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Zwei Blöcke im Kampf um eine „Insel der Seligen“

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Das Schlagwort vom roten Skandinavien stimmt nicht mehr. Seit dem Vorjahr wird Schweden von einer bürgerlichen Koalition regiert. Im finnischen Parlament gehören nur 94 von 200 Abgeordneten, im dänischen nur 84 von 175 den Parteien der Linken an, wenn auch in beiden Ländern die Sozialdemokraten den Ministerpräsidenten stellen. Nur in Norwegen hat das sozialistische Lager noch eine parlamentarische Mehrheit - allerdings nur mit einem einzigen Sitz. Und viele Prognosen sprechen dafür, daß die bürgerlichen Parteien bei den Wahlen zum Storting am 11. und 12. September vor einem Sieg stehen könnten.

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Das Schlagwort vom roten Skandinavien stimmt nicht mehr. Seit dem Vorjahr wird Schweden von einer bürgerlichen Koalition regiert. Im finnischen Parlament gehören nur 94 von 200 Abgeordneten, im dänischen nur 84 von 175 den Parteien der Linken an, wenn auch in beiden Ländern die Sozialdemokraten den Ministerpräsidenten stellen. Nur in Norwegen hat das sozialistische Lager noch eine parlamentarische Mehrheit - allerdings nur mit einem einzigen Sitz. Und viele Prognosen sprechen dafür, daß die bürgerlichen Parteien bei den Wahlen zum Storting am 11. und 12. September vor einem Sieg stehen könnten.

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Die Norweger nennen diese Wahl, die die Weichen für die Achtzigerjahre stellen wird, die wichtigste seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie ist die Konfrontation zweier festgefügter Blöcke; der regierenden Arbeiterpartei auf der einen Seite und der „bürgerlichen Alternative“ auf der anderen, einer Kooperationsgemeinschaft der drei größten nicht-sozialistischen Fraktionen. Im Vorjahr hat die Regierung ein „Langzeitprogramm“ vorgelegt, das die Entwicklung bis zum Jahre 1981, also bis zum Auslaufen der kommenden Legislaturperiode skizziert. Das bürgerliche Lager konterte mit dem „Altemativplan“, der jene Plattform darstellt, auf die man sich als gemeinsames Ziel einigen konnte.

Die Wahl in Norwegen ist nicht von Sachproblemen überlagert, bei denen Randerscheinungen der parteipolitischen Auseinandersetzung in den Vordergrund gestellt werden. Daher kommt ihr, obwohl in der Weltpresse viel weniger beachtet, größere Signalwirkung zu als der schwedischen Entscheidung vom vergangenen Herbst, in der die Kernkraftproblematik eine allzu starke Rolle gespielt hat. In Norwegen wissen die Wähler, daß sie zu entscheiden haben - zwischen dem sozialistischen Wohlfahrtsstaat und einer Gesellschaftsordnung, in der Privatwirtschaft und Privatinitiative den Ton angeben. Die Ausgangsposition ist für beide Lager nahezu die gleiche: im Storting sitzen derzeit 78 sozialistische und 77 bürgerliche Mandatare. Das entscheidende Mandat errang die Arbeiterpartei im September 1973 mit einigen hundert Stimmen Überhang. Das Wahlergebnis wird zeigen, in welche Richtung die Entwicklung des Landes nach den Wünschen seiner Bürger gehen soll. .

Es gibt natürlich auch in Norwegen Sachfragen, die den Wahlkampf prägen. Aber sie lassen sich fast alle auf die Konfrontation Sozialisierung - Privatisierung zurückführen. Da ist an erster Stelle die Problematik der Ölverwertung, die Verarbeitung jenes Rohstoffes, der den Norwegern einen Fortbestand ihres hohen Lebenstandards durch viele Jahrzehnte garantiert. Die Linke möchte der staatlichen Gesellschaft „Statoil“ alle Rechte übergeben, von der Gewinnung des Rohöls aus dem Meeresboden bis zur Herstellung der veredelten Endprodukte. Die Konservativen möchten die Privatwirtschaft in der Ölverwertung engagiert .sehen. Die „Bankensozialisierung“ ist ein weiterer Diskussionspunkt. „Arbeiterpartei“ und „Sozialistische Linkspartei“ haben vor wenigen Monaten ein Gesetz beschlossen, das dem Staat die Mehrheit in den Aufsichtsgremien der Banken garantiert. Die bürgerliche Koalition will das Ge-

setz aufheben, wenn sie an die Macht kommt Der’ Kauf von größerem Grundeigentum ist in Norwegen an eine Konzession gebunden. Die Linke ist für die Beibehaltung dieser Konzessionspflicht, die Bürgerlichen sind dagegen.

Dies ist die Hauptauseinandersetzung zwischen den beiden ideologischen Blöcken. Daneben bringt die Frage der freien Abtreibung eine zusätzliche Problematik in den norwegischen Wahlkampf, allerdings nicht mehr mit der gleichen Intensität wie vor vier Jahren. Damals hatte die Ankündigung der Liberalisierung die Arbeiterpartei zahlreiche Stimmen aus dem Lager der christlichen Arbeiterschaft gekostet. Die Christliche Volkspartei hat diesmal einen Eintritt in die bürgerliche Koalition von einer Zusage ihrer Partner zur Änderung des Gesetzes abhängig gemacht. Wie die neue Regelung allerdings aussehen soll, darüber gibt es recht divergierende Meinungen. Vermutlich wird ein Ärztekonsortium über die Abtreibungsanträge zu entscheiden haben.

In den letzten Wochen versuchte die „Sozialistische Linkspartei“ in ihrem Kampf gegen den Untergang der Fraktion zusätzlichen Zündstoff in den Wahlkampf zu bringen. Sie mußte dabei allerdings auf eine Spionageaffäre aus dem Beginn der Fünfzigeijahre zurückgreifen, als Norwegen an der Ausbildung finnischer Staatsbürger zur Spionage gegen die Sowjetunion beteiligt gewesen sein soll.

Jene Frage, die zu einem Zentralproblem hätte werden sollen, und die auch zur Uneinigkeit innerhalb des bürgerlichen Lagers führen hätte können, ist durch den „Blow-out“ auf der Bravo-Plattform im Frühling dieses Jahres von selbst entschieden worden. Nach der Umweltkatastrophe sind auch die Sozialdemokraten und die Konservativen von ihren Plänen einer expansiven Ölpolitik abgekommen. Probebohrungen nördlich des 62. Breitegrades wird es in nächster Zukunft nicht geben.

Jene Probleme, die im übrigen Westeuropa heute vorrangig sind, spielen im glücklichen Norwegen eine untergeordnete Rolle. Die Arbeitslosenrate konnte auf weniger als 1 Prozent gesenkt werden. Und das hohe Zahlungsbilanzdefizit, das höchste Europas pro Kopf der Bevölkerung, bereitet den Ökonomen des Landes keine schlaflosen Nächte. Schuld daran ist das Erdöl. Norwegen muß sich keine Restriktionen wie etwa England oder Italien gefallen lassen, wenn es Anleihen zeichnen möchte. Trotz der hohen Verschuldung des Landes stehen die Geldgeber Schlange und bieten ihr Kapital zu günstigsten Bedingungen an. Denn sie wissen, daß es nicht lange dauern wird, bis Norwegen durch seinen Ölreichtum nicht nur das Defizit abbauen, sondern selbst zum Kapitalexporteur werden wird. Die ausländischen Milliarden, die das derzeitige Defizit ausmachen, sind nicht, wie anderswo, in den Konsum geflossen, sondern vorrangig als Investitionen in die Ölindustrie. Und dieses Geld trägt reichlich Zinsen.

Was aber soll mit diesem Geld geschehen - das ist wiederum die Frage, bei der sich die Ansichten teilen. Norwegen hat das Geld, um den perfekten Sozialstaat auszubauen. Die Arbeiterpartei möchte es; die Wähler müssen entscheiden, ob auch sie es wollen. Viele tun es nicht, der in Norwegen sehr starken puritanischen Tradition entsprechend,,iti der die Leistung alles zählt Ob sie die Mehrheit des Volkes repräsentieren, wird die kommende Wahl weisen.

Die Meinungsumfragen sehen derzeit regelmäßig die Bürgerlichen um wenige Prozentpunkte voran. Doch die Bürgerlichen haben ein Handikap zu tragen - die Zersplitterung. Bereits 1973 wurden mehr nicht-sozialistische Stimmen abgegeben als sozialistische. Doch nach Mandaten siegte die Linke ganz knapp. Norwegens Wahlsystem kennt keine Restmandate. In jedem der 19 Wahlkreise ist eine gewisse Anzahl von Mandaten zu gewinnen; nach der Größe des Wahlkreises variabel. Stimmen für eine Partei, die kein Mandat erwirbt, sind verloren. Daher versuchen die drei Großen im bürgerlichen Lager - Konservative, Christliche Volkspartei und Zentrumspartei - die Stimmen der drei kleinen Gruppen an sich zu ziehen. Gemeinschaftslisten in verschiedenen Wahlkreisen sollen die Zahl der verlorenen Stimmen möglichst gering halten.

Auf der anderen Seite steht die Arbeiterpartei ohne Zweifel vor einem Wahlsieg. Sie wird das schlechte Ergebnis von 1973, als sie im Sog der EG-Abstimmung ein Viertel ihrer Wählerschaft verlor, sicherlich verbessern. Zugleich wartet aber auf die „Sozialistische Linkspartei“ ein starker Rückfall. Sie war unmittelbar vor den letzten Wahlen als Wahlverband von Kommunisten und Linkssozialisten gegründet worden und erreichte einen Uberraschungserfolg. Später stiegen die Kommunisten wieder aus dem gemeinsamen Boot aus, ohne viel Hoffnung, alleine den Einzug ins Storting zu schaffen. Wenn die Linkspartei 6 ihrer 16 Sitze wiedergewinnt, kann sie zufrieden sein. Aber nicht die Aufteilung der „linken“ Mandate zwischen Arbeiterpartei und Linkspartei entscheidet die Wahl, sondern, welcher der beiden Blöcke über die 50-Pro- zent-Marke gelangt. Denn daß die Linkspartei den Sozialdemokraten Odvar Nordli weiterhin unterstützen würde, wenn sie ihm zur absoluten Mehrheit verhelfen kann, ist trotz interner Geplänkel keine Frage.

Auch innerhalb der bürgerlichen Regierungsaltemative ist die Einheit nicht so fest, wie sie gerne demonstriert wird. In der Zentrumspartei gibt es nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Opposition gegen die

Konservativen. Das äußerte sich zuletzt in zwei Bedingungen, die das Zentrum für die künftige Zusammenarbeit stellte: Der Ministerpräsident darf nicht von der „Höyre“ kommen, wie die Konservativen Norwegens heißen, und die Zahl der „Höyre“-Minister darf nicht größer sein, als die der Kabinettsmitglieder der beiden Partner zusammen, auch wenn die Konservativen mehr Wähler gewinnen als die beiden anderen Parteien. Es gibt noch keine Absprachen über den künftigen Regierungschef, aber der Leiter der Christlichen Volkspartei, Lars Kor- vald, hat sicherlich die besten Aussichten. Er ist für Zfentrum und Konservative akzeptabel und kann darauf verweisen, daß er schon vor 1973 einmal als Chef eines Minderheitenkabinetts sehr gute Zensuren eingeheimst hat Die Wahlen zum Storting in Oslo - in dem die Abgeordneten übrigens nicht nach Parteien, sondern nach Wahlkreisen geordnet sitzen - stellen die Weichen für das kommende Jahrzehnt eines Landes, das in dieser Zeit auf Grund seiner Naturschätze vom geographischen Außenseiter zu einem wirtschaftlichen Zentrum Europas werden wird. Ihre Signalwirkung sollte über Skandinavien hinausreichen. Wenn es den bürgerlichen Parteien gelingt, mit einem „Ideologiewahlkampf ‘ die Mehrheit zu erringen, sollte das so manche Parteizentrale zum Nachdenken bringen. Eine positive Erneuerung der politischen Konfrontation könnte die Folge sein.

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