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Wieder frei und direkt wählen!

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Als im Frühjahr 1919 die Wahlen in die konstituierende Nationalversammlung nach dem Listenwahlrecht erfolgten — bei dem es bis heute geblieben ist — war eine Errungenschaft verlorengegangen, um die Österreichs Völker, besonders die breiten Schichten, zwei Generationen hindurch gerungen hatten: das freie und direkte Wahlrecht. Das Jahr 1906 hatte endlich dieses langersehnte allgemeine, gleiche, geheime, freie und direkte Wahlrecht gebracht; aber nur zweimal, 1907 und 1911, wurde der österreichische Reichsrat nach diesen Grundsätzen gewählt, und die Abgeordneten bezeichneten sich damals gerne als „frei gewählte“ Abgeordnete. Nun steht die Parteiliste des Verhältniswahlrechtes einer freien und direkten Wahl im Wege: Gewählt wird die Partei, und diese bestimmt, wer auf die Liste gesetzt wird und in welcher Reihenfolge. Auch die Freiheit der Wahl ist empfindlich beschränkt, da der Wähler nach den geltenden Wahlordnungen nur einer Partei seine Stimme zuwenden darf und deshalb für jene Kandidaten stimmen muß. die auf der betreffenden Liste stehen; Streichungen, Umreihungen 1 usw. sind wohl erlaubt, aber praktisch ohne Bedeutung. Sich etwa gar aus verschiedenen Parteilisten des betreffenden Wahlkreises jene Kandidaten auszusuchen, die der Wähler gerne im Nationalrat bzw. Landtag sähe, ist ihm — bei Strafe der Ungültigkeit seines Stimmzettels — untersagt. So weit reicht das Recht des Volkes, von dem laut Artikel 1 der Bundesverfassung alles Recht im Staat ausgeht, nun eben doch nicht.

Es soll hier keineswegs nur Kritik geübt werden. Die innerpolitische Stabilität erforderte (nach dem Wegfall der ausgleichenden Funktion der Krone) dringend das Verhältniswahlrecht; nur ihm ist es zu danken, daß die schlimmen Jahre bis 1924 überstanden wurden. Das Bestehen bewaffneter Verbände rechts und links zeigte deutlich genug die Sorge beider Gruppen vor einer parlamentarischen Ma-jorisierung. Daß es im Parlament hierzu nicht kam — die äußerst knappe Mehrheit der jeweiligen Regierung forderte gebieterisch immer wieder inoffizielle Verständigung mit der fast gleichstarken Opposition —, ist dem

Verhältniswahlrecht zu danken. Daß es ein Listenwahlrecht war, kann der damaligen Zeit, die keine andere Spielart kannte und brennendere Sorgen hatte als eine besser Form zu suchen, wahrlich nicht vorgeworfen werden.

Immerhin zeigten sich schon Ende der zwanziger Jahre gewisse Schattenseiten; es begann jene Politikergeneration allmählich abzutreten, die ihre Mandate noch im persönlichen Wahlkampf errungen hatte und sich dabei ihrer Verantwortlichkeit gegenüber den Wählern bewußt geworden war. So ist es wohl kaum ein Zufall, daß mit dem weitgehenden Dahinschwinden dieses Bewußtseins die innere Aushöhlung der Demokratie erschreckend fortschritt.

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