6757472-1968_01_09.jpg
Digital In Arbeit

Sozialutopische Formulierungen

Werbung
Werbung
Werbung

In manchen Formulierungen der Europäischen Sozialcharta wird wieder der grundrechtlich zu schützende Wert sozialutopisch erfaßt, z. B. in Art. 4, in dem sich die Vertragsparteien verpflichten: „1. Das Recht der Arbeitnehmer auf ein ausreichendes Arbeitsgeld anzuerkennen, so daß Ihnen und ihren Familien eine angemessene Lebenshaltung gesichert ist.“ Diese Formulierung mag zwar proklamatorisch schön klingen und zugkräftig sein, positiv-rechtlich ausgeführt hätte dies zur Folge, daß für ein und dieselbe Dienstleistung ein verschiedenes Entgelt geleistet wird, je nachdem, ob sie ein Junggeselle oder ein Verheirateter, der kinderlos ist und eine berufstätige Ehefrau hat, oder ein verheirateter Kindervater, der Alleinverdiener ist, erbringt. Nach der Größe der Familie und nicht nach der Qualität und Quantität der Arbeitsleistung wäre dann der Lohn zu zahlen. Dieses System ist in keinem Wirtschaftssystem, das nur einigermaßen marktwirtschaftlich orientiert ist, durchführbar, denn es bedeutet notwendig •in Abgehen vom Leistungslohn;

umgekehrt hat aber auch nach dieser Formulierung des Art. 4 der für eine vielköpfige Familie sorgende Vater eine Gefährdung des Arbeitsplatzes für den Fall zu fürchten, daß ihm nicht auch ein qualifizierter Arbeitsschutz gewährt wird. Es wird sich nämlich kaum ein Unternehmen mittlerer Größe für den Fall, daß dieses sozial-grundrechtlich geforderte Abgehen vom Leistungslohn eingeführt wird, mehrere Familienväter als Dienstnehmer leisten können, die für eine vielköpfige Familie allein zu sorgen haben. Der Weg des Familienlastenausgleiches wird sicherlich die beste Möglichkeit sein, um, trotz Beibehaltung des Leistungslohnes, ein familiengerechtes Einkommen zu ermöglichen.

Familie und Staat

Merkwürdig mutet es auch an, daß das Recht der Familie auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz im Artikel 16 nach dem Recht der körperlich und geistig Behinderten auf Berufsausbildung, Rehabilitation und gesellschaftliche Wiedereingliederung im Art. 15 angeführt ist. Nach

: einer solchen Reihung darf es einen dann nicht wundern, wenn in diesem Art. 16 die Entfaltung der Familie 1 wohl als eine Grundeinheit der Gesellschaft anerkannt wird, das Familienleben selbst aber des wirtschaftlichen und sozialen Schutzes durch Maßnahmen der staatlich organisierten Gesellschaft für bedürftig angesehen und für sie „Mittel wie Sozial- und Familienleistungen, steuerliche Maßnahmen, Familienwohnungen, Beihilfen für junge Eheleute und andere geeignete Mittel“ gefordert werden, ohne nur in einem Nebensatz auch bloß die Mög lichkeit anzuerkennen, daß sich das Familienleben in einem bestimmten Maß auch aus eigener Kraft zu entfalten vermag. Nicht nur das Wohlergehen des einzelnen, sondern auch die Entfaltung der Familie als einer Grundeinheit der Gesellschaft wird von staatlichen Maßnahmen abhängig gemacht, Eigeninitiative wird nicht als vorhanden vorausgesetzt, und da die Familie im Art. 16 bloß als eine „Grundeinheit der Gesellschaft“ bezeichnet wird noch andere Grundeinheiten neben ihr angenommen, aber nicht angegeben.

Von besonderem Interesse erscheint in der Europäischen Sozialcharta die Stellung des einzelnen als Arbeitnehmer am Arbeitsmarkt. Ihm wird neben dem Vereinigungsrecht (Art. 5), dem Recht auf Kollektivverhandlungen (Art. 6) das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen (Art. 2), auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen (Art. 3), vor allem aber das Recht auf Arbeit als erstes soziales Grundrecht eingeräumt. Gerade in dem Recht auf Arbeit wird die Aufgabe der sozialen Grundrechte besonders deutlich: Sie sollen dem Arbeitnehmer des industriellen Zeitalters in derselben Weise ein „Standing“ sichern, wie die klassischen Grundrechte im 19. Jahrhundert es dem Angehörigen der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber getan haben. Der Bürger der liberalen Zeit wollte die Persönlichkeitsentfaltung in Freiheit gesichert wissen, er verlangte dafür politische Rechte und sein Eigentum garantiert, und das auch um den Preis vermehrter politischer Pflichten, die ja als notwendige Folge mit den politischen Rechten verbunden sind. Der Arbeiter und Angestellte der industriellen Zeit will seinen Arbeitsplatz gesichert wissen.

Die Freiheit soll nicht mehr bloß einigen durch Eigentumserwerb Privilegierten, sondern allen durch Arbeits- und Einkommenssicherung eine reale Entfaltungsmöglichkeit ihrer Persönlichkeit eröffnen. Gerade der Schutz des Eigentums in den klassischen Grundrechten zeigt, daß auch diesen Grundrechten, die sich in der Zeit der bürgerlichen Gesellschaft voll entfaltet haben, eine soziale Wurzel innewohnt. Mit der Freiheit der Person wird auch die Freiheit des Eigentums gesichert, weil man die soziale und wirtschaftliche Grundlage jeder Persönlichkeitsentfaltung erkannt hat. Das Eigentum hat ja mit die Aufgabe,

die Freiheit des einzelnen wirtschaftlich, sozial, kulturell und politisch zu sichern. In dem gegenwärtigen Industriezeitalter hat es den Anschein, daß die Abhängigkeit der Persönlichkeitsentfaltung des einzelnen von seinen ökonomischen Bedingungen zugenommen hat, daß es der sozialen Grundrechte geradezu als Voraussetzung und Bedingung dafür bedarf, daß die klassischen Grundrechte ihre Funktion erfüllen können: Die Sicherung der Freiheit und die Würde des Menschen. Es besteht daher unabhängig von den Formen ihrer Prägung durch das positive Recht ein idealer Zusammenhang zwischen den klassischen und sozialen Grundrechten. Diesen Zusammenhang gilt es für die innerstaatliche Durchführung der Europäischen Sozialcharta zu beachten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung