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Um Freineit und Ordnung

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Es gibt Bücher, deren Titel schon aufhorchen läßt, weil er auf wesentliche Fragen unseres politischen und kulturellen Lebens hinweist. „Der selbständige und der betreute Mensch“ nennt Helmut Schelsky eine jüngst veröffentlichte Sammlung von Artikeln und Vorträgen. Sie zeigen ein starkes politisches Engagement und sind zum Teil an sehr konkrete Adressen gerichtet. Wir werden uns aber hier nur mit den Grundfragen befassen, mit denen Schelsky den Rahmen seiner Überlegungen absteckt.

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Es gibt Bücher, deren Titel schon aufhorchen läßt, weil er auf wesentliche Fragen unseres politischen und kulturellen Lebens hinweist. „Der selbständige und der betreute Mensch“ nennt Helmut Schelsky eine jüngst veröffentlichte Sammlung von Artikeln und Vorträgen. Sie zeigen ein starkes politisches Engagement und sind zum Teil an sehr konkrete Adressen gerichtet. Wir werden uns aber hier nur mit den Grundfragen befassen, mit denen Schelsky den Rahmen seiner Überlegungen absteckt.

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Die erste Frage liegt in der Gegenüberstellung, die im Titel des Buches Ausdruck findet. Es geht dabei um nichts Geringeres als um den Aufweis des allmählichen Verlustes echter positiver, personaler Freiheit in einer Zeit, die sich doch der Freiheit rühmt, und um die Herausstellung der Voraussetzungen einer schwindenden Freiheit, die die Ordnung in personaler Verantwortung, aus dem Selbstand des selbständigen Menschen tragen könnte. Es geht zugleich um die Grundsätze einer Ordnung, in der sich solche Freiheit geborgen fände und zu entfalten vermöchte. Also nicht Sicherheit oder Freiheit, sondern Sicherheit der Freiheit durch die Wahrung der Bereiche, in denen sie sich auswirken könnte. Das Problem ist das einer menschenrichtigen Ordnung im weitesten Sinn. Voraussetzung hiefür ist freilich, daß das Gerechte, das „Gute“ im weitesten Sinn, als objektiv Vorgegebenes, nicht als Erdachtes, sondern als Erkanntes der Freiheit Inhalt und der Ordnung Gestalt gibt. Schelsky liebt nicht — so in seinem Wiener Vortrag — das Wort vom „Menschenbild“. Es ist aber im Hinblick auf eine menschenrichtige Ordnung doch wohl nicht zu entbehren. Liegt es doch einer bewußten Selbsteinordnung in die Welt, die Gemeinschaft, die Geschichte zugrunde. Ein Menschenbild scheint natürlich trotzdem auch bei Schelsky auf, das Menschenbild der „Aufklärung“. Ohne daß man in irgendeiner geistesgeschichtlichen Epoche nur Negatives zu sehen berechtigt wäre, liegt doch die Frage nahe, inwiefern die Verworrenheit der Zeit auf dieses Menschenbild zurückgeht. Wir lassen diese Frage stehen. Immerhin: die Begründung von Schelskys Ablehnung der Berufung auf ein Menschenbild liegt in der sicherlich beherzigenswerten Gegnerschaft gegen die „intellektuellen Sozialplaner“, die mit allerhand Experimenten im dunkeln der Irrealität herumtasten, „sich nur für immer neue Entscheidungen interessieren“, aber „niemals die lange Verantwortung der Verwirklichung“ auf sich nehmen. (Nebenbei eine gute Charakterisierung des wurzellosen Progressismus.)

Aus der Schau des Soziologen stellt Schelsky das Schwinden der Selbständigkeit und die immer entscheidender werdende passive Betreuung der Menschen unserer Bereiche durch den Staat und durch machtvolle Großorganisationen fest. Die personale und soziale Eigenaktivität, die personal verantworteten Bereiche der sozialen Ordnung und die Möglichkeiten eigener „Lebensplanung“ schrumpfen immer mehr. Gerade in diesen Elementen aber ruht die „Selbständigkeit“, die eine freie Ordnung tragen kann und die mehr ist als organisierte Macht der Forderungen an die „Allgemeinheit.“ (Prinzip der Subsidiarität!) Die Autorität aber, die für die Realisierung der Verantwortung unerläßlich sei, sei mehr und mehr im Schwinden. Den Vorgang untersucht der Verfasser bis ins einzelne. Seine Überlegungen seien allen jenen empfohlen, die alles auf den Staat schieben und von einem durch — vielleicht — gewaltlosen Totalita-rismus zurechtorganisierten Leben eine befriedigende Ordnung erwarten, wie das manchen sozialistischen Richtungen eigen zu sein scheint. Wie man von der Betreuung wieder zur

Selbständigkeit zurückfinden kann, ist allerdings eine Frage nicht nur der Strukturen, sondern auch des Ethos, auch des Ethos der machtvollen Organisationen. Keinesfalls aber wird der Staat, der alles auf sich nimmt, stark oder immer stärker. Er wird wehrlos gegenüber allen Ideologien, die der Freiheit einen verbindlichen Gehalt zu geben meinen, indem sie sie beseitigen. Denn nur der Mensch, der seinen Bereich der Selbständigkeit in der Ordnung gesichert findet, wird sich auch für die Ordnung einsetzen und die staatliche Gemeinschaft tragen und verteidigen.

Hier liegt vielleicht eine Crux unserer „demokratischen“ Entwicklung. Das führt zu dem zweiten großen Thema Schelskys: Was heißt heute „liberal“? Die quantitativ gefaßte Forderung „so wenig Staat wie möglich, so viel Staat wie notwendig“ läßt alle qualitativen Fragestellungen unbeantwortet. Schelsky bleibt bei aller Sympathie für den ursprünglichen Liberalismus an dieser dem Altliberalismus entnommenen Formel nicht hängen. Er geht an die Qualität des Staates, an die Besonderheit seiner Funktion, die weder primär in wirtschaftlichen Verteilungsmaßnahmen noch in der Verteilung egalitärer Unfreiheit besteht. Gewiß hat der Staat auch von der Wirtschaftspolitik her für die effektive Erhaltung personaler und sozialer Freiheitsräume Sorge zu tragen. Im Grunde aber, meint Schelsky, wird das Verhältnis des Staates zum Bürger und des Bürgers zum Staat durch das Recht hergestellt. Im Gegensatz zur Verwaltungsplanung mache die Rechtswahrung den einzelnen zum Subjekt. Hier liegt das Fundament der Grundrechte und zugleich das der Autorität. Was Schelsky unter „liberal“ versteht, hat mit der ursprünglichen Ideologie des Liberalismus strukturell nichts zu tun. Inhaltlich — meinetwegen sozialphilosophisch — bleibt er indes manches schuldig. Der Hinweis auf

die Aufklärung müßte doch etwas differenzierter behandelt werden. Vielleicht, freilich, lag es gar nicht in der Absicht des Verfassers, über das Strukturelle hinaus zur letzten Klärung vorzustoßen. Jedenfalls aber muß man ein „Menschenbild“ haben, um die Gedanken Schelskys richtig einzuschätzen. Das Buch weist sehr wohl darauf hin, daß die Entscheidung für die effektive Freiheit strukturelle Formen bestimmter Art voraussetzt. Daß auch menschliche Entscheidungen aus der Tiefe erforderlich sein würden, muß bei der heutigen Überschätzung des Politisch-Organisatorischen zusätzlich betont werden. Manche Hinweise der Sozialenzykliken zeigen, daß das eine wie das andere nottäte.

DER SELBSTÄNDIGE UND DER BETREUTE MENSCH. Politische Schriften und Kommentare. Von Helmut Schelsky, Seewald Verlag, Stuttgart. 209 Seiten, öS 152.50.

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