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Die Uhr blieb aufgezogen

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Noch bevor der Winter kommt, wird sich zum dreißigstenmal der Tag jähren, da im Herzen des Abendlandes jenes Staatsgebilde zu bestehen aufhörte, das wie kein zweites eine ordnende und ausgleichende Funktion auszuüben vermocht hatte. Eine stark tönende Propaganda hat dieses Österreich als etwas Überlebtes därzustellen versucht, so daß sein Auslöschen im Trubel der Ereignisse als Erlösung, ja als neuschöpfende Tat erscheinen konnte.

Es ist wirklich so, daß man das Ausmaß des damals Zerstörten nicht klar sehen und auch nicht annähernd richtig einschätzen konnte, denn es lebte ja weiter, dieses alte Österreich. In sehr wesentlichen Zweigen des menschlichen Lebens pulste noch in allen jenen Kleinstaaten, die man mit gutem Grund seine „Nachfolgestaaten“ nennt, sein Blut. Und vielleicht sieht man gerade heute am deutlichsten, wie durch ein Menschenalter hindurch noch jenes Uhrwerk ablief, das einst im alten Österreich und durch Menschen des alten Österreich aufgezogen worden war. Es bestanden noch in der Tschechoslowakei und in Polen, in Rumänien und Südslawien und in Ungarn seine Gesetze und Institutionen, es lebten und wirkten noch jene Staatsmänner und Beamte, Offiziere und Lehrer, Geistliche und Richter, Ärzte und Journalisten, die eine österreichische Erziehung genossen hatten, die bei aller Verschiedenheit ihrer Muttersprache in der gleichen, erst heute wieder gerecht beurteilten Atmosphäre aufgewachsen waren.

Heute allerdings, nach einem Menschenalter, steht von ihnen kaum mehr einer auf seinem Posten; wer nicht infolge seines Alters abgetreten ist, den haben die Ereignisse verdrängt. Viele aber, die selbst Hand an das alte Österreich gelegt, hatten doch recht eigentlich im Sinne dieses alten Österreich, wenn vielleicht auch unbewußt, weitergewirkt und weitergearbeitet.

Das Uhrwerk lief ab, aber niemand war da, es wieder aufzuziehen.

Wohl trägt das Stadtbild von Lemberg auch heute noch ausgesprochen österreichische Züge, nicht anders als das südmährische Nikolsburg, als Ödenburg oder Marburg. Der Bahnhof von Karlsbad unterscheidet sich kaum von dem in Bad Ischl, die Schulgebäude von Teschen in keiner Weise von denen in Linz, eine Prager Kaserne kaum von einer in Sarajewo. Die Fassaden sind geblieben — aber viel hat sich dahinter gewandelt. Wohl zerschnitt schon das Jahr 1918 manche Nervenstränge, aber nach einigen Umstellungen lief das Leben wieder in Bahnen weiter, die den altösterreichischen gar nicht unähnlich waren.

Wenig beachtet von der Öffentlichkeit, aber bedeutsam für da Leben der Völker, die einst Österreich bildeten, war die Weiterentwicklung auf dem Gebiet des Rechtswesens, das eine ganz außerge ähnliche Beständigkeit aufzuweisen vermag: die großen Gesetzgebungswerke des alten Österreich erfuhren bis 1945 in mehreren Nachfolgestaaten kaum eine Änderung, das Strafgesetzbuch und die Gewerbeordnung, die Zivilprozeßordnung und das Wassergesetz galten in der Tschechoslowakei genau so wie in den an Polen, Rumänien und Jugoslawien gefallenen Gebietsteilen. Nur einen Augenblick lang konnte man 1918 in Prag daran denken, das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch gegen den Code Civile, ja die ganze österreichische Rechtsordnung gegen die französische einzutauschen. Rechtzeitig sah man die Unnatürlichkeit eines solchen Vorhabens ein und hat die überkommene österreichische Rechtsordnung in einer beispielhaft verständnisvollen Weise fortgeführt; am deutlichsten tritt dies am bürgerlichen Recht zutage: die vor 1938 geplante Reform in der Tschechoslowakei war nichts anderes, wie die Fortführung „mosaikartiger Korrekturen“ des alten österreichischen Gesetzbuches, verbunden mit einer Ausdehnung des Gesetzes auf das ganze Staatsgebiet, also auch auf die Slowakei und die Karpatenukraine, die vordem der ungarischen Reichshälfte angehört hatten und in denen das ABGB nicht galt. Dieser Vorgang — nämlich das Weiterbestehen des österreichischen Rechtsraumes auch nach dem Zerfall des politischen Großraumes — war verständlich, da diese Rechtsordnung die glücklichen Lösungen der alten Landesrechte organisch vereinigte. Wie lebendig gemeinsam das Rechtsempfinden auch nach dem Ende des alten Staates weiterlebte, zeigt nichts deutlicher, als das Beispiel des österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetzes, das, aus dem Gedankengut der Rechtsprechung des Wiener Verwaltungsgerichtshofes geschöpft, 1925 in dem kleingewordenen Österreich erlassen, in kürzester Frist in zum Teil wörtlicher Anlehnung von Polen und der

Tschechoslowakei übernommen wurde und sich so einen größeren Geltungsbereich eroberte, der zum Teil noch über die Grenzen des alten österreichischen Raumes hinausging und von den Alpen bis zur Ostsee reichte.

Der Vorsitzende der neuen tschechoslowakischen Regierung, Zapotocky, erklärte am 17. Juni 1948 in seiner Programmrede vor allem die Beseitigung der alten Rechtsordnung als eine der vordringlichsten Aufgaben der Volksdemokratie, und wenige Tage später folgte Innenminister Nosek mit einem Vortrag über die Reorganisation der tschechoslowakischen Verwaltung, die von Altösterreichischem zu befreien sei. Seit 1945 ist dieser Zerbröckelungsprozeß der noch erhalten gebliebenen österreichischen Rechtsordnung im Gange, die immerhin ein Vierteljahrhundert den alten Staat überdauert hat. Schon ist die Trennung von Staatsund Selbstverwaltung, die berühmte Doppel- geleisigkeit der altösterreichischen Verwaltung, verschwunden, das Heimatrecht mit dem 31. Dezember 1948 erloschen und eben geht man daran, die im Revolutionsjahr 1848 — also vor genau hundert Jahren — geschaffene Bezirkseinteilung zu beseitigen und durch eine neue Kreiseinteilung zu ersetzen. Im slowenisch-dalmatinischen Raum wurde tlas österreichische Eherecht endgültig 1946 durch das neue jugoslawische Ehegesetz beseitigt, in Polen war es schon 1945 außer Kraft gesetzt worden. Das Erbrecht des ABGB galt in den ehemals österreichischen Teilen Polens gleichfalls bis 1946. Ab 1. September dieses Jahres wird in der Tschechoslowakei das österreichische Reichsvolksschulgesetz nach fast SOjähriger Geltung abgeschafft, und damit verschwinden auch die alten, geläufigen Bezeichnungen Volksschule, Bürgerschule, Mittelschule… Was die Landesgrenzen und Zollschranken 1918 nicht zuwege gebracht hatten, als sie das einheitliche Wirtschaftsgebiet zerschnitten, das gelang 1945 nun auf allen Gebieten: Verstaatlichung, Nationalisierung der Wirtschaft, ihre Standortverlagerung aus politischen und strategischen Erwägungen gestalten das Bild Mitteleuropas völlig neu. Inwieweit zum Vorteil, muß sich erst erweisen.

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