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Garantie der Grundrechte dir den Sowjetbürger

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Die Feiern zum 60. Geburtstag der Oktoberrevolution sind vorüber. Im Rückblick auf sechs Jahrzehnte Sowjetmacht ist - zum mindesten im Westen - die Diskussion um die neue Sowjetverfassung in den Hintergrund getreten, die während des Jubiläums verabschiedet worden ist. Die FURCHE hat bereits Anfang September ihren ständigen Mitarbeiter, den Verfassungsrechts- und Völker rechtsexperten Prof. Theodor Veiter um einen ersten Kommentar gebeten, der den Widerspruch des Leiters des Wiener Büros der sowjetischen Auslands-Agentur Nowosti, Viktor Bojew, hervorgerufen hat. Wir geben hier nun den Einwänden Bojews Raum und haben - mit seinem Wissen - Prof. Dr. Theodor Veiter um eine erneute Stellungnahme gebeten.

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Die Feiern zum 60. Geburtstag der Oktoberrevolution sind vorüber. Im Rückblick auf sechs Jahrzehnte Sowjetmacht ist - zum mindesten im Westen - die Diskussion um die neue Sowjetverfassung in den Hintergrund getreten, die während des Jubiläums verabschiedet worden ist. Die FURCHE hat bereits Anfang September ihren ständigen Mitarbeiter, den Verfassungsrechts- und Völker rechtsexperten Prof. Theodor Veiter um einen ersten Kommentar gebeten, der den Widerspruch des Leiters des Wiener Büros der sowjetischen Auslands-Agentur Nowosti, Viktor Bojew, hervorgerufen hat. Wir geben hier nun den Einwänden Bojews Raum und haben - mit seinem Wissen - Prof. Dr. Theodor Veiter um eine erneute Stellungnahme gebeten.

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Bei der Lektüre des Artikels von Herrn Veiter vermißt man leider Elemente einer sachlichen und konstruktiven Kritik. Im Entwurf der neuen Sowjetverfassung entdeckt er das, was dort nicht enthalten ist und sieht anderseits das nicht, was dort schwarz auf weiß steht.

„Mit Besorgnis“ werden - seinen Worten nach - die Sowjetvölker die Bestimmungen über die neue nationale Struktur des sowjetischen Bundesstaates zur Kenntnis nehmen. Dabei verweist er auf den Artikel 69, welcher besagt: „Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ist ein einheitlicher multinationaler Bundesstaat, hervorgegangen aus der freien Selbstbestimmung der Nationen und der freiwilligen Vereinigung gleichberechtigter Sozialistischer Sowjetrepubliken. Die UdSSR verkörpert die staatliche Einheit des Sowjetvolkes, sie schließt alle Nationen und Völkerschaften zum gemeinsamen Aufbau des Kommunismus zusammen.“

Es ist unverständlich, was hier Besorgnis erregen kann. Als Vielnationalitätenstaat besteht die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (daher kommt auch ihr Name) seit nunmehr 60 Jahren. Diesen Artikel enthielt jede der drei vorhergehenden Verfassungen. Allerdings, 1918, als die erste von ihnen entstand, konnte bei weitem nicht jeder Bürger Sowjetrußlands, besonders in den Randgebieten des früheren Zarenreiches, ihren Text lesen. Er konnte sie nicht lesen, weil er Analphabet war. Aber auch vielleicht deswegen, weil seine Muttersprache keine eigene Schrift hatte. Zur Zeit sind die Verhältnisse ganz anders. In der Sowjetunion gibt es faktisch keine Analphabeten. Jedes Volk und jede Vökerschaft (in der UdSSR gibt es übrigens solche, die nicht mehr als 1000 Personen zählen) hat eigene Schulen, eine eigene Schrift, eigene nationale Literatur. Und das alles ist dem Umstand zu verdanken, daß die Sowjetunion als eine vielsprachige Familie, als Vielnationalitätenstaat existiert. Diese Tatsache ruft bei uns im Lande nicht Besorgnis, sondern Freude und Optimismus hervor.

Weiters ist der Autor mit dem Artikel 71 unzufrieden, welcher lautet: „Jeder Unionsrepublik bleibt das Recht auf freien Austritt aus der UdSSR Vorbehalten.“

Und wieder muß man feststellen, daß an diesem Artikel nichts sensationell Neues ist. Er geht von einer Verfassung der UdSSR in die andere über, als das gesetzmäßige Recht jeder der 15 Sowjetrepubliken auf eine souveräne Existenz. Ist das gut oder schlecht? Wennn man an der geschichtlichen Erfahrung des Sowjetstaates urteilt, ist es gut. Wenn man aber dem Glauben schenkt, was Herr Veiter schreibt, ist es schlecht. Schlecht, denn durch die Zentralgewalt der KPdSU, die „alles durchdringt“, werden „diese Unionsrepubliken und anderen autonomen Gebietskörperschaften nicht mehr, sondern weniger Rechte haben als bisher“. Der Autor führt keine Beweise an, er behauptet einfach: Früher hatten sie mehr Rechte, nun werden sie weniger Rechte haben als bisher. Doch wäre es nicht uninteressant, zu wissen, gab es denn bisher schon nicht die „Zentralgewalt der KPdSU“? Oder liegt das ganze daran, daß sie irgendeine neue dämonische „alles durchdringende“ Kraft gewonnen hat?

„Sehr beunruhigend“ erscheint dem

Autor auch der Abschnitt 7, wo von der Gerichtsbarkeit die Rede ist. Gerichte mit Volksrichtern und Volks- beisitzem, so Veiter, wird es auch weiterhin geben, aber keine Verfassungsund Verwaltungsgerichtsbarkeit. Allerdings, schreibt der Autor weiter, sie habe es auch früher nicht gegeben, „man hatte aber erwartet“, daß sich dieser Zustand ändere. Wer hat das erwartet? Dies verrät der Autor nicht, genauso wenig gibt er preis, wie sich in diesem Falle „die Rechtslage zugunsten der Bürger bessern würde“.

Eine große Schmälerung, nach den Worten von Herrn Veiter, erlitten im Entwurf der neuen Verfassung die Grundrechte der Sowjetbürger. Und wieder ist nicht klar, was der Autor dabei meint. Von der quantitativen Seite her sind die Tatsachen gegen ihn: die Sowjetverfassung von 1936 hatte dazu 11 Artikel (von 118 bis 129) und im Entwurf der neuen Verfassung sind 19 Artikel (39 bis 58) den Grundfreiheiten der Sowjetbürger gewidmet.

Wenn aber von der qualitativen Seite die Rede ist, so sieht die Sache so aus: alle Grundrechte ohne Ausnahme, die die Verfassung von 1936 enthielt, sind auch im Entwurf der neuen Verfassung festgelegt, andere sind hinzugekommen. Garantiert ist das Recht auf Arbeit (Art. 40), das Recht auf Erholung (41), auf Gesundheitsschutz (42), auf Altersversorgung (43), auf Wohnung (44), auf Bildung (45), auf den Gebrauch der kulturellen Errungenschaften (46), die Freiheit des wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Schaffens (47), „Urheberrecht, Erfinderrecht und die Rechte der Rationalisatoren sind geschützt“ (47). Ferner wird den Sowjetbürgern das Recht auf Teilnahme an der Lenkung der staatlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten zuerkannt

(48). „In Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen und zur Festigung’der sozialistischen Ordnung“ sind Redefreiheit, Pressefreiheit, Kundgebungs- und Versammlungsfreiheit sowie die Freiheit von Straßenumzügen und Demonstrationen garantiert. „Die Wahrnehmung dieser politischen Freiheiten wird gewährleistet durch die Bereitstellung öffentlicher Gebäude, Straßen und Plätze für die Werktätigen und ihrer Organisationen, durch weitgehende Verbreitung von Informationen und durch die Möglichkeit, Presse, Fernsehen und Rundfunk zu benutzen“ (50).

Den Bürgern der UdSSR wird Gewissensfreiheit zuerkannt. Sie können sich zu einer beliebigen Religion bekennen, aber auch atheistische Propaganda ausüben (Art. 52). Die Unantastbarkeit der Person ist garantiert (54), aber auch die Unantastbarkeit der Wohnung (55). Brief- und Telephongeheimnis sind geschützt (56).

Wo ist denn hier die „Schmälerung der Grundfreiheiten in der neuen Verfassung“, von der der Autor so pathetisch, aber ohne zu argumentieren, schreibt? Oder sind dies seiner Meinung nach so winzige Bagatellen, daß sie gar nicht verdienen, ernst genommen zu werden? Warum fühlt dann aber Herr Veiter sich an einer Stelle, wo die Rede von dem Brief-, Telephon- und Telegrammgeheimnis ist, veranlaßt, zu sagen, daß derartige Garantien nicht einmal die Verfassungen der westlichen Länder enthalten?

Die Verfassung ist das Grundgesetz eines ganzen Landes für die absehbare Zukunft. Anhand der Verfassung kann man über die im Lande herrschende Ordnung, über den Charakter des Verhältnisses zwischen dem Staat und den Bürgern urteilen.

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