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Erbe und Sendung des Parlaments

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Die Geschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ist erfüllt vom Siegeszug der Demokratie. Auch unser Staatswesen begeht dieser Tage das Gedenken an ein entscheidendes Ereignis seiner Geschichte: Am 17. Juni jährt sich zum 50. Male der Tag, an dem erstmals im Wiener Parlamentsgebäude eine aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgegangene Volksvertretung zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammentrat. Mit der Einführung dieses Wahlrechtes schien die Demokratisierung des damaligen Abgeordnetenhauses erreicht, dem ja im Herrenhaus gemäß der Verfassung der österreichisch-ungarischen Monarchie noch immer ein aristokratisches Element gegenüberstand.

Es ist eine weitverbreitete Meinung, daß Demokratie und Parlamentarismus unbedingt miteinander Zusammenhängen. Diese Auffassung ist jedoch weder historisch noch staatsrechtlich zutreffend: So trug zum Beispiel das englische parlamentarische Regierungssystem seit seiner Begründung bis weit in das 19. Jahrhundert einen ausgesprochen aristokratischen Charakter. Oder das Beispiel der österreichischen Geschichte: Das Abgeordnetenhaus wurde von 1861 bis 1873 von den Landtagen gewählt; es bestand bis 1907 aus den vier Kurien der Grundbesitzer, der Handels- und Gewerbekammern, der Stadtgemeinden und der Landgemeinden. Das Wahlrecht war für den Grundbesitz von einem bestimmten Ausmaß desselben abhängig, bei den Handels- und Gewerbekammern vom Besitz eines entsprechenden Geschäftsunternehmens, bei den Stadt- und Landgemeinden von einem Mindestsatz an Steuerleistung. Auch ein solches Parlament - wenn es schon nicht einen ausgesprochen aristokratischen Charakter besaß — setzte sich naturgemäß nur aus Vertretern einer Oberschicht der Bevölkerung zusammen.

Im Laufe der historischen Entwicklung wurden allerdings Parlamentarismus und Demokratie derartig miteinander verbunden, daß sie heute fast als gleichbedeutend gelten. Gerade dadurch aber erscheinen die geistesgeschichtlichen Wurzeln ihrer Entwicklung so verfälscht, daß es immer schwerer wird, aus dem Wesen dieser beiden staatsrechtlichen Erscheinungen prinzipielle Schlüsse auch auf die politische Situation unserer Zeit zu ziehen.

Zu jeder echten Demokratie gehört eine Reihe von Identifikationen: zum Beispiel die immer wieder betonte Gleichheit von Regierenden und Regierten (Volkssouveränität), die Identität des Volkes mit seiner Repräsentation, die Identität des Quantitativen (Mehrheitsbeschlüsse) mit dem Qualitativen (Richtigkeit solcher Beschlüsse, so daß sie mit Gesetzeskraft ausgestattet werden) usw. Niemals kann es sich dabei um eine volle Wirklichkeit handeln; denn die Regierenden befinden sich den Regierten gegenüber immer in der Minderheit; über den Wert von Mehrheitsbeschlüssen hat sich schon Schiller mit dem Hinweis darauf, daß Verstand gewöhnlich nur bei wenigen Menschen vorhanden sei, abfällig geäußert usw. Es handelt sich also in Wirklichkeit nicht um reale Gleichheiten, sondern um bewußte Gleichsetzungen, ohne die aber das ganze System der modernen Demokratie sinnlos wäre.

Innerhalb dieses Systems ist das Parlament an sich noch keine zwingende Notwendigkeit. Denn auch die Ueberlegung, daß eigentlich das Volk in seiner Gesamtheit entscheiden sollte, weil dies aber aus praktischen Gründen unmöglich sei, helfe man sich durch das Repräsentativsystem — selbst diese Ueberlegung führt nicht zwingend zum Parlamentarismus des späten 19. und 20. Jahrhunderts. Wenn aus praktischen Gründen statt des Volkes die vom Volk gewählten Repräsentanten regieren sollen, so könnte im Namen desselben Volkes auch ein einziger Vertrauensmann entscheiden und diese Argumentation würde — ohne aufzuhören, demokratisch zu sein — ebenso einen antiparlamentarischen Cäsarismus rechtfertigen können. Aber gerade gegen diese Herrschaft eines einzelnen hat sich der Parlamentarismus entwickelt: fast alle Parlamente entstanden als eine die Monarchie einschränkende Institution, ohne deswegen demokratisch im heutigen Sinn gewesen zu sein; parlamentarische Körperschaften wurden zunächst aus den Mächtigen des Reiches nach ständisch-feudalen Grundsätzen gebildet. Dies war nicht nur eine politische Praxis, sondern die gesamte Lehre von der Volkssouveränität befürwortete anfänglich die Verkörperung des Volkes durch einen ausgewählten Teil desselben (die Meliores usw.). Von einer Forderung, daß die Gesamtheit des Volkes an den staatlichen Entscheidungen oder wenigstens an der Bestellung der staatlichen Obrigkeit beteiligt sein müßte, war zu Beginn der Entwicklung des Parlamentarismus nicht die Rede.

Die wahre Grundlage des modernen Verfassungsstaates liegt in der Weltanschauung des Liberali s m u s : in dem Glauben an die freie Konkurrenz, aus der sich die bestmögliche Harmonie ergebe, in der Forderung nach größtmöglicher Freiheit usw. Der Wirtschaftslibcralismus war 1a nur ein, wenn auch der bekannteste, Anwendungsfall des allgemeinen liberalen Prinzips. Wird erst einmal die zentrale Bedeutung des liberalen Systems für den Verfassungsstaat der Neuzeit erkannt, so erhalten die charakteristischen politischen Forderungen und Institutionen unseres staatlichen Lebens ihre richtige Sinndeutung; unter anderem eben auch der Wert des Parlaments, das Postulat der Oeffent- lichkeit des politischen Lebens, die Gewalten- 1 teilungslehre usw.

Im Parlamentarismus verbindet sich die Ueberzeugung vom Wert öffentlicher Diskussion mit dem Glauben an das Prinzip der freien Konkurrenz, aber auch mit der Forderung nach Balancierung der verschiedenen Staatstätigkeiten. Unter dem suggestiven Einfluß der Lehre Montesquieus hat man sich daran gewöhnt, immer nur die Gewaltentrennung im Rahmen der staatlichen Funktionen nach Gesetzgebung, Exekutive und Justiz zu sehen. Das Parlament sollte aber nicht nur ein Glied dieser Balance, sondern auch an sich wieder ausbalanciert sein. Eine Opposition gehört zum Wesen des Parlaments, ebenso die gegenseitige Kontrolle zweier Kammern usw. Diese Negierung aller Machtkonzentration sowie die Forderung nach Oeffentlichkeit der, Meinungsbildung — die durch verfassungsmäßig garantierte Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Freiheit der Presse usw. ermöglicht wird — sind die Grundpfeiler des politischen Systems des Liberalismus. Seine Vollendung findet dieses System eben im Parlamentarismus, durch den die verschiedenen Meinungen in freie Konkurrenz treten können und die Beschlüsse im Wege des Parlamentierens, also durch Abwägen von Argument und Gegenargument, gefaßt werden. Allerdings kann sich diese Ausbalancierung der Meinungen — vertreten durch die im Parlament vorhandenen Parteien — konsequenterweise nur auf relative Wahrheiten erstrecken, niemals aber zum Beispiel auf absolute Fragen der Weltanschauung; kontradiktorische Gegensätze heben den Parlamentarismus auf, der ja gleich der Demokratie eine gemeinsame, nicht weiter diskutierbare Grundlage voraussetzt, und zwar in erster Linie den Glauben an den Wert der freien Konkurrenz auch im politischen Leben sowie die Freiheit des einzelnen!

Die Problematik unserer gegenwärtigen Situation scheint nun vor allem darin’zu liegen, daß sich die Wirklichkeit des parlamentarischen und parteipolitischen Lebens nach allgemeiner Ueberzeugung von den erwähnten Prinzipien immer weiter entfernt hat. Zunächst fällt auf, daß sowohl im wirtschaftlichen wie im politischen Bereich Entwicklungen einsetzten, die dem liberalen Prinzip der freien Konkurrenz diametral entgegengesetzt sind; waren es in der Wirtschaft die Kartelle, die Riesenkonzerne mit marktbeherrschender Monopolstellung usw., die den vom Liberalismus erstrebten Spielraum der freien Konkurrenz immer mehr einengten, so sind es im politischen Bereich die Massenparteien unserer Zeit, die mit den politischen Formen des Liberalismus kaum mehr in Einklang zu bringen sind. Während man jedoch auf wirtschaftlichem Gebiet in Theorie und Praxis über die Anschauungen des Hochliberalismus längst hinweggeschritten ist, ohne freilich deswegen die bleibenden Werte einer freien Konkurrenz, eines verantwortungsbewußten Unternehmertums usw. über Bord zu werfen, waren die Völker in der Weiterbildung und zeitgemäßen Anpassung der Formen ihres staatlichen Lebens weniger erfolgreich.

Es sei hier nur daran erinnert, daß die meisten Verfassungen zum Beispiel noch immer das Prinzip des freien Mandates vertreten; auch die österreichische Bundesverfassung bestimmt: „Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden”, obwohl ja die Praxis des Klubzwanges, aber auch die stetig voranschreitende Entwicklung der politischen Parteien zu festen Interessengemeinschaften diese Verfassungsbestimmung geradezu aufheben. Der einzelne Abgeordnete kann heute als unter Klubzwang stehender Interessenvertreter gar nicht mehr jener freie V lt®r t|r r spin,;als w Jchena ijjf die liberale ‘ Theorie seinerzeit “ansah. Dies ist nur ein Beispiel für die uns tagtäglich begegnende Erscheinung, daß in den meisten modernen Demokratien — also keinesfalls nur in Oesterreich — zwar gewisse historisch gewachsene Formen rein äußerlich gewahrt werden, während die tatsächlichen politischen Entscheidungen mehr und mehr außerhalb der den Staatsbürgern bekannten, ihrem Einfluß unterworfenen und in der Verfassung verankerten Institutionen fallen. Von dieser Entwicklung ist die Volksvertretung naturgemäß am sichtbarsten betroffen.

Seitdem es einen Parlamentarismus gibt, besteht auch eine Literatur zu seiner Kritik. Zuerst kamen diese Einwände begreiflicherweise von den Gegnern, die im Kampf gegen den Parlamentarismus unterlegen waren Mit zunehmender praktischer Erfahrung mehrten sich die Einwände gegen die Art und Weise des Funktionierens der Volksvertretung bis in unsere Zeit. Aber allen Einwendungen — mögen sie von prinzipiellen Gegnern oder wohlmeinenden Kritikern kommen — vermag der Parlamentarismus die Frage entgegenzuhalten: „Was anderes und vor allem besseres könnte an die Stelle unserer heutigen Parlamente gesetzt werden?”

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