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Digital In Arbeit

Bild und Recht des Menschen

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In welcher Weise der menschlichen Person im Sozialgeschehen entsprochen werden kann, ist seit Jahrzehnten eines der Hauptprobleme der Menschen. Um die Beantwortung dieser Frage bemüht man sich nicht allein in der Sozialpolitik und dem Arbeitsrecht der einzelnen Länder, sondern auch auf internationaler Ebene.

Ein bemerkenswerter Versuch, der Lösung der sozialen Frage im zwischenstaatlichen Bereich nahe zu kommen, ist der Vertrag, den am 18. Oktober 1961 in Turin die bevollmächtigten Vertreter von 13 der 16 Mitgliedstaaten des Europarates in dem Entschluß unterzeichnet haben, „gemeinsam alle Anstrengungen zu unternehmen, den Lebensstandard ihrer Stadt- und Landbevölkerung zu verbessern und ihren sozialen Wohlstand“ durch geeignete Einrichtungen und Maßnahmen zu heben. Einen Weg dazu sucht die Europäische Sozialcharta durch artikelweise gefaßte soziale Grundrechte zu weisen.

Soziale Grundrechte

Es sind dies:

Das Recht auf Arbeit (Art. 1), auf gerechte Arbeitsbedingungen (Art. 2), auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen (Art. 3), auf ein gerechtes Arbeitsentgelt (Art. 4), das Vereinigungsrecht (Art. 5), das Recht auf Kollektivverhandlungen (Art. 6), der Kinder und Jugendlichen auf Schutz (Art. 7), der weiblichen Arbeitnehmer auf Schutz (Art. 8), auf Berufsberatung (Art. 9), auf berufliche Ausbildung (Art. 10), auf Schutz der Gesundheit (Art. 11), auf soziale Sicherheit (Art. 12), auf soziale und ärztliche Hilfe (Art. 13), auf Inanspruchnahme sozialer Dienste (Art. 14), das Recht der körperlich und geistig Behinderten auf Berufsausbildung, Rehabilitation und gesellschaftliche Wiedereingliederung (Art. 15), der Familie auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz (Art. 17), auf Ausübung Schutz und Bestand (Art. 19).

Sicherheit und Schutz des einzelnen

Betrachtet man die angeführte Nennung und Reihung der sozialen Grundrechte in der Europäischen Sozialcharta, so muß festgestellt werden, daß sie sich teilweise überschneiden und gegeneinander nicht genügend dogmatisch abgewogen sind; so ist z. B. der Art. 13 neben dem Art. 11 überflüssig, weil das Recht auf Schutz der Gesundheit auch das Recht auf soziale und ärztliche Hilfe umfaßt, auch beinhaltet der Art. 16, der den Familien ein Recht auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz gewährt, das Recht des Art. 19 der Wanderarbeiter und ihrer Familien auf Schutz und Bestand, und der Artikel 12 mit seinem Recht auf' soziale Sicherheit umfaßt auch das Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste, das in Art. 14 vorgesehen ist. Bisweilen wird auch ein Zustand, der sich als Folge einer gesellschaftspolitischen Entwicklung ergeben hat, als Grundrecht ausge geben, wie die soziale Sicherheit. Sie ist ein Streben nach Sicherheit und Schutz des einzelnen vor den Risken des Lebens durch Mittel staatlicher Sozialpolitik. Hier wird der Versuch unternommen, einen durch eine ideologieorientierte Politik herbeigeführten Zustand rechtlich zu unterbauen, um politischen Zielsetzungen einen zwingend notwendigen, allgemein gültigen Charakter zu verleihen. Ein Schutz vor den Lebensris- ken kann nämlich auch auf anderem Weg als den von der öffentlichen Hand geschaffenen bereitet werden, etwa durch Sparen und Eigentums beschaffung sowie den Abschluß privater Versicherungen.

Ein weiteres Merkmal einseitiger Ausrichtung der Bemühungen der Europäischen Sozialcharta um einen Schutz vor den Unsicherheiten des Lebens zeigt sich auch darin, daß im Teil I wohl das Vereinigungsrecht im Punkt 5 und das Recht auf Kollektivverhandlungen im Punkt 6 auf die Arbeitgeber und Arbeitnehmer abgestellt sind, die soziale Sicherheit im Punkt 12 sich aber nur auf die Arbeitnehmer bezieht. Dieser Standpunkt ist aber auch im Hinblick auf den heutigen Stand der staatlichen Sozialpolitik nicht angepaßt, zumal sich die Sozialgesetzgebung schon auf die in bäuerlichen und gewerblichen Betrieben tätigen selbständig Erwerbstätigen bezieht. Entsprechende familienpolitische Maßnahmen kommen z. B. in Österreich nicht nur Angehörigen der Arbeitnehmer, sondern auch der Arbeitgeber zugute. In ähnlicher Weise erstreckt sich der Mutterschutz des Art. 8 bloß auf die weiblichen Arbeitnehmer, obgleich eine Europäische Sozialcharta dieses Recht allen Müttern, z. B. auch der Bäuerin zuerkennen sollte.

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