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Selbstblockade der 50 Prozent: Nein, danke!

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„Arbeitskreises für politische Theorie“. Von sozialistischer Seite werden Überlegungen zur Weiterentwicklung der Demokratie derzeit nicht zur Diskussion angeboten. Dies würde ja auch der Wählkampftaktik, die allein auf das Halten der absoluten Mehrheit ausgerichtet ist, entgegenstehen.

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„Arbeitskreises für politische Theorie“. Von sozialistischer Seite werden Überlegungen zur Weiterentwicklung der Demokratie derzeit nicht zur Diskussion angeboten. Dies würde ja auch der Wählkampftaktik, die allein auf das Halten der absoluten Mehrheit ausgerichtet ist, entgegenstehen.

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Die österreichischen Erfahrungen zur Entwicklung von Regierungssystemen bestehen aus 20 Jahren Große Koalition und nun schon 13 Jahren Alleinregierung. Dabei ist das Parteienwesen relativ stabil geblieben: Zu den Ereignissen nach dem 6. Mai wird mit den möglichen Wahlergebnissen zweier Großparteien und einer kleineren herumspekuliert.

Von den beiden Kleinparteien war die KPÖ seit 1947 für keine andere Partei mehr ein möglicher Koalitionspartner, hingegen wurde die FPÖ im Laufe der Zeit erst ein solcher. Für Klaus war es 1970 nicht denkbar, mit einer Partei unter dem Vorsitz des ehemaligen Obersturmführers Friedrich Peter eine Koalition zu bilden, mit dessen Unterstützung wurde aber Bruno Kreisky im gleichen Jahr Bundeskanzler.

Bis in die letzten Jahre der Großen Koalition hinein hatten wir einen völlig unterentwickelten Parlamentarismus, der die zunehmende Handlungsunfähigkeit und Blockierung der Regierung nicht flott machen konnte, sondern ein Ergebnis der Koalitionsvereinbarungen war.

Seit 1966 macht Österreich eine neue Erfahrung mit einer Alleinregierung und einem sich entwickelnden Parlamentarismus, dem das „englische System“ zum Vorbild diente. Zeitungskommentare und Spitzenpolitiker bezeichneten dies als nachahmenswertes Beispiel: Statt gleichzeitiger Regierung der großen politischen Kräfte des Landes der ständige Wechsel von Regierung und Opposition.

Die Diskussion der letzten Wochen hat allerdings eine gedankliche Verschiebung mit sich gebracht: war es für die Regierung Klaus selbstverständlich, nach dem Ergebnis des ersten März 1970 aus dem Amt zu gehen, experimentiert der gegenwärtige Kanzler damit, 90 Mandate zu mehr als die Hälfte von 183 zu erklären.

Dahinter steht nicht mehr das Wechselspiel von Regierung und Opposition, sondern expressis verbis die Inanspruchnahme der politischen Macht für den Rest des Jahrhunderts. Wobei unter Umständen ein Beifahrer kleinerer Ordnung als Steigbügelhalter akzeptiert werden könnte, wie schon bei der Minderheitsregierung.

Lieber aber hätte es die SPÖ in den vergangenen Jahren gesehen, wenn ihr Konzept der Aufsplitterung der ÖVP aufgegangen wäre. So muß auch der ständige Versuch Bruno Kreiskys mit der „Blutgruppe 0“ oder des „Kirchschläger für die Bauern“ verstanden werden. Aber Karl Lütgendorf und Willibald Pahr zersplitterten keine Partei und Albin Schober ist unter Bauern ein Unbekannter geblieben, wobei sich ein wirklicher Kirchschläger für ein solches Spiel sicher nicht hergegeben hätte.

Daher muß die SPÖ - um ihr Ziel zu erreichen - auf die Parole „Alles oder nichts“ zurückgreifen. Die Situation hat viele Parallelen mit 1970, aber doch einen gravierenden Unterschied: am Abend des 1. Marz dieses Jahres sagte Klaus mit „britischer“ Selbstverständlichkeit, daß nun eben die Wahlsieger regieren sollten, und die ÖVP wählte mit ziemlicher Selbstverständlichkeit - obwohl die SPÖ keine Mehrheit hatte - den Weg in die Opposition.

Die SPÖ hat anderes angekündigt: der Nationalrats- und Gewerkschaftspräsident läßt Zweifel am sozialen Frieden hochkommen, der Vizekanzler zieht bei fehlender absoluter Mehrheit die Regierbarkeit Österreichs in Zweifel, ohne Mehrheit ginge es nicht, obwohl gerade absolute Mehrheiten Angriffsziele der SPÖ in Landtagswahlen waren.

Die Sozialisten sind in Österreich wieder einmal in Gefahr, sich nicht als „Her Majesty's loyal Opposition“ zu verstehen, sondern allenfalls einen eher pathetisch-dramatischen

Schritt vorzubereiten.

An die Stelle der Lähmung der Regierung am Ende der Großen Koalition ist heute die Selbstlähmung der Parteien durch die Majorzdemokra-tie getreten. Durch den magischen Zwang der 50 Prozent ist die Erpreß-barkeit der Politiker enorm erhöht: Im Kampf um die Merheit darf man nicht ein Prozent durch eine Entscheidung verprellen, denn die Konkurrenzpartei liegt in Lauerstellung, um gerade dieses eine Prozent für sich zu gewinnen.

Gerade wegen dieser Selbstblok-kade der Entscheidungs- und Regierungsfähigkeit der Majorzdemokra-tie, in der man wegen der magischen 50 Prozent auch nicht die kleinste Wählergruppe vergrämen darf, muß über eine Weiterentwicklung unseres parlamentarischen Regierungssystems nachgedacht werden.

Die Verankerung eines mehrheitsbildenden Wahlrechts ist wohl aus der österreichischen Tradition abzulehnen, vor allem aber auch deswegen, weil die Liquidierung von kleineren Parteien durch das Wahlgesetz mehr als problematisch und ganz sicher als undemokratisch zu sehen ist Die Lösung durch ein System der proportionalen Regierungsbeteiligung entspricht eher dem System eines proportionalen Wahlrechts und wäre sicher entscheidungsfähiger als die zitternden 50-Prozent-Mehrhei-ten.

Die Schweiz hat sich ebenfalls eine nachahmenswerte Stabilität dadurch geschaffen, die in den Bundesländern ähnlich empfunden wird. Die FPÖ hat in Salzburg mit 13 Prozent Anspruch auf Mitregierung, auf Bundesebene kann man derzeit 49,5 Prozent der Wähler theoretisch jahrzehntelang von der Mitgestaltung ausschließen.

Es kann aber dieser Vorschlag einer Allparteienregierung nicht nur blauäugig von seinen Vorteilen her gesehen werden. Um die totale Bindung der Parteien und Abschaffung jeglicher Kontrolle zu verhindern bedarf es einer Reihe substantieller Änderungen: zunächst einmal muß vom Einstimmigkeitsprinzip der Bundesregierung abgegangen werden. Gerade darin ist die Schwäche der Großen Koalition zu sehen, die eine Bindung großer Mehrheiten im Parlament an die Beschlüsse der Regierung erbracht hat.

Die Mehrheit des Parlaments muß hinter ihrer Regierung stehen und ihr die Mauer machen. Eben diese Mehrheit verhindert auch jede Kontrolle (siehe Mißtrauens-Voten zu Lütgendorf und Leodolter), als auch die Möglichkeit, den Weg der direkten Demokratie zu gehen. Volksabstimmungen sind nur über Mehrheitsbeschluß des Nationalrats möglich und die Einleitung von Volksbegehren sind von verhindernden Begrenzungen begleitet.

Gerade aber der Ausbau der Möglichkeiten der direkten Demokratie ist ein entscheidender Schritt. Damit würde auch eine Möglichkeit geschaffen werden, jene Fragen einer ' Entscheidung zuzuführen, bei denen die Meinungen quer durch alle Parteien gehen. Der schmerzvolle Prozeß der Meinungsbildung zu Zwentendorf in den Parteien hat gezeigt, wie notwendig dieses Instrument ist.

Eine weitere Konsequenz muß darin liegen, dem Parlament wirklich die Möglichkeit der begleitenden Kontrolle zu geben.

Zu dieser Ablösung des Parlaments von der Regierung gehört auch eine Änderung des Wahlrechts. Die Entpersonalisierung, die die SPÖ-Wahlrechtsreform 1971 (Verringerung der Wahlkreise von 25 auf 9) gebracht hat, ist im Interesse der parteienstaatlichen Demokratie nicht länger vertretbar. Zwei Drittel der Mandate sollten in Einer-Wahlkreisen vergeben werden, um damit ein Verhältnis von Wähler und Gewählten zu schaffen, und den Mandatar aus seiner Abhängigkeit gegenüber dem Parteivorstand zu lösen.

Wenn der Abgeordnete Stimmen bringen kann, wird er aus dem Selbsterhaltungstrieb der Parteien heraus Abgeordneter bleiben, auch wenn es dem Parteigremium nicht gefällt. „Zentrale Notwendigkeiten“ hätten am letzten Drittel immer Platz, und die heute so beliebte Verhinderung eines Abgeordneten durch Blankoverzichtserklärung würde der Vergangenheit angehören.

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