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Wolken über dem Fjord

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Wenige Monate vor dem Zeitpunkt der nächsten Reichstagswahl rast in diesem langgestreckten, felsigen und zerklüfteten Land ein erbarmungsloser Wahlkampf, der an die Politiker und Wahlhelfer aller Parteien große Anforderungen stellt. Auffallend viele Norweger haben die Maske der kühlen, Uninteressjertheiit abgestreift und entpuppen sich als fanatische Parteigänger. Seit dreißig Jahren ist nun die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Norwegens an der Macht, seit zwanzig Jahren trägt Einar Gerhardten die Verantwortung der Regierungsführung, und nun deutet so manches Zeichen darauf hin, daß er im Dienst seiner Partei in seinem letzten und schwersten Wahlkampf verbraucht werden wird!

Man braucht nicht lange mit einem sozialdemokratischen Politiker zu reden um zu erkennen, daß die Partei mit düsteren Ahnungen in diese Wahl geht. Seit fast vier Jahren befindet sich Gerhardsens Regierungsmannschaft in einer sehr labilen Situation. Die Wahl vom 11. September 1961 gab der Partei 74 Mandate, der bürgerlichen Opposition ebensoviel, zwei Sitze eroberte die Sozialistische Volkspartei, die von einer Gruppe Linksintellektueller geführt wird, die man aus der Arbeiterpartei ausgeschlossen oder auf andere Weise hinausgedrängt hat. Die Meinungsverschiedenheiten betrafen teils die Industrialisierungspolitik der Regierung, teil.'? das NATO-Engage-ment Norwegens. Die NATO-Treue der Arbeiterpartei kostete ihr die Majorität im Stortinget. Eine Regierung, die keine Mehrheit im Parlament hat und keinen Weg zu einer der oppositionellen Parteien findet, hat es immer Schwei-, . in Norwegen bedeutet eine solche Situation ein pausenloses zermürbendes Lavieren zwischen hundert Klippen. Im August 1963 rannte das Regierungsschiff auf edne dieser Klippen, und Norwegen hatte plötzlich.— mag sein nur unter vier Wochen — eine bürgerliche Regierung. Die zwei Volkssozialisten, die Gerhardsens Mannschaft aus der Staatskanzlei hinausgeworfen hatten, holten dieselbe Mannschaft im September 1963 wieder dorthin zurück! Das eine war so beschämend für die Arbeiterpartei wie das andere. Im Grunde genommen hat sich Gerhardsens Regierung von dem Schock im August 1963 nicht mehr erholt, und vieles von der jetzt herrschenden Unsicherheit ist auf das kurze bürgerliche Zwischenspiel in der Staatskanzlei zurückzuführen.

Gerhardsen und die Thronfolger

Bei Staatsmännern, die sich sehr lange im Amt befunden haben, und

besonders bei jenen, die unter sehr kritischen Epochen amtiert haben, ist die Frage der Nachfolge immer eine sehr schwere, von Emotionen belastete und manchmal auch eine peinliche Angelegenheit. Jeder politisch Interessierte kennt einige hierher gehörende Beispiele. Von Einar Gerhardsen, heute .68 Jahre alt, kann gesagt “werden, daß er'*als“Pbllttkei' und Staatsmann in allen'',prJh'tis<:hen Kreisen und auch in den Nachbarländern hohes Ansehen genießt. Vergleiche mit Kollegen in anderen skandinavischen Ländern fallen durchaus nicht zum Nachteil Gerhardsens aus: Der ehemalige politische Gefangene ist ein ehrlicher Sozialist, ein guter Demokrat und ein pflichtbewußter Staatsmann. Doch er ist keine Kraftnatur und brachte nicht die Robustheit auf, Regierungsmitglieder, deren Mangel an Qualifikation offensichtlich geworden war, rechtzeitig auszubooten. So kam es zu dieser peinlichen Geschichte um das Grubenunglück auf Spitzbergen,

das ziemlich eindeutig auf mangelhafte Pflichterfüllung des zuständigen Ministers zurückgeführt werden konnte und das in der jetzigen Wahlkampagne immer noch eine Roll spielt. Diese berüchtigte „Kings-Bay-Affäre“ bedeutete für den Sozialisten Gerhardsen auch persönlich einen harten Schlagr-j^denn schließlich mußte ja er die Verantwortung dafür-tragen, daß durch die SchTarn'--' perei anderer eine ganze Anzahl von Grubenarbeitern ums Leben gekommen war.

Gerhardsen hatte bereits vor zwei Jahren die Absicht, die Führung der Partei abzugeben. Damals ließ er sich dazu überreden, zu bleiben. Nun hat er von neuem mitteilen lassen, daß er nicht mehr in die Führung der Partei gewählt werden will, starke Kräfte wirken jedoch dafür, daß er Zumindestens noch den Wahlkampf als Spitzenkandidat der Partei führe und — wenn alles gut ausgeht — noch ein oder zwei Jahre Staatsminister bleibe. Dafür allerdings sind die Aussichten in den letzten Wochen immer geringer geworden. Möglicherweise wird Gerhardsen zu spät erkennen müssen, daß er denselben Fehler gemacht hat wie so mancher andere „große alte Mann“, nämlich den rechten Zeitpunkt des Rücktrittes zu verpassen.

Als Gerhardsens Nachfolger wird seit fünf oder sechs Jahren Trygve Bratteli angesehen, der allerdings jetzt auch schon 55 Jahre alt ist. Bratteli wird als der große Theoretiker der Partei angesehen, er ist zweifellos ein Mann von großer Bildung und umfassenden Kenntnissen aus allen Bereichen der Politik. Mit ihm würde die Partei einen sehr reifen und ernst zu nehmenden Führer erhalten, nur: Bratteli ist eher der Typ eines Gelehrten und keineswegs ein volkstümlicher Redner. Es gibt deshalb auch Sozialdemokraten, die lieber den jetzigen Sozialminister Olav Gjaerevold auf den Schild heben möchten, der eher den landläufigen Vorstellungen von einem Arbeiterführer und Volksredner entspricht.

Die Argumente der Opposition

Der Regierung wird vor allem vorgeworfen, daß sie die pausenlosen Preissteigerungen nicht zu hindern vermochte, ja nicht einmal einen ernsthaften Versuch dazu gemacht hat. In dieser Beziehung ist nun Gerhardsens Regierung keineswegs fahrlässiger gewesen als etwa die Arbeiterregierung im benachbarten Schweden, die, unter wesentlich günstigeren Verhältnissen arbeitend, eine jährliche Geldwertverschlechterung von 5% zuläßt. Doch eine Erscheinung, die von den gleichmütigen

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