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Tragödie der österreichischen Demokratie

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Der österreichische Nationalrat wird seine frühzeitige Auflösung beschließen. Die nächsten Wahlen dürften am 10. Oktober stattfinden. Kaum zwanzig Monate war dann das Parlament in Funktion, das am 1. März 1970 gewählt wurde. An sich dauert die Funktionsperiode des österreichischen Nationalrates vier Jahre. Aber ein einziges Mal in der Geschichte der Zweiten Republik wurde diese Frist eingehalten, während die übrigen Parlamente alle unter Mithilfe der Parteien frühzeitig aufgelöst wurden, wenn auch nicht nach einer so kurzen Funktionsperiode wie im vorliegenden Fall. SPÖ und FPÖ werden den Auflösungsantrag unterstützen, wodurch er sicherlich zum Gesetz erhoben wird. Die ÖVP ist gegen Neuwahlen, obwohl sie in früheren Perioden des Parlaments selbst an eine frühzeitige Auflösung mit Hand angelegt hat. Warum aber gibt es wirklich so bald Neuwahlen?

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Der österreichische Nationalrat wird seine frühzeitige Auflösung beschließen. Die nächsten Wahlen dürften am 10. Oktober stattfinden. Kaum zwanzig Monate war dann das Parlament in Funktion, das am 1. März 1970 gewählt wurde. An sich dauert die Funktionsperiode des österreichischen Nationalrates vier Jahre. Aber ein einziges Mal in der Geschichte der Zweiten Republik wurde diese Frist eingehalten, während die übrigen Parlamente alle unter Mithilfe der Parteien frühzeitig aufgelöst wurden, wenn auch nicht nach einer so kurzen Funktionsperiode wie im vorliegenden Fall. SPÖ und FPÖ werden den Auflösungsantrag unterstützen, wodurch er sicherlich zum Gesetz erhoben wird. Die ÖVP ist gegen Neuwahlen, obwohl sie in früheren Perioden des Parlaments selbst an eine frühzeitige Auflösung mit Hand angelegt hat. Warum aber gibt es wirklich so bald Neuwahlen?

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Die Regierung Dr. Kreisky ist bekanntlich eine Minderheitsregierung. In Wirklichkeit hat Dr. Kreisky natürlich die Mehrheit des Parlamentes hinter sich, da die FPÖ mit ihm ja fast immer durch dick und dünn geht, und die ÖVP vielen Anträgen der Regierung zustimmte. Das Parlament ist somit eigentlich arbeitsfähig. Aber Dr. Kreisky ist diese geheime Macht zuwenig, und deshalb hat er diese Wahlen vorzeitig vom Zaun gebrochen, um entweder die absolute Mehrheit im Parlament zu erringen oder eine kleine Koalition mit der FPÖ ein- gehen zu können, die für diese Wahlperiode sich verpflichtet hatte, mit der SPÖ offiziell in keine Regierung zu gehen.

Warum aber hat Österreich überhaupt eine Minderheitsregierung? Dies hängt mit der sehr souveränen Art zusammen, mit der der österreichische Rundespräsident nach dem 1. März 1970 Dr. Kreisky zum Bundeskanzler einer Minderheitsregierühg Bestellte.’ TöWflärröcKtlich wurde natürlich bei dieser Bestellung kein Punkt der Verfassung verletzt. Aber tatsächlich wurden die ungeschriebenen Spielregeln der Demokratie bei dieser Bestellung zum erstenmal in der Geschichte der Zweiten Republik nicht eingehalten. Noch General Körner und Doktor Schärf hielten sich unbedingt an diese ungeschriebenen Spielregeln. Nach diesen hätte das Staatsoberhaupt, nachdem Dr. Kreisky die Bildung einer Mehrheitsregierung nicht gelungen war, den Leiter der zweitstärksten Partei ersuchen müssen, seinerseits eine Mehrheitsregierung zu bilden. Aber Dr. Kreisky wollte unbedingt Bundeskanzler werden und der Bundespräsident beugte sich seinem Wunsch. Es ist nur bezeichnend dafür, wie wenig den Österreichern die Spielregeln der Demokratie in Fleisch und Blut übergegangen sind, daß sie sich über dieses Hinwegsetzen gar nicht sonderlich aufregten.

Kein Gleichgewicht der Macht

Das zweitemal wurden die Spielregeln der Demokratie nicht eingehalten, als Dr. Jonas zum andernmal zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Nach den Spielregeln der Demokratie hat bei Amtsantritt eines Staatsoberhauptes, auch wenn die Regierung schon vorher im Amt war, dieselbe zumindest formell die Demission anzubieten. Bei Körner und Schärf wurden diese Spielregeln auch immer eingehalten. Diesmal aber nicht, obwohl hier der Bundespräsident die Chance gehabt hätte, Dr. Kreisky aufzufordern, eine Mehrheitsregierung -zu bilden und, falls dies nicht möglich gewesen wäre, neuerlich den Leiter der zweitstärksten Partei zu ersuchen, seinerseits eine Mehrheitsregierung zu schaffen.

Wäre bei der letzten Bundespräsidentenwahl nicht Dr. Jonas zum Bundespräsidenten gewählt worden, sondern Dr. Waldheim, dann hätte es zur formellen Demission der Regierung Kreisky kommen müssen. In diesem Blatt wurde seinerzeit, vor der Wahl des Bundespräsidenten, darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, daß in einer Republik das Staatsoberhaupt und der Chef der Regierung nicht aus der gleichen Reichshälfte kommen. Nur durch ein Gleichgewicht der Macht ist eine Garantie dafür gegeben, daß die ungeschriebenen Regeln der Demokratie eingehalten werden. Die „Furche“ hat seinerzeit dafür plädiert, daß eben im Interesse dieses Gleichgewichts der Macht der Bundespräsident unbedingt aus jener Reichshälfte gewählt werden sollte, der der Chef der Regierung nicht angehört. Aber die ÖVP warf dieses Prinzip so .gut wie gar nicht in den Wahlkampf, sie versuchte die Jugend mit mäßigen revolutionären Schlagworten zu gewinnen und vergaß dabei, daß die Mehrzahl der Wahlberechtigten nicht aus Jugendlichen besteht. Sie schämte sich auch, zu sagen, daß sie ein konservatives Prinzip vertrete. Die SPÖ dagegen nahm nicht nur auf das Wahlalter der Wahlberechtigten Rücksicht, sie stellte auch ihren Kandidaten gleichsam als Vertreter* des konservativen Prinzips auf. („Treu, verläßlich und bewährt.“) Und so war der Sieg von Dr. Jonas nicht aufzuhalten, Doktor Kreisky konnte diesen konservativen Wahlsieg für sich buchen und konnte den Ründespräsidenten wieder überreden, die Spielregeln der Demokratie nicht einzuhalten. Die Österreicher, die in ihrer Mehrheit den konservativen Kandidaten wählten, und hiebei ganz vergaßen, durch ihre Wahl dem Urprinzip der Demokratie „Gleichgewicht der Macht“ zum Sieg zu verhelfen, haben sich es nun selbst zu verdanken, daß sie in diesem Jahr eine neuerliche Parlamentswahl über sich ergehen lassen müssen, mit allem Unschönen, das eine solche Wahl mit sich bringt und mit all den Kosten, die eine solche verursacht.

Warum Neuwahlen?

Warum aber will Dr. Kreisky unbedingt Neuwahlen, obwohl er doch bisher ganz gut mit Unterstützung der FPÖ regiert hat? Sicherlich ist ihm diese geheime Koalition zu unverbindlich und wahrscheinlich fürchtet er, daß im Fall eines Mißtrauensantrages der ÖVP die FPÖ auf Grund ihrer seinerzeitigen Erklärung vom Jänner 1970 mit dieser stimmen müßte. Dr. Kreisky möchte entweder die absolute Mehrheit im Parlament besitzen oder zumindest eine offizielle Koalition mit der FPÖ eingehen können, üfn ungestört regieren zu können.

Nach dem Sieg am 1. März 1970, nach den verschiedenen Gewinnen der SPÖ bei diversen Landtagswahlen, nach der Wiederwahl von Franz Jonas zum Bundespräsidenten, scheint Dr. Kreiskys Lage so glänzend, daß er dieses Pokerspiel einer neuen Wahl ruhig riskieren zu können glaubt. Aber ist seine Lage wirklich so glänzend? Wer sie näher untersucht, wird sich vielleicht des berühmten Wortes Churchills erinnern, das dieser nach dem Sieg Hitlers in Frankreich sprach: „Und wenn Hitler vor London stünde, seine Lage wäre glänzend, aber hoffnungslos.“

Dr. Kreiskys Lage ist glänzend, aber doch auch wieder hoffnungslos. Seine letzte große Chance 1st diese Wahl. Und so merkwürdig es klingt, er muß trachten die absolute Mehrheit zu gewinnen oder zumindest eine tragfähige kleine Koalition, um sich in erster Linie gegen die eigene Partei durchsetzen zu können.

Man sagt immer, die ÖVP wäre jetzt in keiner guten Verfassung.

Aber die SPÖ scheint es auch nicht zu sein. Auf der einen Seite ist sie ohne Kreisky völlig flügellahm, wie es die Wochen gezeigt haben, da er krank war. Auf der anderen Seite aber erhält sich eine hartnäckige Fronde innerhalb der Partei gegen Kreisky, aus Gründen, die der öffent lichkeit nicht bekafvnt sind. Ein’ Wahlsieg Kreiskys würde diese Fronde für einige Zeit lahmlegen.

Dr. Kreisky sieht sich schweren politischen Aufgaben gegenüber, die er wahrscheinlich nur glaubt, mit einer absoluten Mehrheit oder einem festen Koalitianspakt bewältigen zu können.

• Da ist zunächst der Beitritt Englands zur EWG. Seit 25 Jahren hat Großbritannien auf diesen Augenblick gewartet und hat sich eine Mitgift für diese Heirat gesammelt, genannt EFTA. Die Skandinavischen Staaten und Portugal wird Großbritannien sicherlich in die EWG ein- bringen. Und nur die Schweiz und Österreich werden von der EFTA übrigbleiben. Die Schweiz ist konsolidiert genug, um sich mit der EWG zu arrangieren, aber Österreichs Assoziierung steht das unerbittliche Nein der Russen entgegen. Hier stößt die kommende Regierung auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten.

• Die schleichende Inflation ist nicht aufzuhalten. Preissteigerungen müssen die Gewerkschaft auf den Plan rufen. Diese Forderungen der Gewerkschaft dürfte Kreisky nur glauben, paralysieren zu können, wenn er über eine Mehrheit im Parlament verfügt.

• Das Bundesheer ist nach wie vor ein ungelöstes Problem. Die härtesten Widerstände gegen die geplante Reform kamen ja von den linken Generalen und Offizieren. Eine absolute Mehrheit würde Dr. Kreisky imstand setzen, immun gegen diesen Widerstand zu sein. Eine Kleine Koalition würde ihm die Chance geben, das Landesverteidigungsmini- sterium anzubringen. Mag dann ein ehemaliger SS-Mann sehen, wie er mit den Offizieren fertig wird.

Tragödie des Parlaments

So hat Dr. Kreisky diese Wahl in erster Dinie vom Zaun gebrochen, um innerhalb der eigenen Partei der starke Mann bleiben zu können und um dadurch die schwierigen Aufgaben, die kommen, lösen zu können. „Seine Lage ist glänzend, aber hoffnungslos.“ Er hat sie aber auch vom Zaun gebrochen, da er sicherlich glaubt, daß sich die ÖVP zu regenerieren beginnt, und dann ihrerseits bestimmen kann, wann Wahlen abzuhalten sind.

Dr. Kreisky spielt ein großes Pokerspiel um die Macht. Gewinnt er die absolute Mehrheit, dann kann er die nächsten Jahre ruhig regieren. Behält seine Partei gleichviel Stimmen oder gewinnt sie sogar einige dazu, ohne die absolute Mehrheit zu erreichen, dann Wird er mit der FPÖ eine Kleine Koalition eingehen. Aber immerhin besteht auch die Möglichkeit, daß die Österreicher dieses Pokerspiel um die Macht satt haben, daß die FPÖ nicht genug Stimmen bekommt und die SPÖ Stimmen verliert, so daß eine Kleine Koalition kaum eine nennenswerte Mehrheit hat. Es ist ein großes Po- kerspiel um die Macht, bei dem es natürlich wieder in erster Linie um eines geht: Um die Ausschaltung des Parlaments.

Dieses österreichische Parlament ist, seitdem es besteht, von einem seltsamen Fluch belastet. Während alle Parlamente der Welt ununterbrochen versuchen, ihre Rechte zu erweitern, versucht däs österreichische Parlament, seitdem es besteht, sich entweder auszuschalten oder zur Bedeutungslosigkeit herunterzudrük- ken.

In der Monarchie lähmten die Abgeordneten durch ihre Obstruktion die Arbeit des Parlaments derart, daß die Regierungen mit den berühmten Notverordnungsparagraphen absolut herrschen konnten. In der Ersten Republik züchteten die Parteien durch ihr politisches Verhalten und durch ihre Propaganda eine Unlust der Bevölkerung an der Demokratie, bis sich schließlich das Parlament durch den Rücktritt der drei Präsidenten funktionsunfähig machte.

In der Zweiten Republik war das Parlament schon klüger: es betrieb weder Obstruktion, noch wurde es durch Rücktritte von Präsidenten funktionsunfähig, aber durch das System der großen Koalition ließ sich das Parlament in die Rolle eines Notars herabdrücken, der irgendwie beschlossene Gesetze legalisierte.

Zum erstenmal in der Geschichte des österreichischen Parlaments wäre jetzt die Chance gewesen, daß dieses als Souverän Österreichs seine Macht behaupten hätte können. Doktor Schleinzer, der neue Parteiobmann der ÖVP, sagte ganz richtig, daß das Parlament ja arbeitsfähig sei. Man hätte nur eine Regierung suchen müssen, die mit diesem arbeitsfähigen Parlament Zusammenarbeiten hätte wollen. Doktor Kreisky ahnte diese Gefahr und läßt das Parlament auflösen in der Hoffnung, entweder die absolute Mehrheit zu gewinnen oder zumindest eine tragfähige Kleine Koalition, die es ihm ermöglicht, auf das Parlament so gut wie gar nicht Rücksicht zu nehmen. Daß die Abgeordneten in der Mehrzahl diesem Pokerspiel zustimmten, das auf die Entmachtung des Parlaments hinausgeht, zeigt nur erneut die Tragödie der Demokratie in Österreich auf. In Österreich dürfte es noch lange dauern, bis die Spielregeln der Demokratie der Bevölkerung und den Parteien ln Fleisch und But übergegangen sind und Österreich aufhört, ein Obrigkeitsstaat zu sein.

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