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Die Minderheiten und ihr Schutz

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Ein unparteiischer Zeuge ergreift in dem nachstehenden Aufsatz das Wort. Beteiligt nach dem ersten Weltkrieg als Vertreter Ungarns an den Verhandlungen über das Minoritätenrecht und wohlerfahren in dieser Rechtssphäre, lenkt Ernst Graf Zidiy die Aufmerksamkeit auf einen bisher wenig beachteten Punkt: Wer ist denn überhaupt in Sachen des Minoritätenrechtes klage- und verhandlungsberechtigt? Er kommt zu dem Schluß, daß die Frage, die in London de facto durch die Macht der Siegerstaaten beantwortet wurde, de jure gegen die Legitimation der jetzigen Verhandlungen in London beantwortet werden muß. „Die österreichische Furche“

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Ein unparteiischer Zeuge ergreift in dem nachstehenden Aufsatz das Wort. Beteiligt nach dem ersten Weltkrieg als Vertreter Ungarns an den Verhandlungen über das Minoritätenrecht und wohlerfahren in dieser Rechtssphäre, lenkt Ernst Graf Zidiy die Aufmerksamkeit auf einen bisher wenig beachteten Punkt: Wer ist denn überhaupt in Sachen des Minoritätenrechtes klage- und verhandlungsberechtigt? Er kommt zu dem Schluß, daß die Frage, die in London de facto durch die Macht der Siegerstaaten beantwortet wurde, de jure gegen die Legitimation der jetzigen Verhandlungen in London beantwortet werden muß. „Die österreichische Furche“

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Sowohl der Völkerbund als auch die Völkerbundligen haben sich Jahre hindurch mit der Frage der Minderheiten und ihren Rechtsverhältnissen beschäftigt; ich selbst wurde zu vielen solchen Verhandlungen zugezogen oder mit diesbezüglichen Arbeiten betraut.

Der gesetzlich und rechtlich kodifizierte Begriff einer Minorität — Minderheit —, taucht zum erstenmal in den Friedensverträgen, die nach Beendigung des Krieges von 1914—18 abgeschlossen wurden, auf.

Der Staatsvertrag von St.-Germain-en- Laye vom 10. Oktober 1919, abgeschlossen zwischen den .alliierten und assoziierten Mächten einerseits und Österreich andererseits, enthält im Abschnitt V des III. Teiles, Artikel 62—69, alle, die Minderheiten betreffenden Bestimmungen.

Um in dieser Frage klar sehen zu können, seien diese Bestimmungen kurz ins Gedächtnis zurückgerufen. Einleitend wird angeordnet, daß die im gegenwärtigen Abschnitt enthaltenen Bestimmungen als Grundgesetz anerkannt werden und daß dieselben vor jeder anderen gesetzlichen Bestimmung das Vorrecht haben soll. Artikel 63 bestimmt, daß Österreich a’llen seinen Einwohnern ohne Unterschied der Geburt, Staatsangehörigkeit, Sprache, Rasse oder Religion vollen und ganzen Schutz von Leben und Freiheit zu gewähren hat. Die Artikel 64 und 65 enthalten die Bestimmungen über die österreichische Staatsangehörigkeit aller Personen, die zur Zeit des Inkrafttretens des gegenwärtigen Vertrages das Heimatrecht auf dem österreichischen Staatsgebiet besitzen, oder auf österreichischem Staatsgebiet geboren wurden und keine andere Staatsangehörigkeit haben oder geltend machen. Artikel 66 behandelt die Gleichheit sämtlicher österreichischer Staatsangehöriger vor dem Gesetz, und zwar ohne Rücksicht auf einen Unterschied der Rasse, der Sprache oder der Religion. Laut Artikel 67 haben österreichische Staatsangehörige, die einer Minderheit nach Rasse, Sprache oder Religion angehören, das Recht auf dieselbe rechtliche und faktische Behandlung wie die anderen österreichischen Staatsangehörigen; insbesondere können sie auf ihre eigenen Kosten Wohl- fahrts- und Religionseinrichtungen sowie Schulen errichten und erhalten, in denselben ihre Sprache nach Belieben gebrauchen und ihre Religion frei ausüben. Artikel 68 bestimmt, inwieweit sich der österreichsiche Staat in diese Einrichtungen zu mischen, beziehungsweise sich um dieselben zu kümmern hat. Und schließlich enthält der Artikel 69 die grundlegende Bestimmung, daß die im Abschnitt V enthaltenen Maßnahmen, soweit dieselben Personen berühren, die nach Rasse, Sprache oder Religion einer Minderheit angehören, Verpflichtungen von internationalem Interesse darstellen und unter die Garantie des Völkerbundes gestellt werden. Jedes Mitglied des Rates des Völkerbundes hat das Recht, die Aufmerksamkeit des Rates auf jede Verletzung oder Gefahr einer Verletzung irgendeiner dieser Verpflichtungen zu lenken, und der Rat wird berechtigt sein, im gegebenen Fall in geeigneter und wirk- samer Weise vorzugehen. Bei Meinungsverschiedenheiten über Rechts- oder Tatfragen, diese Artikel betreffend, welche als Streitfälle von internationallem Charakter anzusehen sein werden, müssen diese Streitfälle auf Verlangen des enderen Teiles dem ständigen internätic alea Gerichtshof unterbreitet werden, gegen dessen Entscheidungen es keine Berufung gibt.

Nun müssen wir uns einmal klar werden, was eine Minderheit eigentlich ist und welche Bedingungen erfüllt werden müssen, um eine bestimmte Gruppe von Angehörigen eines Staates als solche ansprechen zu können.

In sämtlichen Staatsverträgen des Jahres 1919 wird nur von „Minderheiten nach Rasse, Sprache oder Religion“ gesprochen; demnach sind es diese Merkmale, die als die maßgebenden Eigenschaften hingestellt werden, welche eine gewisse Gruppe von Staatsangehörigen von der staatenbildenden Mehrheit zu unterscheiden haben. Auf Grund dieser unterscheidenden Merkmale wird also die betreffende Gruppe von Staatsbürgern als Minorität angesehen, anerkannt und behandelt werden müssen.

Dies ist die einzige unmittelbare Umschreibung der Minorität, die einzige Handhabe einer genauen Begriffsbestimmung, die übrigens amtlich niemals erfolgt ist; sie ist auch vollkommen unzulänglich, denn sie läßt eine ganze Reihe von Fragen unbeantwortet.

Wir könnten noch einen mittelbaren Schluß auf die Begriffsbestimmung der Minderheiten ziehen, denn wir haben so etwa wie eine Aufzählung derselben. Die alliierten und assoziierten Mächte haben nämlich mit einer Reihe von Staaten Staatsverträge abgeschlossen, in denen die Minoritätenklauseln fast gleichlautend enthalten sind. Demnach kämen nur jene Gruppen von Staatsbürgern als Minoritäten in Betracht, die sich in denjenigen Staaten befinden, mit welchen im Jahre 1919 Staatsverträge abgeschlossen wurden, und die sich von ihren staatenbildenden Mehrheiten durch ihre Rasse, Sprache oder Religion unterscheiden, zum Beispiel die Deutschen in der Tschechoslowakei oder die Ungarn in Rumänien. Keinesfalls gelten aber die Minoritäten- klauseln für die Deutschen in Frankreich, die Schweden in Finnland oder die sehr große Menge der Ungarn, Slowaken, Ukrainer, Tschechen, Rumänen usw. in den Vereinigten Staaten, oder für die dortigen Neger, trotzdem sie sich nach Rasse, Sprache und Religion von der staatenbildenden Mehrheit des amerikanischen Volkes bedeutend unterscheiden.

Wir sehen also, daß die durch die Staatsverträge des Jahres 1919 gegebene direkte und indirekte Begriffsbestimmung versagt hat und trotzdem wurde zwei Jahrzehnte lang ausschließlich auf Grund dieser Begriffsbestimmung über Millionen von Menschen verhandelt und beschlossen. Den jetzigen Verhandlungen über die Kärntner Slowenen liegt auch keine andere zugrunde.

Ebenso mangelhaft wie die Begriffsbestimmung der Minoritäten, ist auch die Garantie ihres Rechtsschutzes, welche in drei Bestimmungen verankert ist:

1. wird der Schutz der Minderheiten als Staatsgrundgesetz in die Verfassung der betreffenden Staaten eingebaut mit der Bestimmung, daß keine wie immer geartete Verfügung diesem Grundgesetz widersprechen dürfe.

2. kann ein Mitglied des Rates des Völkerbundes diesen auf eine erfolgte oder drohende Verletzung der Minderheiten- rechte aufmerksam machen, worauf dann der Rat die entsprechenden Maßnahmen treffen kann und

3. haben sämtliche Fragen, welche den Minoritätenschutz angehen, internationalen Charakter und gehören letzten Endes vor das Haager Schiedsgericht.

Die Ligen für den VöIkerbund haben sich jahrelang mit diesen Mängeln befaßt und nach eingehenden Beratungen einen Ausschuß zur Ausarbeitung von Vorschlägen ernannt, in weldien ich mit der Vertretung Ungarns betraut wurde. Wir schritten zunächst an die Definition des Begriffes „Minderheit“ auf Grund einer von mir eingebrachten Anregung, in welcher ich erklärte, daß unsere ganze Arbeit keinen Sinn hätte, wenn wir vorerst keine Klarheit darüber hätten, für wen wir eigentlich arbeiten. Unsere eigentliche Aufgabe war nämlich die Ausarbeitung eines Statuts, welches den Zweck haben sollte, die Garantie der Minderheitenrechte soweit als möglich zu sichern. Zunächst aber mußte einwandfrei feststehen: Wer hat das Recht, als Minorität zu gelten. Also zunächst unanfechtbare Definition des Begriffes der Minderheit.

Mit der Lösung der Frage der Definition wurde ich, der die Frage aufgeworfen hatte, betraut, und veranstaltete von Budapest aus eine weit ausgreifende Rundfrage an eine Reihe von ungarischen und ausländischen Politikern und Rechtsgelehrten, und erhielt auch eine große Anzahl sehr lehrreicher Antworten. Als Endergebnis und Zusammenfassung dieser Antworten entstand dann die folgende Definition:

„Minoritäten sind jene Gruppen von Angehörigen eines Staates, die sich von der staatenbildenden Mehrheit durch bestimmte Merkmale (Rasse, Sprache oder Religion) unterscheiden und auf den gesetzlich verankerten Schutz ihrer aiuf diesen unterscheidenden Merkmalen fußenden Einrichtungen Anspruch zu erheben berechtigt sind.“

Diese Definition bildete somit die Grundlage für die weiteren Arbeiten des Ausschusses. Es sollte ein Verfahren ausgearbeitet und dem Völkerbund zur Annahme unterbreitet werden, welches das Recht des Eingreifens anläßlich einer erfolgten oder drohenden Verletzung der Minoritätenrechte nicht nur einem Mitglied des Rates des Völkerbundes vorbehält, sondern es auf alle Mitglieder des Völkerbundes, besonders aber auch auf die rechtlich anerkannten Vertretungen der Minderheiten ausdehnt.

Alle unsere Bestrebungen, eine Änderung der Lage herbeizuführen, scheiterten am starren Festhalten der Gegner an der Unverletzlichkeit der Souveränität. Die Bestimmung, wonach der ganze Fragenkomplex des Minderheitenschutzes zu einer Angelegenheit von internationalem Interesse erklärt, und unter die Kompetenz des Völkerbundes gewiesen wird, bedeutete nämlich einen Eingriff in die Souveränität derjenigen Staaten, die den Minoritätenschutz auf Grund eines Staatsvertrages auf sich genommen haben. Für diese Staaten wurde diese Angelegenheit zu einer Frage des internationalen Rechtes, die aus dem Bereiche ihrer eigenen Souveränität herausgehoben und unter die — übrigens nie anerkannte und immer bezweifelte — höhere Souveränität des Völkerbundes eingeordnet wurde. Man fand damals die schöne Formel, daß diese Staaten ihre Souveränität eben kraft ihrer Souveränität in diesem Punkte beschränkt haben.

Professor Lapradelle, der bekannte Schöpfer des in den zwanziger Jahren neu geschaffenen Luftrechtes, hat gelehrt, daß der Begriff der Souveränität durch die Tatsache der Schaffung des Völkerbundes, der vielfach bestehenden regionalen Verträge und außerdem auch durch den unglaublichen Fortschritt der Nachrichtenübermittlung und der Verkehrsmittel schon automatisch so viele Einbußen erlitten hat, daß er durch die Begriffe Autorite, Efficacite und Responsabilite (Ansehen, Kraft und Verantwortung) ersetzt werden sollte; Verantwortung vor den eigenen Staatsbürgern und dem Ausland gegenüber. Hätte die Lapradellsche Theorie in die Tat umgesetzt werden können, wären auch die Arbeiten unseres Ausschusses erfolgreicher gewesen. So aber blieb alles beim alten, und die so schön angelaufenen Pläne unseres Ausschusses sind im Sande verlaufen.

Seitdem ist ein gewaltiges Geschehen über uns gekommen. Vieles wurde zerstört, vieles ist untergegangen, und vieles wieder erstanden.

Die österreichische Verfassung hat manchen Wandel erlebt, doch der Abschnitt V des III. Teiles des Staatsvertrages von St.-Germain hat bis zum heutigen Tage seine volle Gültigkeit behalten. Das Verfassungsgesetz des Jahres 1945 hat das Bundesverfassungsgesetz in der Fassung von 1929 und alle übrigen Gesetze nach dem Stande der Gesetzgebung vom 5. März 1933 wieder in Wirksamkeit gesetzt, und dieses Verfassungsgesetz enthält in seiner Fassung von 1929 ausdrücklich die Bestimmung, daß der Abschnitt V des III. Teiles des Staatsvertrages von Saint- Germain als Verfassungsgesetz zu gelten hat. Österreich ist also heute genau so, wie zu Zeiten seiner völligen Unabhängigkeit und zu Lebzeiten des Völkerbundes verpflichtet, seinen Minderheiten den in diesen Artikeln vorgeschriebenen Schutz zukommen zu lassen. Dieser Schutz besteht aber keinesfalls: weder in der Abtretung des — übrigens gar nicht abgrenzbaren — slowenischen Gebietes von Südkärnten noch in der Gewährung einer von den Jugoslawen geforderten Autonomie. Der österreichische Minister d s Äußeren steht ganz riditig auf dem Standpunkt, daß die Erfüllung dieser Forderungen unter keinen Umständen mit der österreichischen Verfassung in Einklang gebracht werden kann.

Die Rolle des jugoslawischen Delegierten in London kann aber auch nicht mit den in die österreichische Verfassung eingebauten Bestimmungen des Staatsvertrages von St.-Germain in Einklang gebracht werden, denn dieser bestimmt, daß ein Mitglied des Völkerbundrates — und nur ein solches — das Recht haben solle, zugunsten von Minoritäten einzuschreiten. Das Recht des Vertreters des Staates gleicher Nationalität wurde nie anerkannt und immer aufs energischeste bekämpft. Ein solcher konnte nur als Ratsmitglied, im Falle er zufällig Mitglied des Rates war, nie aber als Vertreter des Staates gleicher Nationalist zugunsten der rassisch, sprachlich oder religionsmäßig gleidien Minoritäten eines anderen Staates einschreiten.

Der Völkerbund hat aufgehört zu existieren und die Frage seines Rechtsnachfolgers ist noch ungeklärt. “Wenn es die UNO ist, sollten doch die Verhandlungen über den Schutz der slowenischen Minderheiten Österreichs nach den Gesetzen des Völkerbundes und der österreichischen Verfassung vor dem entsprechenden F o- r u m der U N O stattfinden.

Jede Verhandlung über Minoritätenschutz vor einem anderen Forum als dem Völkerbund oder seinem Rechtsnachfolger ist nach den in die österreichische Verfassung eingebauten und heute noch uneingeschränkt geltenden Bestimmungen des Staatsvertrages von St.-Germain verfassungswidrig und ungesetzlich!

Die Versammlung in London, vor der die gegenwärtigen Verhandlungen stattfinden, ist nicht als Rechtsnachfolgerin des Völkerbundes anzusprechen. Sie ist eine Maßnahme, begründet auf dem Recht der Sieger.

Aber eben diese Sieger haben feierlich erklärt, Österreich sei kein besiegter, sondern ein befreiter Staat, und haben die vollständige Unabhängigkeit und Souveränität Österreichs als das Ziel ihrer Bestrebungen hingestellt. Sie haben die Verfassung des Jahres 1945, daher auch die Gültigkeit der Bestimmungen über Minoritätenschutz anerkannt und bestätigt. Mit den Londoner Verhandlungen verletzen sie die von ihnen selbst aufgestellten und als internationales Recht geltenden Grundsätze. Schon die Tatsache allein, daß diese Verhandlungen überhaupt aufgenommen wurden, war eine Rechtswidrigkeit, die schwer auf einem wehrlosen Staat lasten muß.

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