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Ein Schritt über Kelsen hinaus

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Die österreichische Bundesverfassung ist rechtspositivistiscl konzipiert, mag auch in bestimmten Belangen — insbesondere bei den Grundrechten — naturrechtlicher Einfluß erkennbar sein Ihre rechtsphilosophische Grundlage sollte neu überdacht werden. Schon eine erhöhte Bestandsgarantie für bestimmte Grundrechte wäre ein wichtiger Fortschritt, gleichgültig, ob man dies« Grundrechte absolut starr stellt oder eine künftige Abänderung an eine Volksabstimmung bindet. Der Gesetzesvorbehalt bei Grundrechten wäre wesentlich einzuschränken. — Eine Bestandsaufnahme aller wichtigen Vorschläge für eine Änderung der Bundesverfassung tut not.

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Die österreichische Bundesverfassung ist rechtspositivistiscl konzipiert, mag auch in bestimmten Belangen — insbesondere bei den Grundrechten — naturrechtlicher Einfluß erkennbar sein Ihre rechtsphilosophische Grundlage sollte neu überdacht werden. Schon eine erhöhte Bestandsgarantie für bestimmte Grundrechte wäre ein wichtiger Fortschritt, gleichgültig, ob man dies« Grundrechte absolut starr stellt oder eine künftige Abänderung an eine Volksabstimmung bindet. Der Gesetzesvorbehalt bei Grundrechten wäre wesentlich einzuschränken. — Eine Bestandsaufnahme aller wichtigen Vorschläge für eine Änderung der Bundesverfassung tut not.

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Einmal mehr wurde die bereits historische Rolle, die Hans Kelsen im Jahre 1920 als Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung gespielt hat, anläßlich seines kürzlichen Ablebens gewürdigt. Kelsen hatte diese Leistung unter schwierigsten politischen Umständen erbracht. Daß er dabei der Bundesverfassung seinen rechtsphilosophischen Stempel aufprägen und mit der von ihm konzipierten Verfassungsgerichtsbarkeit eine weltweit bahnbrechende verfassungspolitische Tat setzen konnte, mag zusätzlich Beweis für seine überragende Kraft sein. Dennoch ist die Frage nach den rechtsphilosophischen Grundlagen der Bundesverfassung neuerlich zu stellen. Man muß prüfen, ob diese auch heute noch tragfähig sind.

Kelsen legte die Bundesverfassung voll und ganz im Geiste des von ihm führend vertretenen Rechtspositivismus an. Jeder Bezug auf ein den Menschen vorgegebenes und von ihnen letztlich nicht abänderbares Recht, sei es göttliches oder ein anderes Natunrecht, fehlt. Die Bundesverfassung hat, wie Adolf Julius Merkl treffend formulierte, einen Rechtswegestaat zum Gegenstand: Die wesentlichen Organe des Staates und ihre Funktionen werden hier juristisch geordnet, ohne' daß sie einem bestimmten, alles umfassenden weltanschaulichen Leitbild verpflichtet wären. Sofern die Gesetze und die anderen Akte staatlicher Willensbildung in dem In Verfassung und Gesetz vorgeschriebenen Prozeß zustande kommen, sind sie juristisch weitgehend unanfechtbar. Bei Gesetzen bestimmt daher die in der Verfassung verlangte oarlamen-tarische Mehrheit grundsätzlich frei über den Inhalt. Freilich wäre es unrichtig, eine solche Verfassung geringzuschätzen. Rechtsstaat und Demokratie, welche die Verfassung in einem — allerdings nicht voll ausgebildeten — Bundesstaat verwirklicht, sind schon für sich allein entscheidende Grundwerte eines freiheitlich verfaßten Staates. Hinzu kommen materiellrechtlich die Grundrechte. Obwohl sie im Jahre 1920 auf Grund eines politischen Kompromisses im wesentlichen aus dem Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 übernommen wurden, ohne daß es in der Bundesverfassung selbst zu einer umfassenden und zeitnäheren Regelung kam, sind sie doch ein halbwegs brauchbares Instrument, um den Bürger gegenüber Ubergriffen des Staates und anderer öffentlicher Hände abzusichern. Wer das Naturrecht bejaht, wird in dem Konglomerat von grundrechtlichen Bestimmungen, wie es das geltende Bundesverfassungsrecht aufweist, auch einen Niederschlag naturrechtlicher Gedanken erblicken können.

Nicht zuletzt die Verrohung des Rechtslebens, die insbesondere im Dritten Reich einen bedauerlichen Höhepunkt erreicht hat, mag dazu geführt haben, daß das Bonner Grundgesetz von 1949 in seinem Artikel 20 Rechtsprechung und Verwaltung an „Gesetz und Recht“ bindet. Ausdrücklich wird damit neben das positive Recht präpositives, vorgefundenes Recht gestellt, letztlich also Naturrecht anerkannt. Andere Bestimmungen der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland verstärken diesen Gedanken. Die deutsche Gerichtsbarkeit hat ihn in Ihrer Judikatur aufgegriffen. Es sollte nicht von vornherein abwegig sein, auch in die verfassungspolitische Diskussion unseres Landes pro futouro die Frage nach einer zumindest grundsätzlich naturrechtlichen Fundierung der Verfassung einzubringen, zumal es der Verfassungsgerichtshof, zweifellos dem Geiste der geltenden Verfassung entsprechend, bisher strikte abgelehnt hat, präpositives Recht anzuerkennen. Wer den zunehmenden Pluralismus berücksichtigt, der nahezu auf allen Gebieten die Gesellschaft unserer Zeit kennzeichnet, wird allerdings eine ausdrückliche Stellungnahme des österreichischen Verfassungsgesetzgebers zum Naturrecht weiterhin für nur schwer erreichbar halten. Weiterhin würde, wenn es zu einer solchen Stellungnahme nicht kommen sollte, Art. 1 B-VG mit seiner Erklärung, daß das Recht der demokratischen Republik Österreich vom Volk ausgeht, die Frage nach einem präpositiven Recht offenlassen und jedenfalls dessen rechtliche Relevanz für die österreichische Rechtsordnung ausschließen. Eine andere Frage ist es jedoch, welche dringend nötigen Änderungen des Bundesverfassungsrechtes auf Grund ihres Inhaltes naturrechtliche Aspekte berühren würden.

Zunächst ist zu erwägen, ob bestimmte leitende Grundsätze der österreichschen Verfassung absolut starr gestellt werden sollten, so daß sie künftig nicht mehr abänderbar wären, es sei denn durch Verfassungsbruch. Das Bonner Grundgesetz ist absolut starr bezüglich des föderalistischen Prinzips sowie der in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze (Schutz der Menschenwürde und demokratisch rechtsstaatliche Verfassung in einem sozialen Bundesstaat). Es geht damit einen eher extremen Weg. Zweifellos stellt der Bundesstaat eine sehr wichtige, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Einrichtung dar. Ob er aber bei einer geradezu unaufhaltsamen internationalen Verflechtung, die immer größere Räume zusammenwachsen läßt, noch im 21. Jahrhundert funktionieren wird, muß wohl einer künftigen Entscheidung vorbehalten bleiben. Der künftige Verfassungsgesetzgeber sollte nicht a priori in den Rechtsbruch getrieben werden, wenn er eines Tages genötigt wäre, die föderalistische Ordnung unabweislichen Erfordernissen geänderter Verhältnisse anzupassen. Anders bei den Grundrechten. Gerade in einer Zeit, in welcher der Staat die Freiheitsbereiche des Menschen immer mehr beschneidet, wäre eine absolute Fixierung der leitenden Grundsätze der Grundrechte als positives Bekenntnis zu einer freiheitlich verfaßten Menschenwürde ernstlich zu überdenken. Die in Österreich seit Jahren laufende Grundrechtsdiskussion, die in absehbarer Zeit in ein entscheidendes Stadium treten wird, darf an diesem Fragenkomplex nicht vorbeigehen. Freilich ist zuzugeben, daß schon die fortschreitende Bindung der Republik Österreich an internationale Verträge bei den Grundrechten eine Bindung des Staates an einmal übernommene Pflichten in hohem Maße bewirkt.

Eine zusätzliche innerstaatliche Absicherung der Grundrechte gegen künftige Akte des Verfassungsgesetzgebers wäre gleichwohl wünschenswert. Sollte sich der Bundesverfassungsgesetzgeber aber nicht entschließen, auch nur die leitenden Grundsätze der Grundrechte absolut starr zu stellen und sie damit einem künftigen Zugriff des Verfassungsgesetzgebers zu entziehen, wäre eine erhöhte Bestandsgarantie in Gestalt des Erfordernisses einer obligatorischen Volksabstimmung für jegliche

Abänderung oder gar Aufhebung dieser Grundrechte zu überlegen. Zwar bestimmt Art. 44 Abs. 2 B-VG schon jetzt, daß jede Gesamtänderung der Bundesverfassung einer Abstimmung des gesamten Bundesvolkes zu unterziehen ist, doch fehlt in der Verfassung ein Hinweis, wann eine solche Gesamtänderung vorliegt. In den wenigen Fällen, in denen sich bisher der Verfassungsgerichtshof mit dieser Frage befaßte, hat er den Begriff der Gesamtänderung sehr eng interpretiert. Noch nie hat seit 1920 eine Volksabstimmung wegen Gesamtänderung der Bundesverfassung stattgefunden. Man sage nicht, daß der eilige Bürger mit solchen Volksabstimmungen überfordert wäre. Sosehr es zwar nach Schweizer Erfahrungen problematisch erscheint, den Stimmbürger auf allen Ebenen der staatlichen Gemeinschaft in oft recht verzwickten Sachfragen zur Abstimmung aufzurufen, so wichtig wäre es, ihn dann obligatorisch zu befragen, wenn es um vitale Belange seines Lebensraumes innerhalb der staatlichen Gemeinschaft geht. Solcherart unter einen qualifizierten Schutz der Bundesverfassung gestellte Grundrechte wären in einem novellierten Art. 44 Abs. 2 B-VG ausdrücklich zu bezeichnen, wie es überhaupt dringend notwendig wäre, die Effizienz dieser Bestimmung durch eine entsprechende Präzisierung sicherzustellen.

Die Diskussion eines neuen österreichischen Grundrechtskatalogs wird auch sonst über den Kompromiß von 1920 hinausführen müssen. Erst kürzlich hat Edwin Loeben-stein, bis vor wenigen Tagen Chef des Verfassungsdienstes des Bundeskanzleramtes und nunmehr Präsident des Verwaltungsgerichtshofes, bei der Eröffnung des Fünften österreichischen Juristentages über den Stand der Arbeiten des beim Bundeskanzleramt eingerichteten Grundrechts-Expertenkollegiums berichtet. Sosehr es der Verfassungsgerichtshof verstanden hat, den an sich antiquierten Grundrechtskatalog von 1867 den längst geänderten gesellschaftlichen Bedingungen in-terpretativ anzupassen, so unbefriedigend ist insbesondere die unzureichende Absicherung des individuellen Freiheitsraumes. Selbst wichtigste Grundrechte sind derzeit nur unter dem Gesetzesvorbehalt gewährleistet, so daß der einfache Gesetzgeber nahezu ungehindert in sie eingreifen kann. Nur ihr Wesensgehalt, gleichsam der harte Kern des Grundrechtes, ist seinem Zugriff entzogen. Wo aber verläuft die Grenze? In der Regel wird sich der Verfassungsgerichtshof nicht dazu entschließen können, ihre Verletzung anzunehmen. Es ist daher notwendig, den Schritt vom formellen zum materiellen Gesetzesvorbehalt zu tun. Die Verfassung hätte künftig zu bestimmen, zu welchem Zweck und wie weit der einfache Gesetzgeber in einzelne Grundrechte eingreifen darf. Die sachliche Schwierigkeit, den materiellen Gesetzesvorbehalt für das eine oder andere Grundrecht zu formulieren, darf nicht zu verfassungspolitischer Resignation führen. An Vorbildern, wie solche Probleme zu lösen sind, fehlt es, wie etwa ein Blick in die Europäische Menschenrechtskonvention zeigt, nicht mehr.

Kelsens Werk, die österreichische Bundesverfassung, ist nach mehr als 50 Jahren erstaunlich aktuell. Wer von einem unerträglichen Span-nungsverhältnis zwischen ihr und der Verfassungswirklichkeit spricht, sieht die Dinge wohl etwas zu kraß. Das heißt aber nicht, daß die Verfassung nicht in wesentlichen Punkten neuerlich überdacht werden muß. Eine stärkere Orientierung an materiellen Wertideen, wie sie in diesen Ausführungen insbesondere an Hand der Grundrechte angerissen wurde, ist dabei nur ein Aspekt von mehreren. Bedauerlicherweise sind allerdings in den letzten Jahren nahezu alle verfassungspolitischen Initiativen — sie sind im allgemeinen von der jeweiligen Bundesregierung ausgegangen — gescheitert. Wollte die SPÖ als Oppositionspartei der Jahre 1966 bis 1970 der damaligen Regierungspartei keinen Erfolg auf diesem Gebiet gönnen, zeigt sich seither die ÖVP nicht allzu diskussionsbereit. Freilich sind die verschiedenen Verfassungsnovellenentwürfe nicht immer geeignet, ohne wesentliche Retuschen parlamentarisch verabschiedet zu werden. Nicht selten sind sie mit einer verwirrenden Kasuistik selbst in Nebenfragen überfrachtet, wie etwa die Regierungsvorlage für den Ombudsmann zumindest in Verfahrensfragen. Gerade Verfassungsregelungen sollten sich jedoch nicht in eher periphere Einzelheiten verlieren.

Was not tut, wäre eine Bestandsaufnahme über alle schwerwiegenden verfassungspolitischen Fragen, die derzeit allgemein oder doch von einzelnen politischen Kräften, denen entsprechendes Gewicht zukommt, als lösungsbedürftig angesehen werden. Die Probleme des kooperativen Bundesstaates und der Einbau der politischen Parteien in die Verfassung seien stellvertretend für eine Reihe von höchst aktuellen Fragen angeführt. Eine gründliche, sei es auch jahrelange Diskussion, wie gegenwärtig über die Grundrechte, ist angebracht. Vielleicht könnten dann jene verfassungspolitischen Entscheidungen fallen, ohne die Kelsens Werk eines Tages nicht mehr zeitgemäß wäre.

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