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Herbststurm im Parlament

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Nach der Bekanntgabe des Endergebnisses der Wiener Wahl glaubten viele, daß das Provisorium, das im Sommer durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes entstand, nunmehr vorüber sei. Diese Optimisten haben etwas nicht berücksichtigt: Der labile Zustand, in dem sich die parlamentarische Demokratie in Österreich gegenwärtig befindet, schließt, solange dieser Zustand andauert, „endgültige“ Lösungen, das heißt Lösungen, mit denen sich wirklich regieren läßt, aus. Und so kann die gegenwärtige Situation auch nach der Wahlwiederholung vom 4. Oktober selbst wieder nur als Provisorium bezeichnet werden, als „endgültiges“ Provisorium, wenn man will.

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Nach der Bekanntgabe des Endergebnisses der Wiener Wahl glaubten viele, daß das Provisorium, das im Sommer durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes entstand, nunmehr vorüber sei. Diese Optimisten haben etwas nicht berücksichtigt: Der labile Zustand, in dem sich die parlamentarische Demokratie in Österreich gegenwärtig befindet, schließt, solange dieser Zustand andauert, „endgültige“ Lösungen, das heißt Lösungen, mit denen sich wirklich regieren läßt, aus. Und so kann die gegenwärtige Situation auch nach der Wahlwiederholung vom 4. Oktober selbst wieder nur als Provisorium bezeichnet werden, als „endgültiges“ Provisorium, wenn man will.

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Durch nichts könnte dieser labile Zustand besser charakterisiert werden, als durch den einmaligen Vorfall, der sich am letzten Montag im Wiener Parlament ereignet hat und dessen möglicherweise krisenhafte Folgerungen zur Stunde, da diese Zeilen geschrieben werden, noch nicht abzusehen sind. An diesem 12. Oktober hätte die Präsidialkonferenz des Nationalrates ihre erste Sitzung seit dem Sommer abhalten sollen. Diese Konferenz stellt bekanntlich ein beratendes Gremium des Präsidenten des Nationalrates dar, dessen stets einvernehmlich gefaßte Ubereinkünfte, an denen die Obmänner aller Fraktionen mitwirken, den ordnungsgemäßen Ablauf der parlamentarischen Verhandlungen sichern sollen. Nun hat der geschäftsführende Klubobmann der sozialistischen Fraktion, DDr. Pittermann, vor Beginn der Sitzung dem geschäftsführenden Präsidenten des Hauses Dr. Maleta mitgeteilt, daß er nicht autorisiert sei, an der Sitzung teilzunehmen. Er berief sich dabei auf einen in der Vorwoche gefaßten Beschluß der sozialistischen Nationalratsfraktion, wonach die umstrittene Frage der Angelobung oder Nichtangelobung der 16 wieder- beziehungsweise neugewählten Abgeordneten des Nationalrates sowie die ähnlich umstrittene Frage der Neuwahl oder Nichtneuwahl des Ersten und des Dritten Präsidenten des Nationalrates — deren Abgeordnetenmandate bekanntlich vom Verfassungsgerichtshof ebenfalls aufgehoben wurden — nicht durch die Präsidialkonferenz, sondern durch die Obmänner der drei im Parlament vertretenen Parteien zu klären sei. Die Obmänner des ÖVP- und des FPÖ-Klubs, die Abgeordneten Professor Koren und Peter, haben übereinstimmend erklärt, daß sie sich dieser Auffassung der Sozialisten nicht anschließen könnten. Die gegenständlichen Fragen seien ausschließlich Angelegenheit des Nationalrates. Präsident Maleta sah sich hierauf veranlaßt, die Präsidialsitzung auf unbestimmte Zeit zu unterbrechen. In der Zwischenzeit sollen klärende Gespräche zwischen den Klubs stattfinden. Der Präsident berichtete, einem Ersuchen der Klubobmänner der ÖVP und der FPÖ folgend, noch am selben Tag dem Bundespräsidenten über die entstandene Lage.

Durch die Weigerung der Sozialisten, an der Präsidialkonferenz teilzunehmen, und durch ihren Wunsch, eine strittige Frage, die ausschließlich das Parlament angeht, außer- neu zu wählen seien. Denn, so lauhalb des Parlaments austragen zu tete die Argumentation, zur Sanie-lassen, könnte eine Krise des Pariaments entstehen. Man kann nur hoffen, daß es nicht so weit kommt. Der Parteiobmann der SPÖ, Bundeskanzler Dr. Kreisky, befand sich an diesem Montag in Deutschland Sowohl Dr. Withalm wie der Abgeordnete Peter, die beiden Obmänner von ÖVP und FPÖ, erklärten sich bereit, mit Dr. Kreisky in der Angelegenheit Fühlung aufzunehmen; erste telephonische Kontakte fanden bereits statt. Für die Öffentlichkeit mag die ganze Sache unverständlich und wie ein Sturm im Wasserglas erscheinen. Um die Zusammenhänge einigermaßen zu verstehen, muß man jedenfalls die Vorgeschichte kennen. Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes zwang die österreichische Volksvertretung, in mancherlei Hinsicht verfassungsrechtliches Neuland zu betreten. So entschloß man sich zum Beispiel einvernehmlich, die durch die Aufhebung der Wahl in den drei Wiener Wahlkreisen betroffenen 16 Abgeordnetenmandate als „ruhend“ zu betrachten. Dieser Schritt der Politiker war verfassungsrechtlich umstritten. Es bestand Gefahr, daß Beschlüsse des Parlamentes, wenn später verfassungsrechtliche Zweifel erhoben werden sollten, angefochten werden könnten. Diese Möglichkeit veranlaßte die Volkspartei, sich darauf festzulegen, daß die neugewählten Abgeordneten auf jeden Fall angelobt werden sollten und daß demnach auch die beiden Präsidenten rung angefochtener Gesetze brauche man eine Zweidrittelmehrheit, und so könnte jede Anfechtung unabsehbare Folgen haben. Eine solche Rechtsunsicherheit könne niemand verantworten. Durch die Angelobung der 16 Abgeordneten — unter denen sich übrigens auch ein neuer Mann, der freiheitliche Abgeordnete Doktor Brösigke, und einer, nämlich der ÖVP-Abgeordnete Dr. Neuner befindet, der an Stelle des verlorenen Restmandats nun mit dem von Dr. Klaus zurückgelegten Mandat in das Parlament einzieht — wäre für den Rest der Legislaturperiode jede Anfechtungsmöglichkeit ausgeschlossen.

Es bleibt die Frage, warum gerade die Sozialisten sich auf so spektakuläre Weise — einer Präsidialsitzung ist bisher noch kein Fraktionsobmann ferngeblieben — die rechtlich umstaiititene „Ruhens-Theorie“ zuiei-wn rnacMpm Hierüber eiht «s vortersit nur Vermutungen. Die Angelobung selbst dürfte außer Streit stehen. Ebenfalls die Frage der Wiederwahl von Dipl.-Ing. Waldbrunner zum Präsidenten des Nationalrates. Denn an der Tradition, wonach die mandatsstärkste Partei den Präsidenten stellt, rüttelte niemand, und an dieser Wahl bestand nicht der geringste Zweifel. Dasselbe galt „bis zur Stunde“ auch für die Wahl des Dritten Präsidenten. Es gab nach dem 1. März zwischen SPÖ und ÖVP eine Ubereinkunft, wonach der Abgeordnete Otto Probst zum Dritten Präsidenten des Nationalrates zu wählen ist. Die Freiheitlichen favorisierten hingegen ihren Kandidaten, den Abgeordneten Zeillinger. Nun scheint in der SPÖ die Befürchtung entstanden zu sein, daß die ÖVP nunmehr geneigt wäre, als eine Art Vorschußleistung für die erstarkte FPÖ den Kandidaten der dritten Partei zum Dritten Präsidenten zu wählen. Das ist eine Vermutung und nicht mehr, denn bisher gab es dazu weder Erklärungen noch sonstige Anhaltspunkte.

Der ungewöhnliche Schritt der SPÖ-Fraktion zielt jedoch möglicherweise tiefer. Das Parlament ist gegenwärtig ohne regierungsfähige Mehrheit und ist daher nicht imstande, echte Regierungsentscheidungen zu treffen. Es mag zwar stimmen, daß der angekündigte Versuch der Minderheitsregierung Dr. Kreisky, für ihre Gesetzesvorlagen von Fall zu Fall eine Mehrheit zu suchen, wie sozialistische Politiker gerne betonen, den parlamentarischen Raum „beleben“ würde. Aber diese Art von Aktivität kann leider kaum zu tauglichen Sachentscheidungen, umso mehr jedoch zu opportunistischen, von taktischen Erwägungen geleiteten Lösungen führen. Österreich braucht aber dringend bestmögliche Regierungsentscheidungen — es genügt, allein an das Budget zu denken, dessen Bedeutung für das Schicksal der allermeisten Österreicher wohl unbestritten sein dürfte —, und so wäre eigentlich zu hoffen, daß der gegenwärtige ungesunde Zustand nicht allzu lange dauert. Noch einmal zurück zum Endergeb-rus der Wiener Nachwahl: Die nunmehr endgültige Mandatsverteilung Sl:78:6 und der anteilsmäßige Gewinn der Sozialisten verstärkte das Selbstvertrauen sowohl der SPÖ wie auch der FPÖ. Aber während die FPÖ für sich die Folgerung ableiten dürfte, ihre „Traumrölle“ als Zünglein an der Waage so lange wie möglich fortzusetzen — jeder Eintritt in eine Koalition könnte für sie nur eine Schwächung, wenn nicht Gefahren (siehe Bonn!) bringen —, kann sich die SPÖ aus diesem Wahlergebnis ernste Chancen zur Erringuni der absoluten Mehrheit errechnen Und so — Verhandlungsbereitschafl hin, Verhandlungsbereitschaft her — hätte Dr. Kreisky Grund, auf baldige vorzeitige Neuwahlen hinzuarbeiten und zwar mit oder ohne die angekündigte Wahlrechtsreform. Die bisherigen Äußerungen zum Budget, ar dessen Grundsätzen „nicht gerüttelt' werden dürfe, und zur Wehrdienst Zeitverkürzung, deren Ablehnung in der von der Regierung vorgelegten Form zum Regierungsrücktritt füh ren müsse, lassen vieles offen. „Laßt Kreisky und sein Team arbeiten! Mit diesem am 4. Oktober bewährten Slogan ließe sich gut weiteroperie ren. Wenn die Parteien nicht einmal die Hürde der Präsidialkonferenz einvernehmlich nehmen können während die Liste der von der Re gierung gewünschten Verhandlungs gegenstände für die Herbsttagung des Nationalrates beängstigende Ausmaße annimmt: ist das nicht ein Glied in der Beweiskette, wonach die „anderen“ die Minderheitsregierung nicht arbeiten lassen? ...

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