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Nicht „ob“ sondern „wie“

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Die Parole „Koalitionen kann man nicht wählen“, die wir in diesen Tagen immer wieder hören, stimmt zweifellos. Sie enthebt uns aber nicht der Frage nach der Koalition, falls keine der beiden großen Parteien am L März die absolute, Mehrheit erringen sollte. Denn: das österreichische Wahlrecht mach't'einer Partei die Erringung einer solchen absoluten Mehrheit nicht gerade leicht.

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Die Parole „Koalitionen kann man nicht wählen“, die wir in diesen Tagen immer wieder hören, stimmt zweifellos. Sie enthebt uns aber nicht der Frage nach der Koalition, falls keine der beiden großen Parteien am L März die absolute, Mehrheit erringen sollte. Denn: das österreichische Wahlrecht mach't'einer Partei die Erringung einer solchen absoluten Mehrheit nicht gerade leicht.

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Wie viele Mandate sind dafür tatsächlich notwendig? Die Erfahrungen seit 1966 haben uns gelehrt, daß 85 Mandate für eine regierungsfähige Mehrheit durchaus genügen. Bei 84 Mandaten kann die Situation für die Regierungspartei etwa bei einer plötzlichen Erkrankung auch nur eines einzigen Abgeordneten bereits kritisch werden. 83 Mandate bedeuten — mathematisch — zwar noch immer die absolute Mehrheit, sind aber für die Alleinregierung einer Partei auf jeden Fall zuwenig. Dabei ist noch eine Gefahr zu berück-

sichtigen: Nach der Geschäftsordnung des Nationalrates darf der jeweilige Vorsitzende bei Abstimmungen nicht mitstimmen. Diese undemokratische Bestimmung der Geschäftsordnung gehört längst ausgemerzt. Sie verfälscht nämlich den Wählerwillen. Ist es doch so, daß üblicherweise die stimmenstärkste Partei zumindest den Ersten Präsidenten stellt und damit bei entscheidenden Abstimmungen auf eine unter Umständen ausschlaggebende Stimme verzichten muß. Ob das im Sinne jener vielen tausend Wähler

liegt, die den betreffenden Präsidenten als Kandidaten ihres Wahlkreises in den Nationalrat gewählt haben? Bisher haben sich die drei Präsidenten des Nationalrates — zwei gehören der ÖVP, einer der SPÖ an — in kollegialer Weise in regelmäßigen Abständen im Vorsitz abgelöst. Doch wer garantiert, daß das immer so bleibt? Sind uns die Vorgänge am 4. März 1933 im Nationalrat, als alle drei Präsidenten nacheinander ihr Amt niederlegten, nicht Warnung und Anlaß genug, auch jenen Abgeordneten sein ihm vom Volk aufgetragenes Mandat ausüben zu lassen, der gerade den Vorsitz führt? Wenn man diese Schwierigkeiten, zu einer tragfähigen Mehrheit zu gelangen, ins Auge faßt, ergibt sich zwangsläufig die Frage nach der Koalition. Große Koalition? Unwillkürlich erinnert man sich an den geradezu klassisch gewordenen Ausspruch des Volksschauspielers Hans Moser in einer Filmrolle als Dienstmann beim Heben eines schweren Koffers: „Wie nehma'n denn?“ Diese urwienerische Frage hat bezüglich der großen Koalition bisher auch auf Hochdeutsch niemand beantworten können. Wie soll eine neue große Koalition funktionieren? Die ÖVP konzentriert sich auf die absolute Mehrheit Der SPÖ schiene sie nicht gerade unwillkommen. Ihr Vorsitzender Dr. Kreisky lehnt die alte Koalition bis 1966 als heute überholt ab und spricht von neuen Formen und einer neuen Art der Zusammenarbeit. Aber nirgends wurden bisher konkrete Vorschläge über die Arbeitsweise einer künftigen großen Koalition gemacht. Auch die Presse schweigt sich darüber aus. Die Ursache dafür liegt wohl darin, daß zwischen einer arbeitsfähigen großen Koalition, die nicht auf mehr ode-weniger zufällige Stimmenverhältnisse bei Abstimmungen im Parlament angewiesen sein darf, und einem selbständigen Parlament, das keine Abstimmungsmaschinerie darstellen soll, ein kaum lösbarer Widerspruch besteht. Auch die alte Koalition konnte dieses Problem nicht meistern. Als man sich nach den Wahlen 1962 entschloß, die starren Fesseln der Koalition etwas zu lockern, zeitigte das überhaupt keinen Erfolg, sondern führte nur um so rascher zu einem Ende der Koalition. Die Frage nach der großen Koalition ist also weniger eine Frage des Ob als eine Frage des Wie; eine Frage, die bis jetzt niemand ausreichend beantwortet hat. Denn eines ist klar: Auf den ausgefahrenen Geleisen der Koalition bis 1966 mit ihrer den Grundsätzen unserer Verfassung widersprechenden Entmachtung des Parlamentes, den Auswüchsen des Proporzes und der faktischen Machtausübung durch einen in unserer Rechtsordnung überhaupt nicht vorgesehenen Koalitionsausschuß kann man heute nicht mehr weiterarbeiten.

Kleine Koalition? Viel Neuland, viel Unbekanntes, das der Österreicher gewohnheitsmäßig scheut. Dazu kommt noch das nicht gerade ermutigende Beispiel der Bundesrepublik, wo es die auf dem absteigenden Ast befindliche FDP verstanden hat, sich zum entscheidenen Machtfaktor her-auszumausern. Auf diese Art erhalten wenige Prozent von Wählerstimmen plötzlich ein Gewicht, das ihnen eigentlich nicht zukommt. Die österreichische Bundesregierung faßt bekanntlich nur einstimmige Beschlüsse. Das bedeutet, daß ein einziges freiheitliches Regierungsmitglied den Ministerrat lahmlegen könnte. Ernstzunehmende Stimmen fordern seit Jahren ein Abgehen vom Prinzip der Einstimmigkeit bei Regierungsbeschlüssen, Sicher ist, daß dieses System der Einstimmigkeit für Koalitionen nicht günstig ist, ganz besonders nicht für eine kleine Koalition. Die kleine Koalition läßt dem Parlament — im Gegensatz zur großen — genügend Spielraum zur Erfüllung seiner verfassungsmäßigen Aufgaben. Sie birgt aber eine Gefahr für eine wirksame Arbeit der Regierung.

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