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Der rote Pferdefuß der SPÖ

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Am 25. April 1971 wählte das österreichische Bundesvolk Franz Jonas für eine zweite Amtsperiode zum Bundespräsidenten. Diese Entscheidung fiel in eine Zeit, in der Menschen, die sich dem 50. Lebensjahr nähern, bei einem notwendig werdenden Berufswechsel nur noch schwer die angemessene Beschäftigung finden; Politiker, die 60 Jahre alt geworden sind, sollen ausgemustert, jedenfalls nicht mehr neu in Vertretungskörperschaften gewählt werden; und neuerdings sollen Hochschulprofessoren nicht mehr mit 70 Jahren emeritiert, sondern schon mit 65 Jahren pensioniert werden. Zum politischen Stil dieser Zeit gehört es nach Ansicht mancher Zeitgenossen, daß die höchsten politischen Ämter im Staat nicht mehr von „eingefleischten Politikern", sondern von politisch eher farblosen „Persönlichkeiten“ besetzt werden. Die Propaganda politischer Parteien rechnet immer mehr mit den „revolutionären, antiautoritären Typen" der sogenannten Erfolgsgeneration in der „vaterlosen Gesellschaft".

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Am 25. April 1971 wählte das österreichische Bundesvolk Franz Jonas für eine zweite Amtsperiode zum Bundespräsidenten. Diese Entscheidung fiel in eine Zeit, in der Menschen, die sich dem 50. Lebensjahr nähern, bei einem notwendig werdenden Berufswechsel nur noch schwer die angemessene Beschäftigung finden; Politiker, die 60 Jahre alt geworden sind, sollen ausgemustert, jedenfalls nicht mehr neu in Vertretungskörperschaften gewählt werden; und neuerdings sollen Hochschulprofessoren nicht mehr mit 70 Jahren emeritiert, sondern schon mit 65 Jahren pensioniert werden. Zum politischen Stil dieser Zeit gehört es nach Ansicht mancher Zeitgenossen, daß die höchsten politischen Ämter im Staat nicht mehr von „eingefleischten Politikern", sondern von politisch eher farblosen „Persönlichkeiten“ besetzt werden. Die Propaganda politischer Parteien rechnet immer mehr mit den „revolutionären, antiautoritären Typen" der sogenannten Erfolgsgeneration in der „vaterlosen Gesellschaft".

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Die Wahl unseres Herrn Bundespräsidenten im Jahre 1965 und die Wiederwahl im Jahr 1971 bestätigten nun nicht gerade derlei Thesen der Meinungsforscher, Politologen und Parteistrategen. In diesem Fall erwies sich das Alter absolut nicht als Hindernis. Franz Jonas engagierte sich ein Leben lang für eine politische Partei und er hätte wohl niemals ein öffentliches Amt angenommen, für das er nicht auf Grund des Vertrauens seiner Parteifreunde zuerst nominiert worden wäre. Besonders bemerkenswert sind die Eigenschaften, die die Wahlwerbung der Sozialisten für den Sozialisten Franz Jonas auf zeigte: korrekt, bewährt, verläßlich. Wie immer die verschiedenen werbepsychologischen Absichten der Texter dieser Wahlparole gewesen sein mögen: anders oder gar besser hätte man auch nicht für Franz Joseph zu dessen Lebzeiten Propaganda machen können, wäre dieser ein Wahlkaiser und kein Erb- kaiser gewesen.

Es ist ein Paradoxon der österreichischen Innenpolitik, daß die auf dem Boden des Marxismus entstandene politische Partei nicht so sehr das revolutionäre Prinzip als Kennzeichen hat, sondern das der Kontinuität. Seit der Einigung der österreichischen Sozialdemokratie (1888/ 89) kam diese Bewegung mit insgesamt fünf Männern an der Spitze aus: Bis 1918 Viktor Adler, bis 1934 (1945) Karl Seitz, bis 1957 Adolf Schärf, bis 1967 Bruno Pittermann, seither Bruno Kreisky. Nur Pittermann wurde abgewählt, nicht aber aussortiert. Im übrigen galt, was unlängst ein Sozialist angesichts der Vorgänge in der ÖVP sagte: In bürgerlichen Parteien stürzt man in der Krise meistens die Führer, bei uns stützt man sie.

Die einsichtsvollen und vorausblickenden Führer der österreichischen Sozialdemokratie waren keine Revoluzzer oder grobe Klötze. Sie waren eher feine Köpfe. Unter demokratischen Zuständen waren sie nicht darauf aus, den jeweiligen Staat zu zerstören; sie wollten ihre Bewegung, in den Staat tragen, um mit dem Staat die Gesellschaftsordnung bis auf den Grund zu ändern.

In unserer Zeit, in der zuweilen junge Menschen das Wort Anarchis mus mit der gleichen Unwissenheit gebrauchen wie Kriegsmutwillige im Jahre 1914 das Wort Krieg, ist bemerkenswert, was Viktor Adler 1891, auf dem damaligen Höhepunkt des Terrors der Anarchisten, an Friedrich Engels schrieb: Wir sind von einer Sekte oder Horde von Radaumachern zu einer politischen Partdt avanciert, die sich Anerkennung erzwungen hat, mit der man rechnet. Und im letzten Jahrzehnt der Monarchie, als „oben“ und außerhalb des Kreises um den Thronfolger Franz Ferdinand nur noch wenige die Courage hatten, Konzepte für die Zukunft zu verfassen, war es der Sozialdemokrat Karl Renner, der sein handfestes Konzept für die föderalistische Erneuerung des Staates vorlegte. Kurz darauf unternahm es auch der junge Otto Bauer, die Nationalitätenfrage in Österreich vom Standpunkt der Sozialdemokratie zu klären.

In dieser Schule intellektueller Diszipliniertheit und staatspolitischen Denkens wurde Adolf Schärf erzogen. Schärf, der nach 1945 nicht zögerte, die verfehlte politische Taktik einiger seiner Parteifreunde zu tadeln, die in den Krisen von 1927 (Brand des Justizpalastes) und 1933 (Preisgabe der Position des Ersten Präsidenten des Nationalrates) auf eigene Faust handelten. So brachte die zuweilen eher bedächtige Kontinuierlichkeit und nicht die gelegentliche Sprunghaftigkeit die politische Linke in Österreich schließlich an die Spitze. Dem entsprach, daß in der Ersten Republik, jedenfalls nach 1920, die Zahl der Nationalratsmandate von Wahl zu Wahl stieg, um 1930 die aller änderen Fraktionen zu übertreffen. Fast die gleiche Entwicklung stellte sich in der Zweiten Republik ein. Ausnahmen bestätigen nur die Regel: 1949 kostete das mit der Förderung der WdU verbundene Risiko der SPÖ gleich neun Mandate, in den sechziger Jahren kosteten die Fehden mit Franz Olah die Teilnahme an der Regierung.

Standpunkte inmitten von Technokraten

Auch die SPÖ hat längst ihre Spitzenränge den Fachleuten der Rationalisierung und den Technokraten eröffnet. Es wäre aber naiv, zu glauben, Hannes Androsch oder

Leopold Gratz wären in der Ära Kreisky nicht mehr jener strengen Parteidisziplin unterworfen, mit der Kreisky in der Ära Schärf zu rechnen hatte. Mag man zuweilen in Kreisen der SPÖ hören, die Abkürzung BSA (Bund Sozialistischer Akademiker) bedeute „Bund Sämtlicher Andersdenkenden“; auch im Jahr 1971 ist die SPÖ natürlich mehr als eine Interessentengenossenschaft, wie immer man jetzt den Begriff „Sozialismus“ deutet.

Das geistige Profil des österreichischen Sozialismus hat 1971 nicht mehr jene Konturenschärfe, die es zu Lebzeiten Lenins und Trotzkis in der scharfen Auseinandersetzung mit diesen heutigen Idolen der Neuen Linken gewann. Aber die Partei gestattet sich auch im Zeitalter der Technokraten die Kostspieligkeit, nicht nur straff geführte Kader, sondern auch ein lebhaftes, zu Zeiten von Spannungen erfülltes intellektuelles Clearing zu unterhalten. Benedikt Kautsky (t 1960), Sohn des von Kommunisten verteufelten „Revisoni- sten“, eröffnete Ende der fünfziger Jahre mit seiner Einbegleitung zum „Neuen Programm der SPÖ“ eine Variante der Programmdiskussionen.

Karl Czernetz sichert mit der von ihm geleiteten ..Bildungszentrale und mit der Zeitschrift „Zukunft“ Haltepunkte inmitten des modischen Dialogismus. Mit der 1960 erschienenen, Aufsehen erregenden Publikation über das große Unbehagen brachte Fritz Klenner Bewegung in die Selbstgewißheit des Apparates. Josef Hindels geht mit seinem „integralen Sozialismus“ die Sozialpartnerschaft an, der entgegen er Ziele des Klassenkampfes herausstellt. Günther Nenning, vom Parteivorsitzenden als „Wurschtl“ abgekanzelt, kontrolliert die Nahtstelle zwischen SPÖ und Neuer Linken, um bei jedem Gefecht liniengetreu zu den Kadern der SPÖ einzurücken. Und Christian Broda greift nicht nur mit einer theoretisierenden Methode in die Auseinandersetzungen über Demokratie, Parlamentarismus, Rechtsund Freiheitsordnung ein. Das intellektuell geprägte Image und die in Wien unter dem Kulturstadtrat Vizebürgermeister Hans Mandl (t 1970) eröffneten neuartigen kulturpolitischen Aktivitäten verschafften der SPÖ schließlich auch Zugang in Kreise, in denen noch vor einem Jahrzehnt so etwas wie Sozialismus „einfach indiskutabel“ gewesen wäre. Ohne diese Vorgänge wäre das Experiment Kreisky ein Debattengegenstand unter Intellektuellen, Journalisten und Zeitungslesern geblieben.

Die insbesondere zur Zeit der Ersten Republik zirkulierende Redeweise: „In Österreich kann man sich die KP ersparen, man hat ohnedies die radikalste sozialdemokratische Partei in Europa“, vergröbert, typisiert aber richtig. Die Unterscheidungslinie zum Kommunismus, die nach 1917 insbesondere auch Otto Bauer zog, hatte auch ihren Preis für die Österreicher; nämlich den eben genannten.

Noch in den zwanziger Jahren hielten kommunistische Kommentatoren Viktor Adler zugute, er hätte zu seinen Lebzeiten Gegensätze in der Internationale nicht geklärt, sondern verwischt, das heißt: nicht vertieft. In der Tat: Adler ist es 1914 gewesen, der Lenin aus den Händen der österreichischen Exekutive befreite und dessen Ausreise in die Schweiz ermöglichte. Das Vaterland der Werktätigen war nach 1934 nicht nur Exil der geflüchteten Schutzbündler; auch der junge Kreisky reflektierte darauf, als er nach seinem Kampf in der Illegalität vor dem Richter stand. Viktor Adlers Sohn, Friedrich, wäre nach dem Geschmack Lenins ein Mitbegründer der III. Internationale gewesen. Die

Befreiung des jungen Adler aus der Kerkerhaft, in die er gekommen war, nachdem er 1916 den fast blinden, wehrlosen österreichischen Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh ermordet hatte, war 1917 eine der populärsten Forderungen der Revolution in Rußland. Zu Friedrich Adler bekannte sich aber auch die Partei Schärfs, insbesondere nach dem Tod des jungen Adler im Jahre 1960.

Nie wird unter den überlebenden Tatzeugen der Streit über die Formel verstummen, die Otto Bauer 1926 auf dem Linzer Parteitag der SDAP für die Praxis des Bürgerkriegs und der Diktatur zur Annahme brachte: Die Partei der linken Internationale drohte ihren Feinden die Gewaltanwendung an, wenn sich diese etwa auf internationaler Basis einigen würden; und sie drohte für den Fall des Widerstandes mit der Diktatur. Diese Art von Diktatur nannte Julius Deutsch, Mitkämpfer Bauers am 12. Februar 1934, eine „Verteidigung der Demokratie“.

Wenn Kreisky heute von diesen vergangenen Zeiten redet, und das tut er in Wahlkämpfen regelmäßig, dann wendet er wohl mit Recht ein, daß die Erinnerung desjenigen, der damals hinter Gitter kam, von der seines Gegners, der den Kerkerschlüssel in der Hand hatte, sehr verschieden ist Er zeigt die Kehrseite der Medaille her und nennt Faschisten von damals, deren Epigonen und Nachfahren von heute bei Namen. Sogenannte unabhängige Zeitungen schreiben dann von „sentimentalen Erinnerungen“. In der Politik ist Sentimentalität auch für den Erfolgspolitiker kostspielig. Kreisky geht es auch nicht um derartige Erinnerungen an die Vergangenheit. Es geht ihm um eine Klarstellung in der Gegenwart: Sozialisten sind eben bessere und verläßlichere Demokraten. Die alte Linke kann das jetzt nicht oft genug betonen. Gewalt, Aufruhr und Zerstörung sind heute nicht Methoden einer neuen radikalen Rechten, sondern jener Neuen Linken, die von San Franzisko bis zum Eisernen Vorhang ihre Revolution inszeniert. Man weiß, daß die sensationellen Exzesse dieser Neuen Linken der traditionellen nicht nutzen, sondern schaden, wie dies in letzter Zeit in der BRD bei verschiedenen Wahlen evident wurde.

Vom roten Wien zum sozialistischen Österreich

Wer die Macht im Staate will, um mit ihr die Gesellschaftsordnung zu ändern, der ändert mit der Zeit auch den Staat. Im Falle der politischen Linken fing das an, als sie die Republik von 1918 als „ihre Republik“ reklamierte und als sie schon 1923 dazu überging, die Republik gegen die Inhaber der legalen Staatsgewalt mit einem Republikanischen Schutzbund zu verteidigen. Gleichzeitig geschah es 15 Jahre lang in Wien, daß die Bundeshauptstadt der jungen Republik zum „rotenWien“ umfunktioniert wurde, um mit dieser Anpreisung hinter die Auslagenscheibe des internationalen Sozialismus gelegt zu werden. Das ging fort in dem, was man nach 1945 das „Königreich Waldbrunner“ nannte, ein politischer und wirtschaftlicher Autarkiebereich im Staate mit einem Riesenheer öffentlicher Bediensteter, bei deren Anstellung der Ministerrat wenig, das Staatsoberhaupt fast gar nichts mitzureden hatte. Und es geschieht fort mit jener konsequent gehandhabten Methode des „Einfärbens“ der Andersdenkenden; die als Stellenbewerber an sich keine Farbver- kehrer sein möchten; die aber schließlich in dem politisch einfarbigen System ihrer Umgebung untergehen. So etwas wie den Magistrai der Stadt Wien, wo es*zur Ermittlung der Zahl jener höchsten Beamten, die nicht dem BSA angehören, keines Computers, ja nicht einmal der Rechenmaschine eines Erstkläßlers bedarf, sondern der Finger einer Hand, hat es früher nicht einmal auf dem Höhepunkt des Einflusses des CV gegeben.

Geht es um das sozialistische Österreich?

Während des SPÖ-Parteitages 1947 schmückte die Stirnwand des Großen Saales des Wiener Konzerthauses die Parole: Sozialismus das Ziel — Demokratie der Weg. Schon damals entstand bei vielen Menschen die Frage, ob denn am Ziel die Demokratie zu Ende sein solle; und was mit jenen Teilen der Gesellschaft geschehen müßte, die eine derartige Junktimierung von Demokratie und Sozialismus grundsätzlich ablehnen.

Zwölf Jahre nachher (1959) erklärt Kautsky in seinem einleitenden Referat zum Neuen Programm der SPÖ das „alte Wort“, wonach Sozialismus das Ziel, Demokratie der Weg sein soll, gelte nicht mehr. Fortan müsse es heißen: Sozialismus und Demokratie sind ein und dasselbe. Denn: wer die vollendete Demokratie will, der will den Sozialismus. Von der Formelhaftigkeit und Vieldeutigkeit derartiger Texte abgesehen, ergibt die von Kautsky geprägte Formel jedenfalls eines: Die Formel 1959 verabsolutiert den Anspruch der Formel 1947. Das aber gibt der neuen Zielsetzung einen monolithischen und daher unbehaglichen Charakter, der im pluralisti- stischen System systemwidrig ist Dafür ist auch die in der ÖVP gebrauchte Formel kein Trost wonach bei der Verfassung eines neuen Parteiprogramms die darüber entstehende Diskussion vielleicht das Wertvollste ist. In diesem Punkt hält es die SPÖ anders als die ÖVP. Denn für eine sozialistische Partei ist ihr Programm nicht so etwas wie ein Bindemittel zwischen Teilen einer sozial heterogenen Masse der Parteimitglieder und -Wähler; es ist Resultante aus einer nach wie vor recht homogenen Massenpartei mit klarem Unterscheidungsvermögen.

Nach dem halben Erfolg vom 1. März 1970 und nach dem seither zurückgelegten halben Weg ins sozialistische Österreich lockt am 10. Oktober 1971 der ganze Erfolg und das Wegziel. Ein sozialistisches Österreich, das wäre, im Gegensatz zu den am Abend des 1. März 1971 eilfertig verbreiteten Kommentaren, etwas anderes als die fallweise Entlassung oder Auswechslung eines Koalitionspartners (bei Fortbestand der außerparlamentarischen Überlegenheit der politischen Linken). Es geschähe keine bloß quantitative Veränderung, sondern eine qualitative. Oder marxistisch ausgedrückt: Es käme zum „Sprung“. Der Spaß, den jetzt noch führende FPÖ-Poli- tlker am System Kreisky finden: zwingt schwarz raus, zwingt rot rein, macht blau leuchtfrisch — würde wahrscheinlich jenen vergehen, denen dieser Witz vorläufig nur einen Lacher und eine vertane Wahlspende kostet.

Jede politische Bewegung ist letzten Endes so stark, wie eine Kette an der Stelle, wo sie ihr nächstes Glied hat. Auf dem Höhepunkt des äußeren Erfolgs der politischen Linken in Österreich offenbart sich deren Schwäche ausgerechnet an dem bisherigen Schwerpunkt ihrer Machtkonzentration: in Wien. Hier genießt der Sozialismus seit 1919 den fragwürdigen Vorteil, daß seine Gegner grundsätzlich ihre 1-b- Mannschaft ins Rathaus, ihre 1-a- Mannschaft aber ins Parlament schicken. In den Bundesländern gibt es eine derartige Praxis der ÖVP- Landesorganisationen nicht; dort sind Landtag und Geimeinderat der Landeshauptstadt Schwerpunkte. Aber ins Wiener Rathaus schiebt man abgetackelte Größen, unruhige Geister, die sich dort mit einiger Sicherheit „derstößen“ können. So wurde Wien, dessen Verwaltung inmitten der katastrophalen Notverhältnisse 1918/19 von den Christlichsozialen ohne allzugroßen Schmerz den Sozialdemokraten überlassen werden mußte, von der Stätte historischer Aufgaben der zwanziger Jahre bombensicherer Umstand einer kompakten Rathausmehrheit. Diese Mehrheit kann sich alles leisten; sie wird immer wieder gewählt; sie wird so lange immer wieder gewählt werden, bis andere es ernst nehmen werden mit einer Politik für Wien.

Der Qualitätsunterschied zwischen Kreisky und der Präsenz seiner Partei in Wien ist das Maß des Dilemmas der SPÖ von heute. Und so wie dem Wahlkampf der FPÖ das Einmannteam Friedrich Peter das Gepräge geben muß, wird es auch Kreisky .gehen, daß er, so wie zuletzt Raab, mit der Qualität der Persönlichkeit für die Qualität einer Sache bürgen muß.

Nicht die Frage nach dem Goodwill des Systems Kreisky ist gestellt, sondern die nach der künftigen Kapazität der SPÖ. Zu ihrem Rekord gehört eine fast 20jährige Bewährung als Juniorpartner in einer von der ÖVP geleiteten Koalition. Ein vierjähriges Interregnum als Oppositionsfraktion im Nationalrat, während dem sie nicht gerade den in Österreich noch mangelnden Stil der Opposition gefunden hat. Und: eineinhalb Jahre Alleinregierung. Letztere im Widerspruch zu dem in der Ära der Koalition so stürmisch begehrten Modell der klassischen, der angelsächsischen parlamentarischen Demokratie; in einem Nationalrat ohne definierte Opposition, in dem alle vertretenen Fraktionen reihum opponierten; mit einer Regierung ohne die für eine Demokratie typische parlamentarische Basis; mit einer Regierung, die, wie die Opposition, mit dem Majorzsystem unablässig in Konflikt geriet; mit jenem Majorzsystem, von dem sich viele die Sanierung der durch das Proporzsystem korrumpierten Verhältnisse erhofften.

So ergab sich das in der Politik oft versuchte, aber nur von wenigen gekonnte „Spiel mit den drei Bällen“, von denen immer einer in der Luft kontrolliert werden muß, damit er nicht (wie meistens) zu Boden fällt. Die Hoffnung, es würde sich aus dem österreichischen Provisorium 1970/71 eine jener Praktiken entwickeln, die hierzulande oft länger dauern als definitive Lösungen, erfüllte sich nicht; zuletzt hatten alle das Bedürfnis, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

Festen Boden unter den Füßen braucht Österreich gerade nach diesem heißen Sommer 1971, in denn die Ära 1945 zu Ende geht: Zu Ende das nach 1945 gewachsene Bewußtsein, es werde nie wieder so etwas wie die Wirtschaftskrise des Jahres 1929 geben; zu Ende das Bild der zweigeteilten Welt, über das jetzt der ungeheure Schatten Mao Tse-tungs fällt; zu Ende der naive Glaube an einen Amerikanismus, der schließlich den nüchternen US-Bürgem partout zu anspruchsvoll und zu kostspielig .wurde.

Fester Boden, das ist nach Kreiskys eigenen Worten im Optimum: die Mehrheit für seine Partei, die Regierung seiner Partei. Absolute Mehrheit der SPÖ am 10. Oktober 1971 hieße wahrscheinlich ein Rotes Jahrzehnt in den siebziger Jahren. Relative Mehrheit der SPÖ, das heiße vielleicht kleine Koalition links von der Mitte.

Die Zeit, um an den Ball zu kommen, war und ist kurz für die ÖVP.

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