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Zwischen Sicherheit und Freiheit

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Wer die Befehls- und Zwangswelt des Rechtes nicht allein zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Staat, sondern auch zur Sicherung der freien Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen wertet, ist veranlaßt, diese Schutzfunktion des Rechtes im Hinblick auf die sich in steter Entwicklung befindlichen Bedürfnisse und Anliegen des einzelnen immer neu zu bedenken. In den Grundrechtsbestimmungen der einzelnen staatlichen Verfassungen findet dieses Bemühen seinen Ausdruck.

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Wer die Befehls- und Zwangswelt des Rechtes nicht allein zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Staat, sondern auch zur Sicherung der freien Entfaltung der Persönlichkeit des einzelnen wertet, ist veranlaßt, diese Schutzfunktion des Rechtes im Hinblick auf die sich in steter Entwicklung befindlichen Bedürfnisse und Anliegen des einzelnen immer neu zu bedenken. In den Grundrechtsbestimmungen der einzelnen staatlichen Verfassungen findet dieses Bemühen seinen Ausdruck.

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War das politische Wollen des einzelnen in vergangenen Zeiten in einer staatsfreien Sphäre auf die Gewährung einer Freiheit vom Staat durch die Einräumung liberaler Grundrechte oder Freiheitsrechte gerichtet und schloß sich ihm später in demokratischen Grundrechten auch ein Streben nach Sicherung der Mitbestimmung im Staat durch eine Freiheit im Staat an, ist dieses Bemühen in der Gegenwart in sozialen Grundrechten auf die Herbeiführung einer Freiheit durch den Staat gerichtet. Der Staat wird in Grundrechten nicht allein zu einem Unterlassen verpflichtet, sondern im Gegenteil zu einem Eingreifen und Tätigwerden aufgerufen. Der einzelne scheint die Flucht vor dem Staat aufgegeben zu haben. Auf diese Weise haben sich auch die Staatszwecke über den bloßen Rechts- und Machtzweck hinaus auf den Kultur- und Wohlfahrtszweck ausgedehnt. Ist der Staat in seinen Grundrechten vorwiegend auf die Gewährung der Freiheit gerichtet gewesen, welche dem einzelnen die eigenverantwortliche Entfaltung seiner Persönlichkeit erlaubt, so wird er heute veranlaßt, dem einzelnen auch die dazu erforderlichen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen zu bieten. An die Stelle liberaler Zurückhaltung ist die soziale Verantwortung getreten. Sie verlangt die Erfassung neuer Schutzobjekte für die Grundrechte und eine ihr angepaßte Rechtstechnik des Grundrechtsschutzes, welche eine Umstrukturierung vieler Teile des staatlichen Rechtsschutzsystems verlangt. Neue Dimensionen der personalen Würde sind uns einsichtig geworden.

Mitwirkung des einzelnen

Je nach ihren Schutzobjekten, können wir die Grundrechte in vier Gruppen einteilen, nämlich in die demokratischen, liberalen und sozialen Grundrechte, denen sich die Forderungen des Umweltschutzes anschließen. Während die demokratischen Grundrechte auf ein Tätigwerden des einzelnen und die liberalen Grundrechte auf ein Unterlassen des Staates gerichtet und seit langem so positiviert sind, verlangen die beiden letzteren, wie schon oben angedeutet, ein Tätigwerden des Staates.

Die politischen Grundrechte sind vor allem auf die Mitwirkung des einzelnen an der Staatswillensbildung und der Schaffung entsprechender Einrichtungen ausgerichtet. Dies machte etwa den grundrechtlichen Schutz des aktiven und passiven Wahlrechtes notwendig. Es bedarf im modernen Verbändestaat aber auch einer zeitgemäßen Form des Vereins- und Versammlungsrechtes, wobei den auf Vereinsbasis organisierten Parteien und Inter-essenverbänden eine demokratischen Grundsätzen angepaßte Form ihres Innen- und Außenverhältnisses aufzutragen wäre. Dies verlangt den Verfassungsgrundsätzen entsprechende Statuten für ihre Verbandsziele, eine Regelung ihrer Gebarung und ihrer Willensbildung, außerdem eines Schutzes, daß die Macht der Verbände und Parteien, die ja nur als Instrument der Teilnahme des einzelnen an der politischen Willensbildung des Staates verstanden werden sollten, sich nicht gerade gegen den einzelnen richten, dem sie dienen sollen.

Daneben gilt auch, zu beachten, daß das öffentliche Leben nicht zur Gänze nach den Grundsätzen der repräsentativen Demokratie institutionalisiert wird, sondern dem einzelnen auch Möglichkeiten der plebiszitären Demokratie eröffnet werden. Sie sollen die Einrichtungen der parlamentarischen Demokratie nicht ersetzen, sondern ergänzen. Das Volksbegehren, die Volksabstimmung und die Volksbefragung seien als Beispiele genannt. Je länger die Funktionsperioden unserer Parlamente der Längerfristigkeit ihrer Politik wegen werden sollten, desto mehr käme es darauf an, während dieser in einer den Grundsätzen der jeweiligen Verfassung und politischen Systeme gemäßen Form eine Kombination von plebiszitären und repräsentativen Komponenten im demokratischen Verfassungsstaat der Gegenwart zu erreichen.

Diese Verlebendigung der Demokratie könnte aber nur dann als Fortschritt gewertet werden, wenn die politischen Rechte allen Staatsbürgern eingeräumt werden und Personen, die, wie zum Beispiel die öffentlichen Bediensteten in einem besonderen Dienst- oder Gewaltverhältnis stehen, davon ebensowenig ausgeschlossen sind wie Personen wegen ihrer Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft zu einer politischen Partei oder einem Interessenverband benachteiligt werden. In dieser Weise bedarf heute der einzelne auch eines grundrechtlichen Schutzes vor der Gesellschaft und ihrer Einrichtungen, wie etwa vor den politischen Parteien und Interessenverbänden, die in dem Maße der Verstaatlichung der Gesellschaft auch zu verlängerten Armen des Staates werden können, wie manche Beispiele des Auslandes zeigen.

Um das Asylrecht

Im Zusammenhang damit gilt es auch, das Asylrecht und das Verbot der Auslieferung grundrechtlich zu schützen: Denn je mehr die Demokratie verlebendigt wird, desto mehr können auch Konfliktsituationen für den einzelnen entstehen. Diese sollten aber nicht zu einer physischen und psychischen Vernichtung des einzelnen führen, weshalb der einzelne zum Beispiel vor entsprechenden Vernehmungsmethoden geschützt werden sollte.

Die Ausübung vermehrter politischer Rechte verlangt auch eine Verbesserung der Bildung und ihres Angebotes. Das Recht auf Bildung auszudrücken ist ein kulturelles, politisches und soziales Anliegen unserer Zeit, wobei es darauf ankommt, dazu auch einfach gesetzlich die Voraussetzungen zu schaffen, damit keine lokalen und sozialen Unterschiede auftreten und jeder die Chance hat, eine seinen Fähigkeiten und Zielen entsprechende Ausbildung zu erlangen, die ihn zu lebenslanger Weiterbildung befähigt.

Diese Entsprechung der dynamischen Bildungsidee an Stelle einer statischen Bildungsidee ist deshalb auch ein besonderes Erfordernis, weil die derzeitige Wirtschaft überaus dynamisch ist und eines elastischen Arbeitsmarktes bedarf.

Diese Anliegen der Arbeitsmarktpolitik verlangen neben einer sozial-und fähigkeitsgerechten Bildung auch die Beachtung der Anliegen der Gast-, Wander- und Pendlerarbeiter, deren Lebensbedingungen oft als nicht menschenwürdig bezeichnet werden können.

Auf diese Weise hat der Staat nicht allein einem grundrechtlichen Auftrag zum Unterlassen, sondern auch zum Tätigwerden nachzukommen. Das ist vor allem bei den sozialen Grundrechten der Fall. Es handelt sich dabei um jene Rechte, die, beginnend mit dem Recht auf Arbeit auf soziale Sicherheit abgestellt sind. Mit dieser Forderung wird die bisher verlangte Trennung von Staat und Gesellschaft zurückgenommen und vom Staat ein gesellschaftspolitisches Engagement verlangt. Die europäische Sozialcharta hat diese Rechte sehr deutlich gemacht. Da diese Charta aber vorwiegend auf die Arbeitnehmer abgestellt ist, daneben aber auch die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung und der gewerbliche Mittelstand in den Umstrukturierungsprozeß der technisierten Industriegesellschaft miteinbezogen sind, käme es darauf an, auch diesen Bevölkerungsteilen den Schutz ihnen entsprechender sozialer Grundrechte angedeihen zu lassen. Im Zusammenhang mit diesen sozialen Grundrechten ist es interessant, daß es viele Staaten gibt, die sich, wie zum Beispiel Österreich, schon seit Jahrzehnten in einfachen Gesetzen auf dem Weg der Herbeiführung und Ausführung des sozialen Rechtsstaates befinden, ohne daß ihnen diese Ziele von der Verfassung oder einem internationalen Abkommen aufgetragen worden wären.

Schutz des einzelnen

Die Erkenntnis der Aufgaben des Umweltschutzes verlangt nach einem Rechtsschutz, der auf existentiellste

Rechte des Menschen gerichtet und heute zur Sicherung des Lebens und Überlebens des einzelnen notwendig ist. Denn welchen Sinn hätte auch kultureller Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit, wenn der einzelne sie entweder nicht gesund oder überhaupt nicht erlebt. Dieser Umweltschutz wird aber nicht allein durch innerstaatliche Maßnahmen erreicht werden können; die Umweltgefährdung macht vor Länder- und Staatsgrenzen nicht halt.

Diese beispielsweise genannten Forderungen einer Weiterentwicklung der Grundrechte werden bei der Mannigfaltigkeit ihrer Schutzobjekte eine genaue Differenzierung danach verlangen, welche Schutzobjekte in welcher Rechtsform grundrechtlich geschützt werden sollten. Die Möglichkeit des subjektiven öffentlichen Rechtes bietet sich ebenso an wie die Einrichtungsgarantie, der Programmsatz oder die Organisationsvorschrift. Dieser Hinweis auf eine differenzierte Normierung der einzelnen Grundrechte scheint deshalb notwendig, weil die Erweiterung des Grundrechtsschutzes über die sogenannten klassischen Grundrechte hinaus erfolgen und der Staat immer mehr auch zu einem Tun verpflichtet wird, wobei es notwendig ist, eine dem jeweiligen Schutzobjekt angepaßte Rechtsform des Grundrechtes zu finden, die das Bild abendländisch geprägter Menschenwürde im Auge haben muß. Nur allzuleicht kann dieses durch eine Nivellierung und Uniformierung des Grundrechtsschutzes verlorengehen; darum muß auch bei aller künftigen Entwicklung der Grundrechte beachtet werden, daß Sicherheit nicht auf Kosten der zu schützenden Freiheit des einzelnen geht.

Dr. Herbert Schambeck, Hochschulprofessor für Staatsrecht und Mitglied des Bundesrates, hielt Mitte Oktober ein Referat auf der Tagung des Europarates über „Die Entwicklung der Grundrechte“. Dieses Referat bildet die Grundlage dieses Beitrages.

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