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Bevormundung durch die Partei

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Die Jahre der Unterdrückung Österreichs von 1938 bis 1945 haben in der Bevölkerung den Staatswillen erfreulich gestärkt und die Parteien veranlaßt, den Wiederaufbau Hand in Hand anzugehen. Der Erfolg war durchschlagend, doch beruhte die Gemeinsamkeit im wesentlichen auf gemeinsamen Leiden und Verfolgungen. Es ist unvermeidlich, daß solche Erinnerungen mit der Zeit verblassen.

Der Zustand, dem wir zusteuern, ist eine verschleierte Oligarcbie, deren bedenkliche Rückwirkungen auf das österreichische Staatsbewußtsein sich nicht nur in gelegentlichen Zeitungsnachrichten usw., sondern vor allein in der politischen Interesselosigkeit breiter Kreise zeigen. Man kann — ohne Schaden für das Allgemeinwohl — einem Kulturvolk nicht dauernd verwehren, seine Abgeordneten selbst zu wählen. Die heutige parteiobrigkeitliche Bevormundung ist unhaltbar, mag sie auch vorübergehend vielleicht notwendig gewesen sein. Dagegen muß das Verhältniswahl-recht uneingeschränkt bleiben: Ein Weg, hierbei die freie und direkte

Wahl zu ermöglichen, sei nun zur Diskussion gestellt.

Nicht nur ein Stimmzettel

Im Wesen jeder direkten Wahl liegt es, daß Personen und nicht Parteien gewählt werden; freie Wahl heißt, daß der Wähler hierbei keinem Zwang, auch nicht dem einer Liste, unterworfen ist. Personenwahl bedeutet, daß die für eine bestimmte Person abgegebenen gültigen Stimmen nur für sie zählen, daß also Stimmenüberschüsse unverwertbar sind. Heute gibt der Wähler einen Stimmzettel ab, gleichgültig, ob im Wahlkreis drei oder mehr Abgeordnete zu wählen sind. Könnte man nicht von dem Gedanken ausgehen, daß der Wähler so viele auf wahlwerbende und wählbare Personen läutende Stimmzettel abgeben darf, als Abgeordnete im Wahlkreis zu wählen sind? Er müßte dabei ganz frei sein, soll alle oder mehrere Stimmen demselben Bewerber zuwenden dürfen

— was dem Gedanken des Verhältniswahlrechtes Rechnung trägt —, aber auch befugt sein, Bewerber verschiedener politischer Anschauungen zu wählen; nur darf er nicht mehr Stimmzettel abgeben, als ihm zusteht.

Praktisch würde dies bedeuten, daß jeder Wähler so oft wählt, als Abgeordnete zu wählen sind; daß er bei der Entscheidung, wen er wählt, nicht daran gebunden ist, wen er gleichzeitig noch wählt; daß daher auch alle oder mehrere seiner Stimmzettel auf den gleichen Namen lauten können. Diese für ein Verhältniswahlrecht notwendige Elastizität vermag nun allerdings

— auf den ersten Blick — Schwierigkeiten mit sich zu bringen, zu deren näherer Erklärung zwei Ausdrücke dienen mögen: Die Zahl der Wähler, die in einem Wahlkreis gültig gewählt haben, sei als „Grundzahl“, die Zahl der im Wahlkreis abgegebenen gül-

tigen Stimmzettel als „Gesamtstimmenzahl“ bezeichnet. Diese wird meist das Produkt aus Grundzahl und Mandatszahl sein, sofern nicht einzelne Stimmzettel eines Wählers ungültig sind oder einzelne Wähler weniger Stimmzettel in das Wahlkuvert stekken, als sie dürften.

Handelt es sich zum Beispiel um fünf Abgeordnete, so ist die Gesamtstimmenzahl gleich oder nur wenig geringer als die fünffache Grundzahl. Daraus ergibt sich, daß theoretisch — bei sehr geringer Zersplitterung und sehr gleichmäßiger Verteilung der Stimmen auf die bevorzugten Kandidaten — neun Bewerber die halbe Grundzahl erreichen könnten. Da dies freilich nur möglich wäre, wenn alle Splitterstimmen und Stimmenüberschüsse zusammen weniger als die halbe Grundzahl betragen, ist ein solches Ergebnis ganz unwahrscheinlich. Auch damit, daß acht Bewerber auf die halbe Grundzahl kämen, wird man kaum zu rechnen brauchen; für sieben oder sechs wäre es freilich denkbar. Entscheidend ist das Ausmaß der Stimmenzersplitterung und der auf erfolgreiche Bewerber entfallenden Stimmenüberschüsse, die ja für keinen anderenj zählen. Es kann daher auch sein, daß nicht einmal fünf Bewerber auf die halbe Grundzahl kommen.

Das hier gewählte Beispiel für einen „Fünfer“wahlkreis ändert sich etwas in den praktischen Wahrscheinlichkeiten, wenn mehr oder wenn weniger Abgeordnete zu wählen sind. Bei geringerer Zahl, das heißt in einem „Dreier“- oder „Vierer“wahlkreis, ist ernstlich damit zu rechnen, daß nicht drei bzw. vier Bewerber die halbe Grundzahl an Stimmen erreichen. Je größer der Wahlkreis dagegen, je mehr Abgeordnete also auf ihn entfallen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß zu viele Bewerber Erfolg haben. Diese Gefahr eines Zuviel oder Zuwenig dürfte wohl seinerzeit mit ein Grund für den Listenzwang gewesen sein.

Reihung nach den erlangten Stimmen Daraus ergibt sich zunächst, daß die halbe '. Grundzahl ungeeignet ist, als Maßstab für die Erlangung eines Mandats zu dienen. Man wird vielmehr die Bewerber nach der Zahl der erlangten Stimmen reihen und — vom obersten beginnend —so viele als „gewählt“ ansehen müssen, wie der Zahl der zu vergebenden Mandate entspricht; die folgenden wären Ersatzmänner. Sie hätten nach ihrer arithmetischen Reihung nachzurücken und nicht darnach, welcher Parteirichtung derjenige angehört hat, dessen Mandat freigeworden ist. Eine gewisse Untergrenze an Stimmen müßte aber sowohl für die Gewählten (zum Beispiel 40 Prozent der Grundzahl) als auch für die Ersatzmänner (zum Beispiel 20 Prozent) gefordert

werden. Sehr zu empfehlen wäre in größeren Wahlkreisen — mit mehr als fünf oder sechs • Abgeordneten — eine Verringerung der den einzelnen Wählern zugestandenen Stimmen, wodurch die Verhältniswahl ja nicht beeinträchtigt wird. Zwei Beispiele mögen es verdeutlichen: Dürfte in einem ,,Siebener“wahlkreis jeder Wähler nicht sieben, sondern nur sechs Stimmen abgeben, so wäre die Gesamtstimmenzahl nicht das Vierzehnfache, sondern bloß das Zwölffache der halben Grundzahl; bei Berücksichtigung der Stimmenzersplitterung und der Stimmenüberschüsse hätten wohl höchstens acht Bewerber die Wahrscheinlichkeit, an Stimmen etwa die halbe <Grundzahl auf sich zu ziehen. Ähnlich dürfte sich in einem „Neuner“wahl-kreis die Begrenzung der dem einzelnen Wähler zugestandenen Stimmen mit sieben auswirken. (Gesamtstimmenzahl das Vierzehnfache der halben Grundzahl bei neun zu wählenden Abgeordneten.) Daß die Verringerung der zugestandenen Stimmen überdies auch einer Zersplitterung irgendwie entgegenwirkt, möge nicht unerwähnt bleiben.

Schließlich wäre zu erwägen, ob die Wahlordnung nicht vorsehen sollte, daß bei sehr wenig zersplittertem Wahlergebnis dem Wahlkreis, je nach Größe, 1 bis 2 Mandate mehr zuzubilligen sind, wobei die Ersatzmänner erst nachrücken, wenn dieses „Plus“ aufgebraucht ist.

Umgekehrt sollte für den Fall, daß zwischen dem vorletzten und dem letzten zu besetzenden Mandat ein starker .Stimmenabstand vorhanden ist (eine sichtliche Zersplitterung eintritt), im Wahlkreis dieses letzte Mandat unbesetzt bleiben. Ist die Zersplitterung größer, das heißt betrifft sie zwei oder

mehr Mandate, käme nur eine nochmalige Wahl in Frage, die a 11 e Mandate umfassen müßte (des Verhältniswahlrechtes wegen).

Um hierbei einer neuerlichen Stimmenzersplitterung vorzubeugen, hätte die Wahlordnung zu verfügen, daß nur noch jene Bewerber wählbar sind, die einen bestimmten Mindestprozentsatz der Grundzahl erhalten haben, doch \ sollte ihre Anzahl auf höchstens das Dreifache der im Wahlkreis zu wählenden Abgeordneten beschränkt sein.

Die Vorteile

Durch solche Maßnahmen dürfte den früher erwähnten Schwierigkeiten erfolgreich begegnet werden können. Die Hauptgedanken der angeregten Reform seien wie folgt zusammengefaßt: Personenwahl an Stelle einer Parteiliste; Beibehaltung des Verhältniswahlrechtes dadurch, daß der Wähler (fast) so viele Stimmzettel, als Abgeordnete zu wählen sind, abgeben darf — auch für denselben Bewerber; gewählr ist in Reihenfolge der erhaltenen Stimmen, bis zur Erreichung der Mandatszahl, wer den vorgesehenen Mindestprozentsatz an Stimmen erlangt hat; die nichtgewählten Bewerber rücken in arithmetischer Reihenfolge als Ersatzmänner nach, doch gilt auch für sie die Voraussetzung eines — bescheideneren — Mindestprozentsatzes; kein zweites Ermittlungsverfahren und keine Stichwahlen; ein offengebliebenes Mandat bleibt unbesetzt; sind zwei oder mehr Mandate offen, wird die Wahl zur Gänze wiederholt, wobei die Wahlordnung die Bewerbungen einschränken soll; die Wahlwerber dürfen einer Partei angehören oder sich ihr anschließen, kandidieren aber persönlich; eine Zurechnung von Stimmenüberschüssen an andere Bewerber ist unzulässig.

Wirklich frei und direkt

Sicherlich müßten sich die Staatsbürger erst an ein derartiges neues Wahlsystem gewöhnen, das daher wohl einer Erprobung bei kleineren Wahlen bedürftig erscheint. Dem Einwand, es sei zu kompliziert und mute dem Wähler zuviel zu, soll allerdings vorweg begegnet werden: So unintelligent ist nämlich der österreichische Wähler keineswegs, daß er nur Parteilisten in die Urne werfen kann; freilich wird es entsprechender Erläuterungen und Anleitungen bedürfen.

Was wär£ nun mit dem neuen Wahlsystem gewonnen? Vor allem eine Demokratie, in der das Volk frei und direkt seine Abgeordneten wählt, die — sonst unabhängig — nur ihm über ihr Tun und Lassen verantwortlich wären und die darum ihre Wähler viel eingehender informieren müßten. Überraschende Gesetze würden kaum beschlossen, heikle, aber dringende Fragen könnten nicht so leicht auf die lange Bank geschoben werden. Vielleicht käme es sogar ein oder das andere Mal zu einer Volksabstimmung. All dies würde das Interesse der Staatsbürger an den Fragen des öffentlichen Lebens wieder wachrufen, und dieser Gewinn wäre besonders wertvoll. Auch werden sich die Abgeordneten bemühen müssen, den Wählern Maßnahmen, die zwar nicht sehr angenehm, aber eben notwendig sind, zu erklären und verständlich zu machen.

Wie schon betont, handelt es sich um einen zur Diskussion gestellten, sicherlich verbesserungsfähigen Vorschlag. Aber das ändert nichts daran, daß eine gründliche Reform im Interesse unserer Heimat unvermeidlich geworden ist.

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