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Der Staat und wir

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Darum, Ihr Machthaber, lafit beim Heile eurer Völker euch beschwören, endlich einmal die Zeit in ihrer Tiefe zu begreifen und oberflächlichem Rate der Schwachen ferner mehr kein Gehör gebenl Begreift, daß gegen die neue Gefahr ein neuer Geist aufgeboten werden muß, daß aber alle Worte dazu gänzlich kraftlos sind und Taten der Entsagung und der Gerechtigkeit Ihn allein erwecken mögen.

Josef v. Gönes: „Ausgewählte Werke“

Als noch Krieg war, als noch das Dritte Reich herrschte, da sehnten wir uns nach .,Freiheit“ '— und wir verstanden unter „Freiheit“ nicht ein schwieriges philosophisches oder politisches Problem, sondern ein, wie uns schien, sehr Einfaches. Raum, um sich richtig als Mensch bewegen zu können, zu essen, zu trinken, sich zu kleiden, wie man wollte. Seinen Beruf selbst zu wählen und in der Ausübung dieses Berufes nicht eingeschränkt zu sein; die Sicherheit der Person vor Gericht und Recht durch menschlich-einsichtige Gesetze gewährleistet; Raum also — um frei atmen, frei sich bewegen zu können!

Es kam wesentlich anders: in allen Bereichen des Lebens sieht der einzelne sich bedrängt durch Anordnungen, Befehle, Verbote, welche die persönliche Freiheit aufs Äußerste einschränken. Der kleine Geschäftsmann sieht voll Sorge auf die An-, Auf-und Überforderungen, die von zahlreichen Ämtern und Behörden sich auf seinem Tische häufen. Der Mann von der Straße irrt tagelang in den dunklen Gängen der Ämter umher, um schließlich zu erfahren, daß eine „Bewilligung“ seines Anliegens nicht zu erlangen oder morgen ein anderes Ämterlabyrinth nach ihr zu durcrWorschen sei. Der Arbeitsuchende wird vom Arbeitsamt einer Baustelle zugewiesen — es ist nahezu so wie beim Kommiß. Der junge Student wird vom Studium ausgeschlossen, weil er, der beim Anschluß fünfzehnjährig war, während seiner Militärdienstzeit automatisch von der HJ in die Partei überführt wurde und nun als. „minderbelastet“ gilt, was zur Folge hat, daß er sein Studium aufgeben muß. Der Künstler soll in eine Kunstkammer — das Volk wird numeriert, registriert, klassifiziert. Von der Wiege bis zur Bahre fängt sich der einsam Einzelne, der Mensch, im Gestrüpp von Maßregeln und Verordnungen, er wird gezwängt und gegängelt in allen Bereichen des Lebens — darf es da Wunder nehmen, daß er flieht vor dem, der hinter diesen Verordnungen steht, die immer wieder die stille und wahre Ordnung des Menschlichen zerstören?

Der Staat: Vor ihm flieht das „Volk“. Es ist nahezu so wie im Dreißigjährigen Krieg. Die Bauersfrau vergräbt (heute: „verschleicht“) ihr Gut, der Städter trägt die letzten Pretiosen zum Versatzamt, um Steuern und Nahrungszubußen zu bezahlen. Über allen ein Himmel, ein bleiern stahlgrauer Himmel der Angst. Tn allen die Sorge: was wird aus diesem Ungetüm werden, das scheinbar machtlos ist, uns zu verteidigen, aber genug Macht besitzt, uns auch das Letzte zu nehmen? Dies unsere Situation,' unsere Lage und dabei vergessen wir zwei Ding£: einmal, daß wir immer noch mit beidep Füßen auf der Erde stehen — auf dieser unserer Erde, die in Werken der Landwirtschaft und Industrie dem, der wirklich arbeiten will, stets bereit ist, jenes Brot zu geben, das der Mensch im Schweiß des Angesichts erwerben soll. Zum andern, daß dieses Etwas, der Staat genannt, unser Staat ist — aus seinen hohlen Augen sehen wir selbst uns an —, wir selbst sind das Anonyme, Namenlose, Unpersönliche, Verantwortungslose, sind jene Schar von Nullen, welche nur' darauf zu warten scheinen, daß eine neue gräßliche Eins kommt, welche uns zusammenballt zu einem verzweifelten Haufen der Gier, des Wahnsinns, gesammelte Stoßkraft der Tollwut... Denn dies ist immer in der Geschichte die Stunde der Diktaturen: wenn der Einzelmensch sich als Person, die ihrer Verantwortung, ihrer Verpflichtung zur Freiheit bewußt ist, aufgibt, dann überläßt er sich automatisch den Dämonen: er schafft mitten im Bereich der Menschheit jenen furchtbaren Leerraum, der mit magischer Gewalt die Mächte des Bösen herbeizieht. Pessimismus und Skeptizismus, Tatmüdigkeit, Gier und Genußsucht, Eitelkeit und Feigheit, die totale Verantwortungslosigkeit der nur sich selbst Wollenden, diese Kräfte des Nein rufen die großen Spieler des Bösen herbei. v

Wie konnte es soweit kommen? In früheren Zeiten war der Staat oder seine Repräsentation eine ebenso göttliche wie menschliche Angelegenheit. Die griechische Polis, die römische Res-Publica, die Ökumene der Spätantike, das Imperium des Mittelalters waren irdische Bilder himmlischer Ordnungen, zumindest sakral gebundene religiös-politische Wesenheiten. Das Bürgertum der „Neuzeit“ emanzipierte sich, im Kampf gegen Feudalismus und Kirche des Mittelalters, von Gott, und nun trat sehr bald etwas sehr Merkwürdiges ein: als der Kampf um und gegen Gott abgeschlossen schien, als Gott im Raum der Weltwirklichkeit erledigt war, sah sich der „befreite“ Mensch gezwungen, den Kampf um und gegen den Menschen aufzunehmen. Seit Gott nicht mehr zur Debatte steht, ist die Fragwürdigkeit des Menschen offen geworden. Seit Gott sein Recht verloren hat, ist immer verzweifelter der Kampf um das Recht des Menschen entbrannt: Die Deklaration der „Menschenrechte“ durch die bürgerlichen Verfassungen Amerikas und Frankreichs kamen gerade zurecht in diesem Zeitpunkt, als der Mensch dringend einer Sicherung vor sich selbst bedurfte, weil er auf die Sicherung des Menschseins durch Gott verzichtet hatte und nun allein blieb, in tiefster Einsamkeit in der Wüste seiner Triebe und Leidenschaften, seiner maßlosen Süchte und verzweifelten Sehnsüchte. Der Mensch, allein auf sich gestellt, kann sich nicht ertragen: er geht in Angst und Verzweiflung unter — und flieht als einzelner in Geräusch, Lärm, Betriebsamkeit des modernen1 Lebens, als Masse in die Obhut der Diktaturen des Totalitarismus, welche ihm, wie er glaubt, die Sorge um sich selbst, um seine leibliche und geistige Existenz abnehmen, ihn der Angst furchtbarer persönlicher Verantwortung entbinden. Diese Entwicklung hat erst jüngst wieder Gotthard Montesi in sehr beachtlichen Ausführungen mit wesentlichen Perspektiven aufgezeigt *. Diese Flucht einsamer, verzweifelt auf sich gestellter Massen in die Hürde der Diktaturen dauert so lange an, bis sie entdecken müssen, daß der Riesenbau des Totalitarismus, der Staatsdom des

Leviathan, ihnen nicht zur Wiege eines neuen Menschen, sondern zum Grabe des Menschentums an sich geworden ist. Die Götterdämmerung, in deren Weltenbrand die Staatsgötter verbrennen, ist zur Menschendämmerung geworden: zwischen den Ruinen irren ratlos die Menschen umher und suchen die Trümmer des gestürzten Götzen neu zusammenzusetzen. Denn: die Angst der Leere, die Angst vor dem Nichts ist geblieben — und so steigen auch automatisch, der Logik dämonischer Mechanik

* „Die Zukunft der Freiheit“, in „Wort und Wahrheit“, 2. Jahrgang 1947, Heft 2. folgend, neue Staatsgötter herauf: als anonyme Zwing- und Zwanggesellschaften, als technisierte, mechanisierte, bürokratisierte Kollektive, die jeden und keinen Namen tragen können: der Staat als Maschine der Gewalt und Gewalttätigkeit, dessen Stahlnetz von Gesetzen und Verordnungen das Individuum einfängt. Furchtbare Logik geschichtlicher Entwicklung: Im 18. Jahrhundert hatten die französischen Materialisten triumphierend den Menschen als Maschine erklärt — l'homme machine —, nun zermalmt das Räderwerk des einzigen Übermenschen, den es gibt, nämlich des modernen Staatsgottes, eben diesen Menschen, der nun gar nicht mehr Maschine sein will. Er hat genug vom Maschinensein abbekommen und will nur fort! Auswandern ist heute in Europa die Losung nicht nur in dem Raum, der einmal Deutschland hieß, sondern die Parole vom höchsten Norden Skandinaviens bis zum äußersten' Süden Italiens und des Balkans. Und wer nicht auswandern kann, der sucht dem entsetzlich Anonymen, diesem gewalttätig-unheimlichen Tier, das tausendköpfig Leibern, Geistern und Seelen nachstellt, daheim zu entfliehen: in die völlige Teilnahmslosigkeit am politischen Geschehen, in das Geraune und Geraunze, in den Witz und Spott, in die Vergnügungfbetriebe verschiedener Halbwelten, zumindest aber in die stille innere Auflehnung und in den Schleichhandel.

Die Stunde ist ernst. Zwischen Einzelmensch und Staat klafft heute, und nicht nur bei uns, eine Kluft, von deren Überbrückung oder Nichtüberbrückung unsere Zukunft abhängt. Aus dieser Kluft werden, wenn sie nicht geschlossen wird, die Dämonen der Vergangenheit aufsteigen, um im rasenden Wirbelsturm ihrer Leidenschaften alles Leben zu ersticken, das jetzt, schwach und doch keimträchtig, wie die Wintersaat, sich langsam regen und durchstoßen will durch die träg-böse Decke des Alten. Das Schicksal Österreichs zumal .wird entschieden in der kommenden Begegnung oder Nicht-begegnung des Einzelmenschen mit dem Staat. Eine echte Begegnung erfordert ein Sichentgegenkommen von beiden Seiten. Wenn der Staat sich nicht selbst als ein Provisorium, als eine technizistische Apparatur anonymer Gewalthaftigkeit, als eine dämonische Polizeibürokratie, sondern als ein lebendiges Gefüge menschlicher Ordnungen begreifen, wenn er aus einer Autokratie ungenannter Hintergründe zu einer Demokratie namhafter sich zum Vordergrund bekennender menschlicher Personen werden will, dann muß er sich folgende Forderungen stellen und diese nach bester Möglichkeit zu erfüllen traditen: der Staat muß sich humanisieren, der Staat muß sich als moralische Person bekennen, seine Moral muß Vorbild werden für die Moral des Einzelmenschen, der Staat muß als Kämpfer für und nicht gegen die Menschenrechte auftreten, der Staat muß ein Erziehungswerk an und zu sich selbst beginnen!

Damit erkennen wir aber bereits: Dieselben Forderungen, die ein Mensch, der um sein Menschsein kämpft, heute an den Staat richten muß, kann und muß auch der Staat, der um sein Staat^Sein, um seine politisch Existenz und Eigenständigkeit kämpft, an eben diesen Einzelmenschen richten. Denn der Staat, dieser Staat, ist unser Staat — und das heißt: Der Staat kann sich nur humanisieren, wenn wir selbst,uns vermenschlichen. Der Staat kann sich als moralische Person nur dann entwickeln, wenn wir unsere moralische Persönlichkeit entfalten: seine Korruption rul-.i auf der Korruptheit unserer Geister und Seelen, seine A m o r a 1 auf unserer Unmoral! Eine Herde Verzweifelter, eine Horde Selbstsüchtiger kann sich nicht zu einem Staat, sondern imrrter nur zu einem Bar-.barenstamm entwickeln, der für „Krieg, Handel und Piraterie“ sich unter Führung eines Häuptlings zusammenschließt. Der Staat kann nur dann für die Menschenrechte kämpfen, wenn uns selbst diese in unserem persönlichen Leben wert und heilig sind: Eine Gesellschaft, die ihre schwächeren Glieder nur als Menschenmaterial, als Objekt der Ausbeutung und Ausplünderung betrachtet, darf sich nicht wundern, wenn sie selbst, wie der Hecht vom Hai, vom Stärkeren übermachtet und in seinen Dien gezwungen wird. Der Staat kann nur dann sich selbst erziehen, und das heißt als Demokratie entfalten, wenn wir selbst bereit sind, uns zu erziehen und erziehen zu lassen: zu persönlichen Menschen, die Verantwortung für andere tragen'können, weil sie um die Not der Verantwortung für sich selbst wissen. Ein ungeheures Erziehungswerk fordert also die Zukunft, wenn sie ein strahlendes Uns-Zu-Kommen neuen Lebens und nicht ein angstschweres Zu-Kommen des alten Todes werden soll.

Der Staat als Maschine anonymer Gewalt und Gewalttätigkeit — oder als freie Ordnung furchtbarer, aber durch Geist und Sittlichkeit beherrschter Kräfte.

Nie wird es ganz gelingen^ die Dämonie der Macht zu bannen. Macht lockt, ruft die Geister des Zwielichts und der Tiefe herbei. Gerade deshalb ist “es uns auferlegt, um ihre Bändigung zu ringen: von der kommenden Begegnung zwischen Einzelmensch und Staat wird es abhängen, pb der Staat eine Gemeinschaft von Arbeitern werden wird — von Menschen, die an sich, für sich, für alle arbeiten werden — oder eine Gesellschaft verantwortungsloser Spieler, von Hasardeuren, welche mit der Angst und Not der Massen, als Einsatz ihres Vabanquespieles, um die Herrschaft kämpfen werden.

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