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Das Kernprinzip heißt Freiheit

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Die wegweisende Einsicht des inzwischen verstorbenen Staatsrechtlers Ernst Forstlioff erweist sich je länger desto mehr als zutreffend: Der Staat in seiner politisch verstandenen Staatlichkeit hat abgedankt. Würde und Hoheit wird ihm nicht ,mehr zugeschrieben; dergleichen erregt bestenfalls. Gelächter.

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Die wegweisende Einsicht des inzwischen verstorbenen Staatsrechtlers Ernst Forstlioff erweist sich je länger desto mehr als zutreffend: Der Staat in seiner politisch verstandenen Staatlichkeit hat abgedankt. Würde und Hoheit wird ihm nicht ,mehr zugeschrieben; dergleichen erregt bestenfalls. Gelächter.

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Die IncPust.riegesellschaft ist statt dessen in ihre Rechte getreten. Der Staat ist nichts als ein riesiges Dienstleistungsuntemehmen, das allen Bürgern mehr oder weniger gleichermaßen bestimmte Servicefunkitionen zukommen läßt: Gas,

Wasser, Elektrizität, die Rente, den Schulbesuch, die Garantie des Eigentums und der Umwelt — kurz: die Bedingungen der „Daseinsvorsorge“ sollen gewährleistet werden.

Im Hintergrund steht das Phantom einer Allmacht des Staates, einer Verstaatlichung aller Gesellschaftsbereiche zu Lasten der individuellen Freiheit des einzelnen, verstanden als persönliche Distanz zum Staat.

Indessen, es gibt auch das gegenteilige Erscheinungsbild: die Vergesellschaftung des Staates. Der Staat ist sichtlich seiner politischen Potenz beraubt: da Äußerungen legitimer Autorität höchst selten geworden sind, tritt er seine Machtbefugnisse mehr und mehr an gesellschaftliche Gruppen ab, zumal an die Gewerkschaften („Gewerkschaftsstaat“), an die Massenmedien, an die Großindustrie, kurz: an politisch und demokratisch nicht voll legitimierte und damit „unpolitische“ Instanzen.

Die verfassungsrechtlich fixierte Vorstellung, der Staat besitze das „Gewaltenmonopol“ im politischen Sinn, aufgeteilt in Exekutive, Legislative und Judikative, stimmt schon längst nicht mehr, obwohl dies natürlich nicht besagt, daß das bürgerliche Freiheit konstituierende Prinzip der Gewaltentrennung aufgegeben werden dürfe. Aber welche Auswege gibt es, um der Verstaatlichung der Gesellschaft wie umgekehrt der Vergesellschaftung des Staates dm Sinn und im Interesse der Freiheit des einzelnen Einhalt zu gebieten?

Das ist die zukunftsentscheidende Frage. Und sie ist längst nicht nur von verfassungsrechtlicher oder verfassungspolitischer Bedeutung. Sie interessiert den Bürger unmittelbar, weil der Bürger sich mehr und mehr einer totalen Verplanung ausgeliefert sieht — Mächten, die er weder kennt noch beeinflussen kann. Er steht ihnen weitgehend hilflos gegenüber, da er das früher doch immer noch vorhandene Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der etablierten Institutionen mehr und mehr verliert.

In den Vereinigten Staaten haben

Umfragen vor den letzt jährigen Zwischenwahlen überdeutlich diesen Trend bestätigt: Nahezu 80 v. H. der Bürger fühlten sich ratlos, verunsichert: weltwirtschaftliche Krise,

binnenwirtschaftliche Probleme, Inflation und steigende Arbeitslosigkeit, Rezession, Kriminalität, all das zusammen bewirkt, daß das politische Vertrauen der Bürger schwindet. Und das heißt: Die Zuversicht, daß Politik und Politiker in der Lage sind, Auswege aus den drohenden Gefahren zu weisen, daß überhaupt Politik hierzu noch imstande sei, droht abhanden zu kommen. Auch bei uns mehren sich die Anzeichen dafür.

In den vergangenen Jahren wurde immer wieder aufs neue versucht, diese bedrohliche Entwicklung durch eine „Demokratisierung“ aller Lebensbereiche aufzufangen. Diese Forderung ist in sich völlig konsequent. Wenn es nämlich eine Verstaatlichung der Gesellschaft wie — umgekehrt — eine Vergesellschaftung des Staates tatsächlich gibt (und daran besteht kein Zweifel), dann ist eine zweiteilige Antwort richtig: Erstens, die früher stets verfochtene Trennung von Staat und Gesellschaft ist offenbar hinfällig geworden, zweitens, die Strukturprinzipien staatlicher Ordnung müssen dann eben auf die Gesellschaft im weitesten Sinn übertragen werden, weil nur so sicher- gestellt werden kann, daß gesellschaftliche Macht zum Nachteil des einzelnen nicht unkontrolliert und unkontrollierbar ausgeübt wird.

„Demokratisierung aller Lebensbereiche“ schließt jedoch eine weitreichende „Politisierung“ mit ein. Denn alle Lebensäußerungen des einzelnen Bürgers werden unter das Joch des Mehrheit-Minderheit-Ver- fahrens gespannt und politisch in Pflicht genommen, weil sie ja ausschließlich danach zu beurteilen sind, ob sie die „Demokratie“ (und was immer darunter verstanden wird) fördern oder hindern. Es gilt folglich eine qualitative Unterscheidung in bezug auf die Äußerungen bürgerlicher Freiheiten: die des politisch Tätigen steht notwendigerweise über der des Unpolitischen.

Entscheidend kommt es in diesem Zusammenhang darauf an, zu sehen, daß die einseitige Übertragung staatlicher Ordnungsstrukturen auf ge sellschaftliche Sachverhalte notwendigerweise die bürgerliche Freiheit vernichten, oder doch zumindest lebensbedrohend gefährden muß.

Im Interesse der Freiheitssicherung bleibt daher nur der Weg, das Problemknäuel aus Verstaatlichung der Gesellschaft und Vergesellschaftung des Staates zu entwirren, indem eine Rückbesinnung auf die wesentlichen Prinzipien des freiheitlichen Rechtsstaats erfolgt. Grundpfeiler der gegenwärtig noch gültigen verfassungsrechtlichen Ordnung in Staat und Gesellschaft ist die Würde und die Freiheit des einzelnen Menschen.

Allerdings, hehre Prinzipien helfen heute kaum weiter, um unter den skizzierten Strukturbedingungen in Staat und Gesellschaft der Freiheit Raum und Sicherheit zu verschaffen. Und es reicht keineswegs aus, die Sätze der Verfassung stets zu wiederholen, weil sie aus sich selbst heraus keine plausiblen Antworten auf die veränderte Lage geben.

Dieser Vorbehalt gilt in erster

Linie auch für die Versuche, die Freiheit sichernden Grundrechte der Verfassung lediglich individualistisch, als Inbegriff liberalen Denkens zu verstehen. Denn eine so verstandene Freiheit ist nur ein Recht, das staatliche Macht abgrenzt und ausgrenzt. Rechtsstaatlich verstandene Freiheit bedeutet demnach Distanz zum Staat.

Freilich — und das ist äußerst wichtig —, gerade weil es darum geht, die Freiheit des Bürgers gegenüber einer Verstaatlichung der Gesellschaft zu sichern, muß der liberal-rechtsstaatliche Kerngehalt des Freiheitsrechts immer vorhanden bleiben.

Aber es gilt auch — fast möchte man sagen: gleichermaßen —, die Freiheit des einzelnen gegenüber den Tendenzen zu verteidigen, die sich als Vergesellschaftung des Staates breitmachen. Daß sie freiheitsgefährdend sind, dürfte jedermann klargeworden sein.

Wie aber kann die Freiheit des einzelnen in „einem sich rapide verdichtenden Netz von Abhängigkeiten“ heute gesichert werden? Viele versuchen die Antwort dadurch zu erteilen, daß sie die freiheitlichen Grundrechte sozialstaatlich einbinden, indem auf diese Weise Mitbe- stimmungs- und Teilhabe-Rechte — zum Beispiel auf Eigentum, auf Arbeit, auf soziale Sicherung, auf Gewährung der Chancengleichheit — geschaffen werden.

Dieser Weg führt indes nicht weiter. Denn ein verfassungsrechtlich verbürgtes Freiheitsrecht kann nicht gleichzeitig beides: staatliche Macht ausgrenzen und Ansprüche auf sozialstaatliche Teilhabe gegen eben diesen Staat richten und durchsetzen.

Es bleibt indessen die Deutungsmöglichkeit, aus den Freiheitsrechten die Verpflichtung von Staat und Gesellschaft abzuleiten, menschliche Freiheit, „wo ihre Voraussetzungen und Bedingungen verlorengegangen sind oder verlorenzugehen drohen, neu zu schaffen, zu sichern und zu fördern“. Mit anderen Worten: Es ist das verfassungsrechtliche Leitprinzip bürgerlicher Freiheit, das Gesetzgebung und Verwaltung des Gemeinwesens (im weitesten Sinn verstanden) verpflichtet.

Die Grundrechte sind dann — so gesehen — ein ständiger Appell an den Staat, diejenigen Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, unter denen in der heutigen Umwelt noch individuelle Freiheit überhaupt möglich ist. Es sind objektive Grundsatznormen, nicht mehr nur subjektive, dem einzelnen zustehende Rechtssätze. Und sie vermitteln auch kein Anspruchsriecht des einzelnen gegen den Staat in jedem Fall, weil der Staat#- einer solchen Fülle von vermeintlichen oder wirklichen Ansprüchen auf Freiheitsgewährleistung ausgesetzt — sehr schnell an die Grenze seiner finanziellen Leistungsfähigkeit stoßen würde.

Diese Sicht legt — und das ist bedeutsam — die Basis, um Freiheit unter den realen Verhältnissen einer verstaatlichten Gesellschaft und eines vergesellschaftlichen Staates überhaupt denklogisch zu verwirklichen. Das ist bereits ein großer Vorteil

Aber, die entscheidende Frage ist damit noch nicht beantwortet: Wer ist denn eigentlich der Adressat einer solchen Freiheitsverpflichtung, der Staat oder die Gesellschaft? Denn es ist evident: Es gibt kein in sich ruhendes, geordnetes Verhältnis mehr zwischen dem gesellschaftlichen Ganzen, dem Staat, und den gesellschaftlichen Gruppen: „Wir leiden unter der Emanzipation organisierter Gruppen gegenüber der organisierten Gemeinschaft, dem Staat. Was auf der Strecke zu bleiben droht, ist die Fähigkeit des Ganzen, den Wandel in Freiheit zu bewältigen und Anwalt derer zu sein, die sich nicht organisieren können“ (Biedenkopf).

Wenn dies jedoch richtig ist, vor allem alber, wenn die eingangs zitierte Ansicht Forsthoffs vom Abdanken des Staates zutrifft, dann ist die Kardinalfrage in diesem Zusammenhang die nach der politischen Autorität des Gemeinwohls, nach der Instanz, die verläßlich und sicher die Freiheit in Staat und Gesellschaft des einzelnen schützt.

Die Antwort, welche in letzter Zeit versucht wird, basiert auf einer Neubesinnung auf die ordniungspoliti- schen Grundsätze der Solidarität und der Subsidiarität.

Als Grundlinie des Verhältnisses zwischen Solidarität und Subsidiarität gilt dabei, „daß die Freiheit und

Autonomie der Gruppen, ihre Angelegenheiten aus eigener Initiative und eigener Kraft zu gestalten, in die Solidarität des Ganzen einbezogen sein muß“ … „Die allgemeine Anerkennung der gemeinsamen Ziele muß die Grundlage für das Zusammenwirken der Gruppen untereinander und für das Wohl des Ganzen bilden.“

Diese Forderung ist richtig, zweifellos. Aber: „Die Stabilität unserer Ordnungen ist gefährdet, das Gewebe sozialer Organisationen zum Zerreißen gespannt. Es wird immer schwieriger, individuelle und’ gemeinschaftliche Identitäten zu entwickeln und zu behaupten und die Ziele und den Sinn des Ganzen zu erkennen“ (Biedenkopf). Und ganz radikal: „Die Durchsetzung und Verwirklichung allgemeinwohlorientierter Ziele“ ist unter den Bedingungen eines vergesellschafteten Staates, dessen Rolle als politisch-staatliche Instanz in Frage gestellt ist, „auf Dauer nicht möglich“.

Dennoch, es bleibt dabei:.Die freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie muß die Lebensfrage beantworten: Wie ist es — allgemein gesehen — möglich, den ständigen Wandel in Staat und Gesellschaft mit der unglaublichen Fülle weltweiter, ungelöster Probleme in Freiheit zu bewältigen? Und — das ist der zweite Aspekt, der hier allerdings im Vordergrund steht — wie ist Freiheitssicherung gegenüber staatlichen und gesellschaftlichen Kräften möglich?

Es ist jedoch schon viel gewonnen, wenn überhaupt Existenz und Dimension dieses Problemknäuels erkannt werden. Leichte Antworten wird es ohnedies nicht geben.

Indes, schon dies ist ein wesentlicher Ansatzpunkt, weil das Systemgebäude in sich schlüssig erscheint: Die Bejahung der individuellen Freiheit der Person, die gegen den Staat und gegen gesellschaftliche Mächte gleichermaßen verteidigt werden muß; die Anerkennung der gesellschaftlichen Subsidiarität, das heißt: die Regelung der Lefoenssachverhalte, liegt in erster Linie in der Kompetenz der sachlich Betroffenen, nicht in dęr ygrfügungsmacht des Staates.

Daą ist eine sehr deutliche Absage an kollektivistische Tendenzen, ist gleichermaßen auch Abkehr von staatlicher Omnipotenz, Bejahung des Strukturprinzips einer pluralistischen Gesellschaft, deren Merkmal die bürgerliche Freiheit ist

Noch ein Weiteres kommt hinzu: Die Bevorzugung des Privatrechts zur Regelung und Bewältigung ungleicher gesellschaftlicher Machtverteilung. Sie steht im Gegensatz zur immer stärker sich ausprägenden Hinwendung zum öffentlichen Recht, indem dem Staat die Befugnis eingeräumt wird, gesellschaftsgestal- tende Rechtsregeln aiufzustellen und durchzusetzen — vom Baurecht über das Ordnungsrecht bis zum Sozialrecht, um nur einige Säulen zu nennen.

Indessen, die hier aufgeworfene Kardinalfrage, wie denn Staat hervorzubringen sei, um als Instanz des Gemeinwohls gegenüber der Gesellschaft wieder erkannt zu werden, um schließlich Freiheiten zu sichern, zu schaffen und auszubauen — diese Frage bleibt vorderhand offenbar heute noch ohne durchgreifend befriedigende Antwort. Das soll kein Tadel sein; es ist eine simple Feststellung, die alle politischen Kräfte des Landes trifft.

Verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch lassen sich im Augenblick nur Grundmarkierungen nennen, um — möglicherweise — den freiheitsgefährdenden Tendenzen des vergesellschafteten Staats wie der verstaatlichten Gesellschaft zu entrinnen. Damit ist jedoch nur das Ziel bezeichnet. Ob es angesichts dieser heute bestehenden Strukturbedingungen auch erreicht wird, ist in erster Linie abhängig von der erforderlichen, aber bisher unterlassenen Sensibilisierung der öffentlichen Meinung, um es zu gewährleisten, daß der Staatsbürger überhaupt wieder Vertrauen findet, daß politische Vorstellungskraft und politische Sachkenntnis noch imstande sind, die gegenwärtigen Lebensverhältnisse zu ordnen — und das ist das Gegenteil von passiver Ohnmacht und sachlicher Inkompetenz. Beide drohen indes, das Übergewicht zu erhalten.

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