auf zehn Mandate von 465 zu beschränken. Aber schon im Jahre 1967 hatten die Gaullisten größte Mühe, ihre Mehrheit zu behaupten, obwohl die Wahl auf Grund desselben Systems wie 1958 abgewickelt wurde, und die Ereignisse von 1968 führten zu einer neuen politischen Konstellation. Wer dem Verhältniswahlrecht der Weimarer Republik, auf Grund dessen jede Partei für jeweils 60.000 Stimmen ein Mandat erhielt, und der damit verbundenen Vielzahl von Parteien die Schuld an der späteren turbulenten Entwicklung, ja am Untergang des Staates gibt, vergißt, daß sich an den Bundestagswahlen von 1949 mehr Parteien beteiligten als an den Reichstagswahlen von 1920 und sehr wohl eine regierungsfähige Mehrheit zustande brachten. Der Bestand und das Funktionieren eines politischen Regimes können sich also trotz eines Wahlsystems, das darauf abzielt, es in eine bestimmte Richtung zu lenken, ändern. Sicherlich kann das Wahlrecht zur Erhaltung bestehender Verhältnisse während eines bestimmten Zeitraumes beitragen oder bereits angelaufene Entwicklungen, etwa die Durchführung sozialer Neuerungen, verzögern, aber ebenfalls nur für eine gewisse Dauer.

Daher ist zu untersuchen, ob und in welchem Ausmaß politischen Gruppen durch das Wahlsystem permanente Vorteile gesichert werden können. Losgelöst von diesem allgemeinen machtpolitischen Aspekt muß festgestellt werden, wie die verschiedenen Bereiche des politischen Lebens die Regierungstätig-keit, das parlamentarische Leben, die Strukturen der Parteien oder die Teilnahme des einzelnen am öffentlichen Leben durch das Wahlsystem beeinflußt werden können. Der Berliner Professor Otto H. von der Gablentz behauptet, daß „die Zusammensetzung des Parlaments entscheidend vom Wahlrecht abhängt.“ Dies stimmt sicherlich insoweit, als verschiedene Wahlsysteme verschiedene Maßstäbe für politische Auseinandersetzungen darstellen, also dazu beitragen, das Aktionsfeld abzugrenzen. So betrachtet Duverger das Fehlen eines zweiten Wahlganges und der Ballotage (Stichwahl) in den Vereinigten Staaten, insbesondere bei den Präsidentenwahlen, als einen der geschichtlichen Gründe für die Entstehung und das Fortbestehen des Zweiparteiensystems. Während in Großbritannien die Liberale Partei in eine Rolle am Rand gedrängt wurde, hat das Verhältniswahlrecht in Belgien die Liberale Partei gerettet. Das Verfahren der einfachen Mehrheitspartei kann also wohl einen bestehenden Parteiendualismus gegen Parteispaltung und gegen die Entstehung neuer Parteien sichern.

Bei der Reform des Wahlrechtes erhebt sich aber nicht nur die Frage, was ein Wahlsystem im Vergleich zu einem anderen zu bewirken vermag bzw. nicht vermag, sondern auch, welchen Raum ein bestehendes Wahlsystem künftigen politischen Änderungen läßt. Inwieweit wird eine politische Wachablöse ermöglicht?

Welche Auswirkungen haben Veränderungen innerhalb des Systems auf das bestehende politische Kräfteverhältnis? Hat die vom US Supreme Court 1962 verlangte Neuabgrenzung der Wahlsprengel, durch die die bisherige Bevorzugung der Agrarbe-völkerung ein Ende finden sollte, die lokalen und nationalen Wahlen beeinflußt? Welchen Einfluß auf die politische Gestaltung des Landes hatte die in der Bundesrepublik Deutschland 1963 durchgeführte Neueinteilung der Wahlkreise, die notwendig wurde, weil infolge der Bevölkerungsverschiebungen die Zahl der Einwohner in 37 Kreisen um mehr als ein Drittel von der durchschnittlichen Einwohnerzahl abwich? Diese Fragen lassen sich kaum genau beantworten. Betrachtet man jedoch die gesamte politische Entwicklung der erwähnten Länder, so muß man doch eher zum Schluß kommen, daß die durchgeführten Änderungen der Wahlkreise vielleicht von lokalem Interesse waren, den machtpolitischen Aspekt der politischen Willensbildung jedoch kaum entscheidend beeinflußten.

Daß der Einfluß des Wahlsystems in dieser Richtung oft überbewertet ist, zeigt auch die in der BRD vor den Bundestagswahlen vielfach vertretene Auffassung, daß nur die Einführung des Mehrheitswahlrechtes die NDP daran hindern könne, ihre Vertreter in den Bundestag zu entsenden. Das Wahlergebnis bewies, daß das auf Grund verschiedener Faktoren entstandene demokratische Bewußtsein erreichte, was viele nur durch direkte Eingriffe in das Instrumentarium des politischen Ent-scheidungsprozesses erreichen zu können glaubten.

Die mehrmalige Wiederwahl von Regierungsparteien in manchen Ländern (Bundesrepublik, Skandinavien) verleitet die Kommentatoren zu dem Schluß, daß ein Regierungswechsel doch nur durch drastische Änderungen des Wahlsystems ermöglicht werden könnte. Ekkehart Klippen-dorff entwickelte bereits die Theorie vom Ende des Parteienstaates: die Erfahrung habe gezeigt, daß es den politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Führungsgruppen einer dominierenden Gesellschaftsschicht durchaus möglich sei, das von ihnen kontrollierte politische, ideologische und wirtschaftliche System mit den Mitteln einer fortgeschrittenen Sozialwissenschaft krisenfest zu machen. Damit würde die Chance des Wahlsieges einer Nichtregierungs-partei auf ein Minimum reduziert. Die Wahlergebnisse in Norwegen, Dänemark und der Bundesrepublik Deutschland, wo jetzt Parteien die Regierung bilden, die bisher während mehrerer Legislaturperioden in die Opposition verbannt waren, haben diese Theorie nicht bestätigt. Eine Analyse der möglichen Auswirkungen des Wahlsystems auf die Machtstellung einer politischen Gruppe oder Partei führt daher wohl zu dem Schluß, daß diese Möglichkeiten doch eher begrenzt sind. Diese Tatsache sollte es erleichtern, eine Wahlreform primär unter anderen als machtpolitischen Aspekten zu sehen.

Welche Aspekte sollen das sein? Das Wahlrecht wird manchmal die Stiefmutter der Demokratie genannt. „Menschenwürde und Freiheitsgedanke haben die Demokratie geboren, wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt haben sie großgezogen, das Wahlrecht soll helfen, sie zu erhalten“ (Heino Kaack). Das Wahlsystem soll also vor allem Gewähr dafür bieten, daß der Staatsbürger am politischen Geschehen möglichst einflußnehmend teilnehmen kann, und das nicht nur bei den Wahlen. So kann das Wahlsystem die Rolle des Parlaments wesentlich beeinflussen. Soll dieses primär eine Kontrollfunktion ausüben und daran auch Splittergruppen teilnehmen lassen, oder soll es primär über eine kompakte Mehrheit verfügen, die die rasche Bildung eines schlagkräftigen Regierungsteams ermöglicht? Soll bereits durch die Wahlen selbst entschieden werden, wer regiert, oder erst nach der Wahl durch Koalitionsgespräche? Wie schwierig sich Regierungsverhandlungen, bei denen eine Vielzahl von Parteien teilnimmt, gestalten, zeigte die jüngste italienische Regierungskrise.

Gestaltet man ein Wahlsystem unter den erwähnten Aspekten, muß man auch in Betracht ziehen, inwieweit eine außerparlamentarische Teilist und inwieweit Minderheiten, falls sie von der parlamentarischen Vertretung ausgeschlossen sein sollten, noch in der Lage sind, ihren Willen auszudrücken bzw. durchzusetzen. In einem Land mit starken außerparlamentarischen Vertretungen kommt man hier vielleicht zu einem anderen Schluß als dort, wo sich das gesamte politische Leben im Parlament abspielt. So kann sich zum Beispiel in Österreich die jeweilige Oppositionspartei dadurch Gehör verschaffen, daß sie in Interessenvertretungen, in den Kammern, in Gemeinden und Bundesländern die politische Willensbildung entscheidend mitbestimmt. Die gegen das Mehrheitswahlrecht vorgebrachten Bedenken, ein großer Teil der Bevölkerung sei bei diesem System von einer Mitgestaltung am öffentlichen Leben ausgeschlossen, werden also in unserem Land durch die bestehenden Strukturen, vor allem durch das System der Interessenvertretung, sehr abgeschwächt.

Man muß auch die Frage berücksichtigen, ob man vor allem Vertreter von lokalen Interessen im Parlament sehen will, Repräsentanten von an staatspolitischen Fragen interessierten Gruppen oder Fachleute. Dies hängt wieder damit zusammen, ob auf Grund des Wahlsystems vor allem die Parteizentrale oder einzelne Fraktionen in der Partei die Auswahl der Kandidaten vornehmen sollen. So stellten in der Weimarer Republik die Parteien in jedem Wahlkreis eine für das ganze Reich einheitliche Liste auf, in der die Kandidaten der Partei nicht einmal vollständig aufgezählt werden mußten. Auf dem Wahlzettel wurden nur die vier Spitzenkandidaten präsentiert. Dadurch verloren die Wahlkreise und somit auch die lokale Organisation sehr an Bedeutung. Dagegen besteht bei Einerwahlkreisen eine große Wahrscheinlichkeit, daß sich die Kandidatenaufstellungen hiemit weitgehend dem Einfluß übergeordneter Parteistellen entzieht. Vertreter lokaler Gruppen werden alles daransetzen, um den Kandidaten durchzubringen, der ihre Interessen, die sich mit denen der Gesamtheit nicht decken müssen, am besten vertritt.

Alle diese Fragen zeigen, daß ein Wahlsystem sehr wohl die politische Gestalt und den Stil eines Landes beeinflussen kann, die machtpolitische Frage dabei aber durchaus nicht im Vordergrund stehen muß. Wichtig ist, welche Elemente des Bestehenden man erhalten will und in welcher Weise man den Prozeß der politischen Willensbildung einem Wandel unterziehen will. Machtpolitische Fragen des Augenblicks müssen dabei in den Hintergrund treten. Nicht wie der politische Gegner von der Macht auszuschließen ist, ist von Bedeutung — dieser Anforderung wird ein Wahlsystem ohnehin nicht gerecht —, sondern, wie eine demokratische Teilnahme an der politischen Entscheidungsbildung verbürgt werden kann. Die staatspolitischen Erwägungen sollen dabei nicht von taktischen verdrängt werden.

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