6573956-1950_34_02.jpg
Digital In Arbeit

Alles österreichische über Bord!

Werbung
Werbung
Werbung

Der „juristische Zweijahresplan der Tschechoslowakei geht seinem Ende entgegen: Noch im Laufe dieses Jahres sollen alle Volkskodizes veröffentlicht werden und in Kraft treten, die die Rechtsordnung des ganzen Staates auf eine neue Grundlage stellen werden. ,

Als 1918 die Tschechoslowakei entstand, übernahm sie als wertvolles Erbe das alte österreichische und ungarische Recht. Die Entwicklung der folgenden Jahre bestand im wesentlichen in der Anpassung dieser beiden Rechtsordnungen, wie sie einerseits in den westlichen Ländern Böhmen, Mähren und Schlesien, andererseits in der Slowakei und der Karpatenukraine weitergalten, aber auch in der behutsamen Modernisierung und Fortentwicklung des übernommenen Rechts. Weit entscheidendere und um-stürzendere Eingriffe in die Rechtsordnung erfolgten nach 1945, meist ohne Beteiligung des Parlaments, auf Grund von Dekreten des Staatspräsidenten — Gegenstücke der „Führererlässe“ der. vorangegangenen Ära.

Aber all das war noch reaktionär in den Augen des neuen Justizministers C e p 1 ß k a, der mit Elan an eine völlige Neugestaltung des Rechts schritt. Verschiedenen Einzelgesetzen der Jahre 1948 und 1949 — sie brachten unter anderen . die Kreiseinteilung des Staates, die „Volksrichter“, die Einheitsschule und verschiedene sonstige Neuerungen auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet — folgen nun 1950 die Volkskodizes: über den ersten, der das Familienrecht regelt und am 1. Jänner 1950 in Kraft getreten iat, wurde bereits seinerzeit ausführlich berichtet, als zweiter und dritter Kodex folgten soeben mit Geltung vom 1. August 1950 das Strafgesetz und die Strafprozeßordnung, die durch ein Verwaltungsstrafgesetz und eine Verwaltungsstrafprozeßordnung ergänzt werden. Das neue Bürgerliche Gesetzbuch ist im Entwurf bereits abgeschlossen, ein Grundgesetz über die Nationalausschüsse ist angekündigt, und der Kodex der Arbeit soll auch noch in diesem Jahr veröffentlicht werden.

Die Kodifikation begnügt sich nicht damit, die teilweise überholten, in zahlreichen Gesetzen verstreuten und im Laufe der Jahrzehnte unübersichtlich gewordenen Gesetze zusammenzufassen, sie verbindet damit auch einen politischen Zweck:

„Diese neue Rechtsordnung soll zur Aufrichtung des Sozialismus, zur Beseitigung der Klassen beitragen und die Voraussetzungen für die Entstehung einer klassenlosen Wirtschaft schaffen, erklärte Justizminister Cepißka in seiner Ansprache anläßlich der Errichtung einer Sektion für Rechtskodifizierung in seinem Ministerium. „Keineswegs ein unpolitisches und klassenfreies Recht!“ rief Staatspräsident Gottwald aus und erklärte weiter:

„Die neue sozialistische Rechtsordnung verankert und befestigt unsere volksdemokratische Ordnung. Sie verstärkt alle Ansatzpunkte der im Entstehen begriffenen Gesellschaftsordnung und legt die Fundamente für ein neues Verhältnis des arbeitenden Menschen zu seinem Staat, zur Gesellschaft, zur Arbeit und zu den Mitbürgern und bereitet und erleichtert damit unseren Weg zum Sozialismus.“

Und der stellvertretende Ministerpräsident F i e r I i n g e r erklärte in diesem Zusammenhang in einem Interview:

.Wir brauchen einen neuen Typ de Juristen, der sich freimachen kann von den alten Ansichten einer bürgerlichen Moral!

Es ist begreiflich, daß diesen „Ansprüchen“ weder das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Jahre 1811 noch das hundert Jahre alte österreichische Strafgesetz auch nur annähernd genügen kann. Nach der Beseitigung des österreichischen Reichsvolksschulgesetzes, der österreichischen Gerichts- und Verwaltungsorganisation, des Staatskirchenrechts, der Sozialversicherungsgesetze und zahlreicher anderer Einzelgesetze ist nunmehr mit dem österreichischen Strafrecht eine weitere Säule österreichischer Rechtskultur, die die Donaumonarchie um ein volles Menschenalter überdauert hatte, vernichtet worden. Der Abschied ist nicht eben pietätvoll: Das Präsidium des Vierten tschechoslowakischen Juristenkongresses versprach, für eine „Überwindung aller Überbleibsel eines bürgerlichen Denkens und einer Säuberung der Rechtswissenschaft von fremden Ideologien“ zu sorgen; der harmloseste Vorwurf ist noch der, daß das österreichische Strafgesetz auf dem Grundsatz der Una n t astbarkeit des Privateigentums aufgebaut ist. Justizminister Cepicka sieht sein Wesen darin, daß „eine Minderheit die

Herrschaft über eine Mehrheit ausübt, das heißt die Minderheit der Ausbeuter über die Mehrheit der Ausgebeuteten“. Speziell die Formulierung der Sittlichkeitsdelikte steht seiner Meinung nach im Widerspruch, sowohl zu den heutigen wissenschaftlichen als auch sittlichen Ansichten. Es sei höchste Zeit, sich dieses schweren Baiastes überlebter Vorschriften zu entledigen!

Und der neue Justizminister Rais, der sich sichtlich bemüht, seinen Vorgänger an Schärfe zu überbieten, erklärt, das alte österreichische Strafrecht habe den Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz zur bloßen Phrase herabgewürdigt und in der Praxis den arbeitenden Menschen seiner bürgerlichen Rechte beraubt. Ihm sekundiert Doktor Polansky, der als Vertreter der Volkspartei im Parlament behauptete, das alte österreichische Recht sei nicht länger akzeptabel gewesen, denn es habe „sich als Waffe gegen die Kriminalität überhaupt nicht bewährt.. ..

Nachdem man sich also entschlossen hatte, alles österreichische endgültig über Bord zu werfen, jedoch nichts Eigenes an seine Stelle zu setzen vermochte oder es vielleicht auch nicht durfte, blieb nichts anderes übrig, als Anleihen beim „zweiten Protektor“, in Moskau, zu machen. Wie der stellvertretende Justizminister Dr. D r e ß 1 e r erklärte, wurde besonders die Entwicklung des sowjetischen Strafrechls in den einzelnen Etappen der Aufrichtung des

Sozialismus gründlich studiert und aus den dabei gewonnenen Erfahrungen ausgiebig geschöpft. Die Werke der Sowjet-autoren wurden rasch ins Tschechische übersetzt und allen Mitgliedern der Kodifikationskommission zur Verfügung gestellt. Auch Justizminister Rais erwähnt dankbar die wertvolle Hilfe, die das Beispiel und die Erfahrungen der Sowjetunion bei der Ausarbeitung der neuen Gesetze leistete:

„Wie auf anderen Gebieten, so steht auch auf dem Gebiet des Strafrechts die Sowjetwissenschaft zweifellos an der Spitze der ganzen Welt. Die Juristen der Sowjetunion haben die Probleme eines sozialistischen Straf rechts auf eine nie dagewesene Höhe gebracht und in unübertrefflicher Weise bearbeitet; auf der Grundlage der Lehre des Marxismus-Leninismus haben sie die Strafrechtswissenschaft um wertvolle neue Erkenntnisse bereichert, zu denen die bürgerliche Wissenschaft nicht gelangte und niemals gelangen kann. Die Kenntnis der Sowjetgesetze und der Sowjettheorie war die unerläßliche Voraussetzung für die Formulierung unserer neuen Strafgesetze. Und als Grundidee des neuen tschechoslowakischen Strafrechts bezeichnet der Justizminister den dem russischen Vorbild entlehnten „sozialistischen Humanismus“.

Das tschechische und slowakische Volk hat mit diesem „sozialistischen Humanismus“ schon seine Erfahrungen machen müssen. Er wird auch auf dem Gebiet des Rechts kaum humaner in Erscheinung treten als im politischen und wirtschaftlichen Leben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung