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Geänderte Proportionen

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Das Volk hat entschieden. Das Gesetz des Handelns ist auf den Bundespräsidenten übergegangen. Dazwischen aber beraten und entscheiden Parteigremien. Das Volk hat gesprochen, aber wie! Aber wie?

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Das Volk hat entschieden. Das Gesetz des Handelns ist auf den Bundespräsidenten übergegangen. Dazwischen aber beraten und entscheiden Parteigremien. Das Volk hat gesprochen, aber wie! Aber wie?

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Bei früheren Wahlen wurden die Großen kleiner, die Kleinen größer. Diesmal wurden die Größten größer, die Kleinen kleiner. Die beiden Mittleren, nämlich ÖVP und FPÖ, blieben im wesentlichen gleich. Sie stabilisierten sich. Und sie haben - wie vor der Wahl -auch nunmehr eine absolute Mehrheit im Parlament. Die Sozialdemokraten haben ihr Wahlziel erreicht. Sie sind Erste geblieben und sogar stärker geworden. Aber auch sie können eine schwarz-blaue Koalition nicht verhindern. Das kann nur der Bundespräsident. Würde die Bundesregierung wie bis zur Verfassungsnovelle 1929 vom Nationalrat gewählt, würde es vielleicht aufgrund der Mandats- und Parteienverhältnisse eine solche Koalition geben. Das wäre nach Meinung mancher ehrlicher als die Fortsetzung der großen Koalition, nach Meinung vieler aber gefährlicher. Ein großer Teil der Wählerschaft hat wohl auch dagegen votiert.

Die ÖVP hat ihr wichtigstes Wahlziel, Erste zu werden, nicht erreicht. Aber auch sie hat an Stimmen zugelegt. Das Gegeneinander der beiden Begierungsparteien im Wahlkampf hat ihnen mehr Stimmen und Mandate gebracht. Als Parteiführer kämpften Vranitzky und Schüssel gegeneinander. Können sie als Begierungsführer wieder zusammenarbeiten? Das Wahlergebnis kann man als Auftrag der Wählerschaft zur Kontinuität und Stabilität deuten. Das heißt auch Fortsetzung der großen Koalition. Die zwei Begierungsparteien müssen sich wieder an den Tisch setzen, den sie verlassen haben (siehe furche 50, Seite 2 und 3). Die Proportionen haben sich geändert, der Proporz bleibt.

Kann die ÖVP ihre anderen Ziele erreichen? Setzt sich der Wahlkampf in einer neuen fortgesetzten Koalition auch fort? Außer Spesen nichts gewesen? Wurden drei Monate wertvoller Zeit verloren? Oder ist ein neuer Begierungskonsens der Sanierung und Beform entstanden?

Warum im übrigen eine einstweilige Begierung nicht ohne Bücktritt nach der Wahl bis zur Bildung einer neuen definitiven Begierung weiterarbeiten kann, ist nicht recht einzusehen. Oder entstehen nunmehr provisorische Begierungen neuer Art? Der Bundespräsident wird sich an die Verfassungskonvention halten. Dr. Vranitzky wird von ihm mit der Begierungsbildung betraut werden. In der Zwischenzeit kann es Gespräche in den Parteien, zwischen den Parteien und zwischen Bundespräsidenten und Parteiführerinnen geben. Aber die Wahlen haben nicht den Zwang zum Konsens in der Bundesregierung geändert. Aufgrund der Sympathieverhältnisse kann man derzeit wie schon vor zwei Monaten nur voraussagen, daß das Begieren der Begierungsparteien noch schwieriger, mühsamer und langwieriger werden kann als bisher.

Die Verhandlungen über die Begierungsbildung könnten dafür ein Anschauungsmaterial bieten. Zu hoffen ist, daß wenigstens die Lösungsvorschläge für die großen Probleme in den Parteien gut vorberaten und sie für Kompromisse vorbereitet sind. Die Zeit vor und bei der Begierungsbildung sollte für Konzepte mit Alternativen und Konsequenzen genützt werden. Der Bundespräsident kann wie im Vorjahr einiges vorgeben und empfehlen. Die Budgetsanierung und das Sparen - auch in der Symbolik von weniger Ministern und Staatssekretären - verstehen sich freilich von selbst. Er kann aber auch zeitliche und sachliche Vorgaben und Zusätze anderer Art machen. Das könnte die Staatsreform, die Verwaltungsreform und - last but not least - eine Begierungsreform betreffen. Er könnte auch die Frage der Einstimmigkeit in der Bundesregierung ansprechen. Durch dieses Prinzip, das weniger auf der Konstitution als auf der Konvention, ja Tradition aus der Monarchie beruht, wird ja gerade jenes Organ, das rasch und mit Konsequenz agieren soll, zur Langsamkeit durch Konsens gezwungen.

Das Mehrheitsprinzip durchzieht wie ein rot-weiß-roter Faden die Bundesverfassung. Nur in der Bundesregierung setzt sich der schwarzgelbe Faden der Einstimmigkeit kaiserlicher Begierung fort. Der Kaiser konnte ja in seinem Ministerrat und durch ihn nur „einstimmig" sein. Der Monarch konnte ja in sich nicht uneins sein; ein demokratisches Kollegium kann dies durchaus. Deshalb gibt es die Mehrheitsregel zur Lösung.

Der Autor

ist Rechtslehrer an der Universität für Bodenkultur in Wien.

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