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Falsche Ideologie

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Die erste Volkswahl in der zweiten österreichischen Republik hat der Sozialistischen Partei eine Enttäuschung gebracht, da sie in der Arena um einige Pferdelängen zurückblieb. Es brauchte sie nicht stark zu schmerzen. Sie konnte dem Staate das neue Oberhaupt geben, wichtige Ämter besetzen, ihr fiel die Führung in der wichtigen Kapitale zu. Schließlich kam es auch weniger darauf an, ob die eine oder andere der beiden großen Staatsparteien um einige Prozente stärker war als die andere, als vielmehr auf die eindeutige Notwendigkeit, Volk und Staat aus dem Trümmerfeld des Krieges durch den Zusammenhalt beider herauszuführen. Hätte die sozialistische an Stelle der Volkspartei die Mehrheit errungen, so würde sie vor keiner wesentlich anderen Lage gestanden sein. Uberzeugender ist noch nie Staatswohl vor Parteiwohl gestanden. Diese Erkenntnis hatte denn auch vom ersten Tage an das Verhalten der beiden Parteien und die Erklärungen ihrer Führer bestimmt. Was immer es an grundsätzlichen Unterscheidungen geben möge, brauchte nicht aufgegeben und abgeschworen werden, aber jetzt gab es nur eine Parole: Österreich und für Österreich alles, was es zu seinem Leben und zu seiner Freiheit braucht!

Nun melden sich- zuweilen ungeduldige Stimmen. Die gesetzten Aufgaben verlangen mühselige Arbeit. Der Aufbau geht langsamer vorwärts, als man wünschte. Die übernommenen Bindungen drücken. Es ist dieser Tage das Wort gefallen: „Heraus aus der Festung!“ Die „Festungsideologie“ beherrscht die Partei! Also heraus aus ihr. „Wir dürfen uns nicht mehr hinter der Organisation des Industrieproletariats verschanzen. Die Mauern der Festung sind uns zu eng geworden, sie hindern uns am Ausfall. Eine große Mehrheit muß mobilisiert werden. Wir müssen eine Partei aller Schaffenden, Partei auch der Bauernschaft werden!“

Man würde sicher irren, wenn man diese Stimmen aus der Mitte des sozialistischen Lagers nur als die Äußerungen eines disziplinlosen Willens, eines ungebändigten Dranges zur Friedensstörung einschätzen wollte. Es würde vielmehr überraschen, wenn eine Partei, die von ihrer Geburt her eine kämpferische war, den historischen Marxismus im Blute hat und so ganz anders gewachsen ist als etwa die Labour Party, nie nach alten Gewohnheiten zurückverlangen, die Erinnerungen an erstürmte Stellungen und berauschende Siege leichthin abtun könnte. Aber merkwürdig ist sie doch, diese Festungsideologie, dieser Rückfall in militärisch-kriegerische Vorstellungen, die weniger romantisch als romanhaft anmuten. Denn wo ist die von einem mächtigen Feinde berannte Festung, wo sind die zu eng gewordenen Mauern einer großen Partei, die an der Staatsführung teilnimmt, sich ihre Ämter und ihren mächtigen Einfluß, wo sie nur kann, zunutze macht, auch durch die Festungsideologie nicht gehindert wurde — wie die nach neuen Aktionen rufende Stimme sagt — „in vielen bäuerlichen Gegenden in die bis dahin schwärzesten Gemeinden einzubrechen.“

Auffallender noch als die erwachende bellikose Stimmung ist die Methode, nach der ihr publizistischer Dolmetsch die „demokratische Mehrheit“, also die selbständige, von andern unabhängige Macht im Staate zu gewinnen meint. Den „Ruf nach Eroberung des Dorfes“ hat man von links vor Jahren schon einmal gehört. Das Ergebnis war für die zur Eroberung Ausgezogenen eine bittere Enttäuschung, aber zugleich eine der folgenschwersten Zerwühlungen des inneren Friedens. Doch wir hören einen gewichtigeren Vorschlag: „Wir müssen auch die Mauer der areligiösen und antireligiösen Einstellung der Partei durchbrechen.“ Zweifellos hat nichts die Gegensätze so heftig aufgerissen und das Volk so weitwirkend in weltanschaulich getrennte Lager aufgespalten, wi die offen bekundete, dem historischen Marxismus eingeborene Religionsfeindschaft. Viel würde für die Festigung des inneren Friedens, für eine gesunde Geistigkeit unseres öffentlichen Lebens und die allgemeine kulturelle Entwicklung geschehen sein, würde die „Mauer“ niedergelegt. Es würde wie eine Erlösung zu begrüßen sein.

Es macht erfreut aufhorchen, wenn von solchen Möglichkeiten gesprochen wird. Leider werden wir rasch enttäuscht. Denn man kann wenig erwarten, wenn uns gleichzeitig entgegengehalten wird, daß die „Kirchen kalt geworden sind in

zwei Jahrtausenden, kalt und prunkvoll

wie die Filiale eines modernen Bankhauses“ und der Sprecher nach heftigen Vorhalten gegen rechts für den Sozialismus in Anspruch nimmt: „W i r haben den wahren Glauben geerbt. Mit der Autorität unserer Toten von gestern, der Hungernden von heute und der glücklich Lebenden von morgen wollen wir von irdischen Dingen reden.“ — Wenn der Verzicht auf die „antireligiöse Einstellung“ nicKts anderes sein würde als ein Akt politischer Opportunität, der Berechnung, daß man anders nicht die erstrebte selbständige Führung von Parlament, Gesetzgebung, Staat erreichen könnte, wenn eine solche Revision nicht inneren Erkenntnissen, richtigeren sittlichen Werturteilen über Religion und Kirche entsprechen würde, könnte man von dem Wandel der( Einstellung wenig Bestand erwarten.

Können wir die jetzige tatsächliche Lage,

fernab von allen militanten Vorstellungen und Vergleichen, nicht anders sehen? Gebieterische Erfordernisse der Gegenwart haben seit einem Jahre die Parteien zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeführt. Die Größe des Unglücks ist nicht auszumalen, wäre es anders geschehen. Man hat gemeinsam Großes errungen, nicht zuletzt die Achtung der Welt für das kleine Land, das zwischen einer gärenden Umgebung mit erstaunlicher Selbstsicherheit den Weg zu seiner inneren Ordnung fand. Nie wird dieses Verdienst vergessen werden können. Im Frieden, nicht in der Begeisterung kämpferischer Triebe, wurde hier Leben und Ehre gewonnen. Man könnte von einer Lehrzeit sprechen.

Gewiß wird eine Zeit kommen, in der die jetzigen Bindungen gefallen sein und grundsätzliche Gegensätze nach einem

demokratischen Austrag verlangen werden. Aber auch dann werden wir dem Gemeinwesen am besten dienen, wenn dieser Austrag im Geiste der Achtung vor der redlichen Überzeugung des andern erfolgt und nicht jeder Mensch anderer Meinung als ein Feind angesehen wird, gegen den man mit eingelegter Lanze losgehen muß. Der Wert jeder Partei wird nicht nach der Stärke ihrer kriegerischen Phantasie und Veranlagung bestimmt, sondern von dem unbefangenen Urteil nach dem Maß ihrer positiven Leistung für das Gemeinwesen, ihrer Kraft, sich von schematischen Schlag-worten und politischen Traumbücheln zu emanzipieren. Was die Zeit zunächst verlangt, ist die Revision aller Vorurteile, die sich dem Verhältnis zu unseren Mitmenschen entgegenstellen. Die harte Schule, durch die wir lange genug gegangen, soll nicht umsonst sein.

Das Wesen des Christentums besteht in einer Betonung der Inneren Werte des Menschen. Wir wollen nicht Gleichheit, sondern innere Wertel Nur dann dürfen wir an die Lösung der sozialen Probleme herantreten wenn wir uns bewußt sind, daß es das Geistige ist, auf das es ankommt. Was wir glauben, schafft Leben, nicht, was wir sehenl...

Heute wie immer stehen wir vor der Aufgabe, unseren Christ-lichenGlaubenimsozialen Leben zu verwirklichen. Aber unser Zeitalter mit allen seinen Eroberungen im Reiche der Natur hat den Menschen, statt ihn zum Herrscher über die materielle Welt zu erheben, zu ihrem Sklaven gemacht. Geld und kaltes Wissen gelten alles.

Ramsay Macdonald, 1928

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