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Fristenlösung gegen den Willen des Volkes

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Mit der geringsten möglichen'Men¥-! heit hat das norwegische Parlament ein Gesetz angenommen, das die Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft freigibt. Im Störung hatten die Befürworter der Fristenlösung eine einzige Stimme Mehrheit, in der zweiten Kammer, dem Odelsting, entschied bei Stimmengleichheit gar nur das Votum des Versammlungspräsidenten. Seine Stimme zählt in solchen Fällen doppelt; das gab Ausschlag für die Einführung der freien Abtreibung in Norwegen.

Bisher hatte in Norwegen eine weitgefaßte Indikationslösung gegolten. Sie war vor drei Jahren ebenfalls nur mit einer Stimme Mehrheit Gesetz geworden. In den Wahlkampf des Vorjahres gingen die bürgerlichen Parteien mit dem Versprechen, im Fall eines Sieges dieses Indikationsgesetz wieder zu verschärfen. Das war der Preis gewesen, den die Konservativen und die Zentrumspartei der Christlichen Volkspartei für deren Eintritt in die „bürgerliche Alternative“ zahlen hatten müssen. Sozialdemokraten und Linkssozialisten kündigten hingegen an, für die völlige Freigabe des Schwangerschaftsabbruches eintreten zu wollen.

Da die Parteien der Linken aus den Wahlen mit einem Mandat Vorsprung hervorgingen, sahen sie nun den Zeitpunkt gekommen, ihr Wahlversprechen einzulösen. Den Auftrag der Wähler dürfen sie dafür freilich nicht in Anspruch nehmen. Im Wahlkampf hatte die Abtreibungsfrage - im Gegensatz zu 1973 - eine verhältnismäßig kleine Rolle gespielt. Vor fünf Jahren hatte die „Arbeiterpartei“ nach ihrer Ankündigung, die Fristenlösung einführen zu wollen, ein Debakel erlitten. Und auch jetzt zeigen Meinungsumfragen, daß eine klare Mehrheit des norwegischen Volkes das neue Gesetz ablehnt. Die Anhänger sämtlicher Parteien mit Ausnahme der Linkssozialisten - also auch die der Arbeiterpartei -sind mehrheitlich Gegner der Fristenlösung.

Doch die Sozialdemokraten vergaßen darauf, daß sie sich oftmals selbst „Norwegens größte Christenpartei“ nennen, derart daraufhinweisend, daß

mehr'-Chris^rl die Arbeiterpartei als die „Christliche Volkspartei“ wählen; sie vergaßen auch darauf, daß es noch nicht lange her ist, seit man auf dem Parteitag verkündete, auf die Interessen der Kirche stärker als bisher Rücksicht nehmen Zu wollen. Der Vorschlag, in dieser Frage den Fraktionszwang aufzuheben und jeden Abgeordneten nach seinem Gewissen stimmen zu lassen, wurde verworfen. So wurde aus dem Anliegen um den Schutz des ungeborenen Lebens eine politische Abstimmung, deren Ausgang gegeben war: die Sozialdemokraten und die beiden Linksspzialisten überstimmten die bürgerliche Opposition um jene eine Stimme, durch die sich die „Arbeiterpartei“-Regierung an der Macht hält.

Für die Gegner der Fristenlösung ist eine Schlacht verloren, aber die Aktion geht weiter, wie der Vorsitzende der Volksbewegung gegen freie Abtreibung, der Arzt Otto Chr. Rö, versichert. Man will für ein Gesetz arbeiten, durch das dem. Embryo verfassungsmäßig das Recht auf Leben garantiert wird. Die lutheranische Staatskirche meint in einem Hirtenbrief, das Gesetz ändere nichts an der Sicht, die die Kirche zur Abtreibung habe. Die Bischöfe versprechen, daß die Kirche sich noch mehr als bisher für den Schutz des ungeborenen Lebens einsetzen werde -und sich um Hilfe für die in Not Geratenen bemühen werde, um Abtreibungen überflüssig zu machen.

Die bürgerlichen Parteien haben sich verpflichtet, das Gesetz wieder zu ändern, sobald sie die Möglichkeit dazu bekommen. Doch die Arbeiterpartei hat die Fristenlösung ganz bewußt schon im ersten Jahr der vierjährigen Legislaturperiode durchgeboxt. Vorzeitige Neuwahlen sind laut norwegischem Verfassungsgesetz unmöglich. So hoffen die Sozialdemokraten, daß bis zum nächsten Wahltag im September 1981 die Gemüter sich beruhigt haben und die Auseinandersetzung um die Abtreibung vergessen ist. Es wird an den Gegnern der Fristenlösung liegen, diese Hoffnung zu enttäuschen.

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