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Sozialcharta und Grundrechte

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Seitdem freigewählte Volksvertreter im Jahre 1848 in Wien und in Kremsmünster über eine Verfassungsurkunde berieten, ist in Österreich um die Grundrechte gerungen worden. Liberalismus und das für Österreich eigene Nationalitätendenken beeinflußten das Werden der Grundrechte, wie Prof. Ermacora in seinem Werk „Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte“ hervorhebt. Daß der Grundrechtskatalog aus dem Jahre 1867, also nunmehr fast 100 Jahre alt, mit seinen Wurzeln zum Jahre 1848 hin, noch heute in voller Wirksamkeit ist, hat in einem der politischen Kompromisse seinen Grund, an denen das öffentliche Leben in Österreich so reich ist. Die Wandlung des Staates beim Untergang der Monarchie im Jahre 1918 hat Kräfte, die vordem untergründig gewirkt hatten, zu staatstragenden Kräften emporgehoben. Damals konnte zwischen den Parteien der Ersten Republik eine Einigung nicht erzielt werden. Dies war auch der Grund, warum man damals auf eine Neuredaktion der Grundrechte verzichtete, da sonst überhaupt die Verfassung in Frage gestellt worden wäre. Daher haben die Staatsgrundgesetze des Jahres 1867 Eingang in die Verfassung 1920 gefunden. Deshalb war und ist die österreichische Verfassungsur-Kunde ohne Rechtskatalog und daher ein Torso.

Die Grundrechte blieben somit in Ihrer Grundtendenz die gleichen, außer zwei neuen wesentlichen Bestimmungen: dem Gleichheitsgrundsatz und das Recht auf das Verfahren vor gesetzlichem Richter. Man kann also mit Recht behaupten, daß sich, abgesehen von diesen Ausnahmen, im wesentlichen an den Grundrechten in Österreich seit nunmehr fast 100 Jahren nichts geändert hat.

Selbstverständlich haben die Abgeordneten des Nationalrates immer wieder verlangt, daß die Grundrechte der Staatsbürger unserer Zeit angepaßt werden. Dazu kommt, daß die von Österreich nunmehr unterfertigte Europäische Sozialcharta bei der Aufstellung eines solchen Grundrechtskataloges eine Rolle spielen wird. In dieser Erkenntnis befaßt sich seit Jahren das Institut für Sozialpolitik und Sozialreform in einem Arbeitskreis hervorragender Fachleute mit der Aufstellung eines Kataloges der Grundrechte. Bewußt widmete auch das Institut das Heft Nummer 1 der neuen Folge seiner Schriftenreihe, die sich „Gesellschaft und Politik“ nennt, dem Problem der sozialen Grundrechte, und es erschien gerade zur Zeit, da die vom Bundeskanzler Dr. Klaus eingesetzte Grundrechtskommission im Bundeskanzleramt mit ihren Arbeiten begann.

Erfreulicherweise kann bereits zu Beginn der Beratungen festgestellt werden, daß die Atmosphäre, in der beraten wird, eine sehr gute und sachliche ist

Die Grundrechte betreffen vor allem die Freiheit der Person als Bürger und beziehen sich unter anderen auf Menschen als Angehörige einer Minderheit. Die Grundrechte gelten schließlich für Gemeinschaften, deren Zweck es ist, bestimmte menschliche Interessen zu vertreten. In erster Linie ging es um die Rechte der Person als Menschen, und zu diesen zählen die sogenannten Frei-

Der Verfasser ist als Mitglied der Grundrechtskommission im Bundeskanzleramt besonders befugt, zu diesem Thema Stellung zu nehmen.heitsrechte, wobei es um persönliche und geistige Freiheit geht.

In einer Zeit, in der es den absoluten Herrscher nicht mehr gibt, bedeuten andere Mächte für die menschliche Person, für ihre Würde und Freiheit, eine Gefahr, etwa die kollektiven Mächte, die sich heute in gewissen Apparaten und Organisationen zeigen. In dankenswerter Weise hat die Arbeiterkammer Salzburg vor zirka zweieinhalb Jahren eine Tagung mit dem Thema „Die kollektiven Mächte im Arbeitsleben“ veranstaltet. Wenn auch diese Tagung unter den kollektiven Mächten vor allem die Träger des kollektiven Arbeitsrechtes verstand, so hatte sie über ihren Rahmen hinaus dadurch Bedeutung, daß vor allem auch grundsätzliche Fragen zur Diskussion standen.

Die sozialen Grundrechte, die nur im Zusammenhang mit der allgemeinen Grundrechtsordnung gesehen werden können, normieren in erster Linie in positiver Weise einen subjektiven öffentlich-rechtlichen Anspruch des einzelnen gegenüber dem Staat auf positive Leistung. Sie sind aus diesem Grunde von den Grundrechten verschieden, weil sie positive Leistungen vom Staat fordern, während die Grundrechte dem Staat Schranken auferlegen. Ein verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht hat nur dann für den einzelnen Sinn und Bedeutung, wenn es für ihn unmittelbar klagbar ist. Wenn wir uns die Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta ansehen, so müssen wir erkennen, daß sie in vielem für den einzelnen kein solches judiziables Recht gewähren. Es würde in diesem Zusammenhang zu weit führen, auf die einzelnen Bestimmungen einzugehen. Wenn man aber nur die Bestimmung des Artikel 1 „Das Recht auf Arbeit“ herausgreift, so erscheint dies schon unmöglich, darin ein Grundrecht zu erblicken, da ein solches Recht auf Arbeit für den einzelnen niemals als klabgares Recht verfassungsmäßig gewährleistet werden kann. Die sozialen Grundrechte sind ihrer Struktur nach in Wirklichkeit nichts anderes als Motive und Programme für den Gesetzgeber. Es wird daher auch schwer sein, etwa die Europäische Sozialcharta in ihren Bestimmungen in den Verfassungsrang zu erheben, wobei es kaum eine Frage ist, daß einzelne ihrer Bestimmungen echte Grundrechte darstellen, wie zum Beispiel der normierte Schutz der Familie oder die Elternrechte. Daher wird es notwendig sein, die Europäische Sozialcharta dahingehend zu analysieren, wieweit sie echte Grundrechte enthält, die in einen Grundrechtskatalog aufzunehmen wären.

Bei der Überlegung des Verhältnisses der allgemeinen Grundrechte und im speziellen der sozialen Grundrechte treten eine Reihe von Fragen auf:

1. Wem sollen die Grundrechte zustehen? Sollen sie nur dem einzelnen Staatsbürger gewährt werden oder überhaupt jedem Menschen, der sich im Staatsgebiet aufhält? Sollen diese Rechte nicht nur physischen Personen, sondern auch den innerstaatlichen Organisationen, wie etwa Kammern, Körperschaften, Vereinen, Verbindungen usw., zustehen? Soll also nach dem Personalitätsprinzip oder nach dem Territorialprinzip vorgegangen werden?

2. Es muß überlegt werden, ob nicht dem Grundrecht eine Grundpflicht gegenüberstehen soll.

3. Welches Schutzobjekt ist Gegenstand der sozialen Grundrechte? Sollen sich diese Grundrechte auf soziale Einrichtungen beschränken . oder soll durch sie auch ein Konzept einer Wirtschaftsverfassung mit erfaßt werden?

4. Schließlich muß auch daran gedacht werden, diese Grundrechte zu schützen.

Es ist also gar keine Frage, daß uns die Sozialcharta noch manche Probleme zu lösen geben wird, vor allem dann, wenn es sich darum handeln sollte, sie auf Verfassungsebene zu erheben. Der überlieferte Grundrechtskatalog hat seine Wurzel darin, daß die Grundrechte Schranken für den Eingriff des Staates schaffen. Einen Leistungsstaat mit klagbaren Grundrechten auf der Basis der Verfassung muß man ablehnen: dies würde das Ende der Gewaltentrennung und damit das Ende des Rechtsstaates bedeuten. Der Unterschied ist also der: im Staat des Freiheitsgedankens darf jeder mit Recht alles tun, was ihm nicht ausdrücklich verboten ist. Im Sinne eines Leistungsstaates dürfte der Staatsbürger aber nur das tun, was ihm erlaubt ist. Und das ist der gewaltige Unterschied. Ein Blick nach dem Osten dürfte genügen, um die Konsequenzen deutlich zu sehen.

Es ist auch die Frage zu stellen, ob es sich bei den sogenannten „sozialen Grundrechten“ überhaupt um grundrechtartige Forderungen in sozialer Hinsicht handelt. Das bedeutet aber nicht, soziale Grundrechte überhaupt zu leugnen oder abzulehnen, sondern zu prüfen, ob sogenannte soziale Grundrechte, die sich inhaltsmäßig auf die herkömmlichen Grundrechte des Grundrechtsbegriffes zurückführen lassen, in einen Katalog aufzunehmen sind. Man kann einen Katalog nicht in einen der aligemeinen und in einen der sozialen Grundrechte teilen. Sind die sozialen Grundrechte eben Grundrechte, also vereinbar mit dem Grundrechtsbegriff, dann sind sie in den Katalog als Teil der Verfassung aufzunehmen. Um es nochmals zu betonen: diese Grundrechte müssen jenen kollektiven Mächten entgegengestellt werden, die heute die Freiheit des einzelnen bedrohen. Zweifellos können aber Bestimmungen, denen lediglich programmatischer Charakter zukommt und die nicht klagbar sind, nur im Wege der einfachen Gesetzgebung verwirklicht werden. Als Grundrechte sind nur solche anzusprechen, die dem einzelnen eine Sicherung vor willkürlichem Zugriff verbürgen und damit seinen Rechtsbereich sichern. Als solche sind die Grundrechte Baugesetze und fundamentales Verteilungsprinzip des Rechtsstaates. Auch die sogenannten sozialen Grundrechte haben sich diesen Begriffen unterzuordnen. Es können nur solche Rechte als Grundrechte normative Anerkennung finden, die inhaltlich den vorhin erwähnten Grundsätzen entsprechen. Das bedeutet, die bestehenden Grundrechte zu erweitern, um den einzelnen dort zu schützen, wo ihn neue im Staat effektiv gewordene kollektive Mächte in seiner Freiheit bedrohen. Ein Grundrechts-katalog hat sich eben an diesen Wertvorstellungen zu orientieren.

Der Kommission aber stehen große Aufgaben bevor. Im Interesse der Sache sollte der Katalog in einem Guß und nicht stückweise entstehen. Jedenfalls ist es hoch an der Zeit, daß Österreich die Grundrechte des Staatsbürgers modernen Gegebenheiten anpaßt.

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