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Freiheit als innere Verfassung

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Hundert Jahre Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger oder besser: hundert Jahre Rechtsstaat — man muß das Verfassungswerk 1867 als Einheit sehen —: das ist ein Anlaß zur Besinnung. Man erinnert sich der Genealogie des Rechtsstaates; man denkt an Hellas, Rom, das Christentum, an die drei Wurzeln jenes europäischen Geistes, zu dessen großartigsten Träumen der Traum vom Leben in Freiheit gehört. „Freiheit bleibt immer und ewig das heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen und das große Zentrum aller Kultur.“ Diese Worte Friedrich Schillers würden aus unserem Munde wie eine rhetorische Phrase klingen. Uns fehlt die Kraft des Glaubens. Unsere Sprache hat an Glaubwürdigkeit verloren. Broch hat 1934 vom Ekel vor dem Wort gesprochen, der sich der Menschheit bemächtigt hat; die Welt sei der Sprache und des Geistes verlustig geworden; sie sei vom fürchterlichen Lärm der Stummheit beherrscht, von einer zu Lärm und zum Pathos des Rhetorischen gesteigerten Stummheit, die zwar noch den Klang der Sprache besitzt, doch nicht Sprache mehr ist.

Aufrichtung des Menschen

Ein Jahrzehnt später, 1946, stellt Doderer fest, daß in uns alle das existentielle Plebejertum eingedrungen ist, daß wir unseres Rückhalts verlustig auf den Staat zugetaumelt sind; „und weil alle bald nur noch weit aus dem Fenster gebeugt und mit Beziehung auf die Gasse zu leben vermochten, bei verlorener Eigenständigkeit des Alleinseins unfähig geworden, so legten sie gewissermaßen das Hauptteil ihres Gewichts auf den Staat, der ihnen Arbeit und Brot und Vergnügen schaffen sollte, und alles Erdenkliche noch, wie einen Ersatz für das verlorene Ich, ja eine Art Paradies auf Erden als ein en masse zu Erreichendes, bis das Politische zu einer Heilskategorie anschwoll...“ Doderer forderte damals die „allmähliche Aufrichtung des Menschen, seine Wieder-Aufrichtung, bis da und dort immer mehr einzelne beginnen auf ihren eigenen Beinen zu stehen und am Ende sogar ihre eigene Sprache zu reden, statt eines vagen und gänzlich unanschaulich gewordenen politischen Heils-Idioms.“ Das Idiom mag sich geändert haben. Aber sprechen wir unsere eigene Sprache?

Die „Rückverweisung des Menschen auf sich selbst wäre, idealistisch gesehen, die eigentlichste Notstandsarbeit des Staates hier und jetzt“, stellte Doderer vor 20 Jahren fest. Der Staat könnte damit beginnen, alles zu vermeiden, was die bereitliegenden Bahnungen des Massendaseins nur irgend wieder in Erinnerung oder gar in Schuß zu bringen vermöchte. Doderer forderte vom Staat ein allmähliches und fast unmerkliches Aufgeben von Kompetenzen, „indem man all diesen Menschen, die heut' in jeder Angelegenheit zunächst einmal nach der zuständigen Stelle und nach der Vorschrift fragen (so haben sie sich selbst hergerichtet und so hat man sie noch extra zugeritten), da und dort eine milde Zurückweisung auf sich selbst, auf ihre eigene Entschlußkraft, Kompetenz und Verantwortlichkeit erteilte“.

Und wie steht es mit uns? Haben wir selbst die Arbeit der Rückverweisung des Menschen auf sich selbst ernst genommen?

Seit etwa 100 Jahren ist Österreich ein Rechtsstaat, ein Staat, der den Menschen Freiheit gewährt und gewährleistet. Seit etwa 100 Jahren ist Österreich ein Staat mit einer Rechtsordnung, derzufolge Rechtsprechung und Verwaltung unter Bindung an Gesetze ausgeübt werden, die von einem vom Volk gewählten Parlament beschlossen werden, Justiz und Verwaltung in allen Instanzen getrennt sind, die Akte der Verwaltung auf die Übereinstimmung mit den Gesetzen überprüft werden, die Mitglieder der Regierung für ihre Akte dem Parlament verantwortlich sind und Grundrechte gewährleistet sind. Der Rechtsstaat Österreich hat Tradition.

Wir kennen seine stärksten geschichtlichen Wurzeln, den Enthusiasmus und die Emotionen des

Jahres 1848, die den Monarchen ver-anlaßten, zu erklären, „daß die Staatsinstitutionen den Fortschritten folgen müssen, welche in der Kultur und Geistesentwicklung der Völker eingetreten sind.“ Wir wissen, daß die revolutionäre Bewegung, getragen von liberalen und demokratischen Ideen, das Prinzip der Volkssouveränität, das Nationalprinzip und das Majoritätsprinzip in den österreichischen Staatskörper brachte. Diese neuen Prinzipien traten den Kampf an gegen die rationalen und dynastischen Prinzipien altösterreichischer Staatskunst. Es entwickelten sich Nationalgefühle und

Provinzialpatriotismen, aber es gab kaum einen gesamtösterreichischen Patriotismus und ein österreichisches Staatsgefühl. Ein Eötvös sah Ansätze dazu bei einzelnen Staatsmännern, in der Verwaltung, in der Armee. Aber die desintegrierenden Kräfte waren stärker, sie wuchsen mit der Institutionalisierung des Rechtsstaates und der Demokratisierung des Staates. Eine traurige Wahrheit? Österreichs Aufstieg zum Rechtsstaat und zur Demokratie gleichzeitig Österreichs Weg in den Untergang? Eine solche Deutung verstimmt; aber sie beleuchtet die Problematik des alten Österreich.

Es fehlte die Basis

Die Verfassung des republikanischen Österreichs verwirklichte nahezu alle rechtsstaatlichen und demokratischen Forderungen, die nach dem ersten Weltkrieg an einen Staat gestellt werden konnten. Die neuen Machthaber hatten sich der Form nach auf eine Verfassung einigen können.

Aber es fehlte eine einheits-stiftende materiale Konsensbasis. Demokratie und Rechtsstaat waren Masken, hinter denen sich völlig verschiedene Gesichter verbargen. Die Mehrheit wurde von den neuen Machtträgern angestrebt, nicht um sich in den Dienst des Staates zu stellen, sondern um den Staat in den Dienst der Partei zu stellen. Der Staat war die Burg, von der aus man die Gefahr einer „Diktatur der

anderen“ abwehren zu können glaubte. Ein Teil der Parteien rezipierte die alte absolutistische Formel: der Staat, das bin ich; und sah die res publica als res privata an. Der andere Teil identifizierte den Staat mit der 'herrschenden Gruppe und übertrug das Mißtrauen gegen den Gegner auf den Staat selbst.

Weder das demokratische noch das rechtsstaatliche noch irgendein anderes Baugesetz der Verfassung entwickelte existentiell politische Kraft im Sinne einer Integration. Die Verfassung war kein Symbol des Konsenses der staatsgründenden Parteien.

Symptomatisch für den mangelnden Konsens ist der Umstand, daß sich die Koalition der beiden Großparteien nicht auf einen Grund-

rechtskatalog einigen konnte. Ein Paradoxon Austriacum trat ein: weil sich Christlichsoziale und Sozialdemokraten nicht auf einen neuen Grundrechtskatalog einigen konnten, wurde der vom Liberalismus geprägte Grundrechtskatalog, der im Jahre 1867 gegolten hatte, Bestandteil unserer Verfassung. Diese „Einigung“ zweier heterogener Ideologien über eine ihnen ja entgegengesetzte dritte Ideologie konnte genausowenig eine politische Integration bewirken, wie das Formalbekenntnis zur Demokratie und zu den anderen Baugesetzen der Verfassung. Die Idee der geschriebenen Verfassung und die optimistische Vorstellung, wonach es damit getan ist, dem Volk eine perfekte Verfassung zu geben und es werde sie dann schon zu seinem Besten gebrauchen, haben damals einen Schlag erlitten, von dem sie sich nie mehr erholen können.

Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten blieb aber Österreich nach dem zweiten Weltkrieg seiner Verfassung treu. Das hat sein Gutes. Uns ist klargeworden, daß es weniger auf Formen und Normen der Verfassung ankommt als auf den Geist, in dem sie gebraucht werden; oder, wie Loewenstein formuliert: „Die Sicherheit der Freiheit beruht allein auf dem Geist des Volkes und nicht auf dem der Gesetze.“ Das Bewußtsein und damit die Verantwortung der Freiheit als innere Verfassung in die Herzen aller Bürger einzusenken, ist unsere Aufgabe.

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