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Endlosreform ohne Ziel?

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Die Wahlrechtsreform - eine unendliche Geschichte. Viel- leicht deshalb, weil man sich bisher um eine Grundsatzdis- kussion gedrückt hat. Die Koalitionsverhandler setzen jetzt dort fort, wo sie vor dem Sommer gescheitert sind. Was will man wirklich? Welche Art von Parlament?

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Die Wahlrechtsreform - eine unendliche Geschichte. Viel- leicht deshalb, weil man sich bisher um eine Grundsatzdis- kussion gedrückt hat. Die Koalitionsverhandler setzen jetzt dort fort, wo sie vor dem Sommer gescheitert sind. Was will man wirklich? Welche Art von Parlament?

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Beide Großparteien hatten 1986 eine Wahlrechtsreform verspro- chen, die eine deutliche „Persona- lisierung" des Wahlrechtes mit sich bringen sollte. Die naive Vorstel- lung des Wählers war: Einem neuen Wahlrecht zufolge würde er, der Wähler, bestimmen und nicht mehr die Parteisekretariate, durch wel- che starken Einzelpersönlichkei- ten er im Nationalrat vertreten sein wolle. Diese würden dann sicher- lich - aber so weit wurde meist nicht mehr gedacht - bessere Ge- setze zustande bringen.

Dann aber ist, trotz mühsamer, langwieriger Verhandlungen, die die gesamte Legislaturperiode durchzogen, die Reform nicht zu- stande gekommen, haben sich also offenbar die Finsterlinge in den Parteisekretariaten, die keine Macht abgeben wollten, durchge- setzt. Noch vor dem Wahltag fand eine vom Österreichischen Akade- mikerbund veranstaltete Podiums- diskussion statt, an der als Wahl- rechtsexperten Heinrich Neisser (ÖVP), Friedhelm Frischenschlager (FPÖ) und der SPÖ-nahe Politolo- ge Karl Ucakar teilgenommen haben. Diese Diskusson erbrachte überraschende Hintergründe, die dieses „Versäumnis" der Großpar- teien zumindest in anderem Licht erscheinen lassen.

So ist schon der Begriff „Perso- nalisierung" zumindest zweideutig. Man kann darunter eine engere regionale Nahbeziehung zwischen Mandatar und Wähler verstehen, oder aber, daß der Wähler zwischen verschiedenen Kandidaten auswäh- len kann. Der SPÖ schwebte eher das erste Ziel vor (100 Einzelwahl- kreise, jeweils mit einem von der Partei vorgegebenen Kandidaten), der ÖVP das zweite Ziel (Mehrper- sonen-Wahlkreise mit Wahlmög- lichkeit durch „Reihen und Strei- chen" beziehungsweise durch Ver- gabe von Vorzugsstimmen).

Frischenschlager und Ucakar stellten aber - viel grundlegender - in Frage, ob ein aus Einzelpersön- lichkeiten zusammengesetztes Par- lament überhaupt anzustreben sei. Anders als in den USA, in denen einem gewählten Parlament eine vom Präsidenten ernannte Regie- runggegenübersteht, geht in Öster- reich, wie in den meisten anderen westeuropäischen Ländern auch, die Regierung unmittelbar aus dem Nationalrat hervor; Nationalrats- wahlen seien also de facto Regie- rungswahlen. Der Wähler wähle daher gar nicht einen bestimmten Abgeordenten (dessen Person ihn gar nicht interessiert), sondern er votiere für ein bestimmtes Partei- programm, für einen bestimmten Parteiführer, von dem er sich die Umsetzung des Programmes erhof- fe. Daher hat auch Bundeskanzler Franz Vranitzky für die SPÖ in allen neun Wahlkreisen als Spitzenkan- didat kandidiert.

Daran würde sich - im europä- ischen System - überhaupt nichts ändern, wenn das Parlament aus Einzelpersönlichkeiten mit starker regionaler Bindung zusammenge- setzt wäre. Im Gegenteil: Die ei- gentliche Arbeit im Parlament würde dadurch nur erschwert. Wenn dem Wähler nämlich eine starke Auswahlmöglichkeit zwi- schen regional orientierten Man- dataren eingeräumt ist, so müssen diese Mandatare notgedrungen einen erheblichen Teil ihrer Ener- gie auf Präsenz im Wahlkreis und auf Erfüllung regionaler Sonder- wünsche verwenden; jeder Tag, den sie in mühsamer Ausschußarbeit im Parlament versitzen, ist verloren.

Hauptaufgabe eines „National- rates" (insbesondere neben einem regional orientierten Bundesrat) sei es jedoch, überregional zu denken und Anliegen von nationaler Be- deutung wahrzunehmen. Und wenn aus agrarischen Gebieten lauter Bauern, aus städtischen Gebieten lauter Gewerkschaftsfunktionäre in den Nationalrat gewählt würden - wer macht dann die Gesetze in einer immer komplexer werdenden Welt? Die Abgeordenten wären nur umso hilfloser der Beamtenschaft ausge- liefert, die die Gesetzentwürfe vor- bereitet, oder den Parteisekretaria- ten, deren Macht durch die „freige- wählten" Abgeordenten ja gebro- chen werden sollte.

Wird ein Teil der Abgeordenten in Einzelwahlkreisen gewählt, der Rest über Listen aufgefüllt (SPÖ- Vorschlag), so entstünden zwei Kategorien von Abgeordneten und die eigentliche parlamentarische Arbeit würde sich vorwiegend auf die Listenkandidaten verlagern. Mehr noch: Kleinparteien hätten gar keine Chance, Direktkandida- ten durchzubringen; es entstünde also de facto zweierlei Recht. Es ist zu wenig bekannt, daß FPÖ-Ob- mann Jörg Haider als damaliger Klubobmann der FPÖ im April 1989 in einem an die Klubobmänner der beiden Großparteien gerichteten Schreiben (FURCHE 22/1990) höflich gebeten hatte, von einer Wahlrechtsreform Abstand zu nehmen.

Freie, parteiungebundene Per- sönlichkeiten ins Parlament zu bringen sei schon verfassungsrecht- lich nicht möglich: Was geschieht, wenn eine derartige Persönlichkeit viermal soviel Stimmen erhielte, als für ein Mandat erforderlich sind? Gehen diese Stimmen dann verlo- ren, oder sollte diese Persönlich- keit dann nicht - dem Wähler- wunsch zufolge - durch drei wei- tere Anhänger im Parlament unter- stützt werden können? In der Tat hat der Verfassungsgerichtshof entschieden: Für ein, den Grund- sätzen der Verhältniswahl entspre- chendes, Wahlsystem ist „die Liste konstitutiv".

Der Vorarlberger Bundesrat Jür- gen Weiss hat diesen Überlegungen die Erfahrungen entgegengehalten, die man im „Ländle" mit dem neu- en, deutlich personalisierten Wahl- recht anläßlich der letzten Land- tagswahl gemacht habe. Zwar wurden Listen vorgegeben, doch standen jedem Wähler drei Vor- zugsstimmen zu, von denen er (bis zu) zwei auf einen Kandidaten ver- einigen konnte.

Von diesem Recht, Vorzugsstim- men zu vergeben, haben 57 Prozent (!) der Wähler, quer durch alle Bevölkerungs- und Altersschichten Gebrauch gemacht. Dadurch erga- ben sich mehrere Verschiebungen von Listenplätzen, meistens inner- halb des Bereichs der gewählten beziehungsweise der nichtgewähl- ten Abgeordneten; eine Verschie- bung brachte jedoch einen Abge- ordneten in den Landtag, der ohne das Vorzugsstimmensystem nicht gewählt worden wäre.

Allerdings gelte auch hier, daß die Forderung nach einer „ausge- wogenen" parlamentarischen Ver- tretung (für Frauen, für die Jugend, für Vertreter verschiedener Berufs- gruppen) in Widerspruch zu allzu starker Personalisierung stehe. Der von der ÖVP unter Vizekanzler Riegler Anfang 1990 eingebrachte Gesetzesentwurf einer reformier- ten Nationalratsordnung (Untertei- lung der neun Wahlkreise in 27 Re- gionalwahlkreise vergleichbarer Größe, innerhalb dieser ein wirk- sames System von Vorzugsstimmen) entspreche daher den guten Erfah- rungen, die in Vorarlberg gemacht wurden. Er begrüßte es, daß dieser Vorschlag im Wahlprogramm der ÖVP für die Nationalratswahl vom 7. Oktober wiederholt worden ist.

Allgemeine Zustimmung fand Heinrich Neisser mit der zusam- menfassenden Feststellung: Jede Reformdiskussion hänge so lange in der Luft, als sie sich auf Äußer- lichkeiten (Zahl und Größe der Wahlkreise, der zu vergebenden Vorzugsstimmen) beschränke. Soll eine Reform gelingen, müßte zuerst eine Grundsatzdiskussion über die eigentlichen demokratiepolitischen Ziele durchgeführt und abgeschlos- sen werden. Soll in der nunmehr beginnenden Legislaturperiode eine Wahlrechtsreform gelingen, müßte sie daher als Teil einer allgemeinen Demokratiereform gesehen werden.

Der Autor ist Abgeordneter zum Nationalrat. Wahlrechtsexperte und Professor für Statistik an der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien

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