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Poker um Qualreform
Die erste Frist für eine Wahl- rechtsreform haben sich noch SPÖ und ÖVP gesetzt: Ende 1987. Die letzte setzte Volksanwalt Kohlmaier: den 1. Mai 1990. Jetzt verstreicht die Galgenfrist.
Die erste Frist für eine Wahl- rechtsreform haben sich noch SPÖ und ÖVP gesetzt: Ende 1987. Die letzte setzte Volksanwalt Kohlmaier: den 1. Mai 1990. Jetzt verstreicht die Galgenfrist.
Anfang April hat Volksanwalt Herbert Kohlmaier, ehedem ÖVP- Generalsekretär und selbst Man- datar im Nationalrat, den Regie- rungsparteien ein Ultimatum ge- stellt: Wenn sie bis 1. Mai nicht verbindlich zusagen, ein Persön- lichkeitswahlrecht für die nächsten Nationalrats wahlen zu beschließen, wird am 7. Oktober eine „bürgerli- che, soziale, liberale" - jedenfalls aber parteiferne - Wahlliste für politische Konkurrenz sorgen.
Die Frist wird ebenso ohne Er- gebnis verstreichen wie jene, die sich die Koalitionsparteien im „Pakt mit klarem Ziel" (siehe Ka- sten) vom 16. März 1987 selbst gesetzt haben. Verbindlich.
Unverbindlich beteuern aber SPÖ und ÖVP nach wie vor, daß ihnen eine Reform in Richtung Person lichkeitswahlrecht ein Herzensan- liegen ist. Und alle dürfen sich dabei sogar auf die graue Theorie ihrer Parteiprogramme berufen.
Im Prinzip steht aber die Diskus- sion dort (an), wo sie vor Jahrzehn- ten begonnen hat. So wurde schon 1958 vom nachmaligen Bundes- kanzler Alfons Gorbach die Mei- nung vertreten, „daß sich das poli- tische Interesse der Wählermassen in ungeahntem Maße heben und wecken ließe", wenn es gelänge, „weiter von der starren Liste abzu- rücken und dem Persönlichkeits- wahlrecht näherzukommen".
Heinrich Neisser, Josef Rieglers Vorgänger als Kanzleramtsmini- ster, wollte vor zwei Jahren noch optimistisch „den Vorwurf der Nicht-Erfüllung des Koalitions- übereinkommens" auf sich nehmen, wenn es gelingen sollte, „ein ande- res System des Persönlichkeits- wahlrechtes zu entwickeln" (FUR- CHE 18/1988)-miteinem „großan- gelegten System der Vorzugsstim- me".
Neissers einschränkende Vorah- nung vom 29. April 1988: „Wenn wir in diesem Jahr zu keinem Er- gebnis kommen, hat's nicht viel Sinn."
Wir schreiben den 26. April - al- lerdings 1990. Und eines Sinnes sind Vizekanzler Riegler und SPÖ-Klub- obmann Heinz Fischer darin, daß ein neues Wahlrecht - selbst wenn es noch zu einem Beschluß des Na- tionalrates vor dem Sommer käme - keinesfalls mehr für die Wahlen am 7. Oktober Gültigkeit erlangen könne. Über das Wie scheiden sich die Geister: Ein Poker um die Qual- Reform.
• Für die SPÖ hat Kanzler Franz Vranitzky - so als hätten zwischen- zeitlich keine Verhandlungen statt- gefunden - die im Koalitionspakt enthaltene Variante von 100 Einer- Wahlkreisen zur Grundlage der Verhandlungen erklärt. Pikant dabei, daß auch Heinz Fischer auf das Arbeitsübereinkommen von 1987 zurückgreift, obwohl er selbst davon schon 1988 abgerückt ist.
• Das mühsam erarbeitete Ver- handlungsergebnis vergangener Tage, das in einem Entwurf des In- nenministeriums vom 21. August 1989 seinen Niederschlag gefunden hat - 27 statt 100 Einer-Wahlkrei- se, dafür ein Vorzugsstimmensy- stem, das Dynamik in die gereihten Parteilisten bringt, hat ÖVP-Ob- mann Riegler als Position der klei- neren Regierungspartei auserkoren.
• Wie die ÖVP favorisieren auch die Grünen - und sie haben schon mit einem parlamentarischen Ini- tiativantrag vom 18. Oktober 1989 Reformdruck zu machen versucht - ein Modell, bei dem in 21 „Wahlbe- zirken" im Bundesgebiet bereits eine geringe Anzahl von Vorzugs- stimmen die Parteilisten umge- krempeln könnte.
• Die FPÖ zieht sich aus der Af- färe: Eine Änderung des Wahlsy- stem (noch) im laufenden Wahl- kampf ist für FP-Verfassungsspre- cher Friedhelm Frischenschlager überhaupt „absurd".
Eine Einigung scheint unter die- sen Voraussetzungen - verbalen Be- kenntnissen zum Trotz - in weite Ferne gerückt. Der Streit um eine Wahlrechtsreform, um das „idea- le" Wahlrecht, geht weiter. Aller- dings: „Ein ideales, .bestes' Wahl- recht gibt es nicht - gäbe es ein solches, so wäre es längst überall eingeführt" Gerhart Bruckmann).
Das im Koalitionspakt festge- schriebene Modell der 100 Einer- Wahlkreise bedeutet überhaupt noch kein Persönlichkeitswahl- recht, wird es nicht (wie im anglo- amerikanischen Raum) als K.o.- System nach einem Mehrheitswahl- recht praktiziert. Das aber bräche mit der Tradition des Verhältnis- wahlrechtes, an der wiederum nie- mand rütteln will.
Soll der Grundsatz der Verhält- niswahl gewahrt bleiben, reduziert sich die „Persönlichkeitswahl" des Pakt-Modells darauf, den von einer Partei nominierten Kandidaten an- zukreuzen oder nicht. Fällt er- fällt sie - durch, kommt erst wieder die „Absicherung" über die Parteiliste zum Tragen. Die Einflußmöglich- keit des Wähler dabei: Null.
Der Koalitionspakt erwähnt in diesem Zusammenhang beiläufig das Stimmen-„Splitting" nach dem Vorbild der Bundesrepublik Deutschland: „Es liegt eine gemein- same Präferenz für die Trennung zwischen Direkt- und Parteistim- men vor". Diese Trennung der Stim- me - eine Stimme für einen Kandi- daten, eine Stimme für eine (auch andere) Partei - wird von den be- nachbarten Wählerinnen und Wählern, allerdings unter „strate- gischen", kaum aber (wie Studien belegen) unter persönlichkeits- orientierten Gesichtspunkten ge- nützt. „Nicht alles, was demokra- tisch klingt, ist es auch schon" (Gerhart Bruckmann).
Die Alternative dazu: ein System der Vorzugsstimmen, bei dem - ohne Splitting - innerhalb einer Partei- liste Kandidaten (um-)gereiht wer- den könnnen. Das seit Jahren in diesem Zusammenhang zitierte Südtiroler Modell hat im Wahlrecht Vorarlbergs eine Abwandlung er- fahren. Eine parlamentarische Ini- tiative zur Wahlrechtsreform „etwa in Richtung des Vorarlberger Mo- dells" hat ÖVP-Obmann Riegler Anfang März versprochen.
Zwei Punkte - in der Diskussion miteinander (absichtlich oder aus Unkenntnis) vermengt - müssen auseinandergehalten werden:
• Je kleiner die Wahlkreise sind, desto intensiver kann der Kontakt zwischen Wähler(inne)n und Ge- wählten sein. Je größer die Wahl- kreise sind, umso wichtiger wird die Einflußmöglichkeit per Stimm- zettel.
• Je kleiner die Wahlkreise sind, desto höher kann Parteikandi- dat(inn)en die Latte bei den Vor- zugsstimmen gelegt werden. Um- gekehrt müßte daher gelten: Je größer die Wahlkreise sind, desto weniger Vorzugsstimmen dürften notwendig sein, um eine von Par- teien erstellte Kandidatenliste ab- zuändern.
Nur das ist der springende Punkt - ob in 100,27 oder (wie jetzt) neun Wahlkreisen: Welche Mitsprache räumt man dem „Wahlvolk" ein?
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