6864374-1977_49_06.jpg
Digital In Arbeit

Religionsfreiheit nach der neuen Oktober-Verfassung?

Werbung
Werbung
Werbung

Am 7. Oktober wurde auf der 7. außerordentlichen Tagung des Obersten Sowjets der neunten Legislaturperiode die neue Kostitucija, die neue Verfassung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken angenommen. Die neue Verfassung soll Rußland jene Regierungsform geben, mit der die UdSSR dem Jahr 2000 entgegengehen will. Nach Artikel 173 besitzt diese Verfassung höchste Rechtskraft „Alle Gesetze und andere Akte der Staatsorgane werden auf der Grundlage und in Übereinstimmung mit der Verfassung der UdSSR erlassen.”

Von besonderem Interesse muß für den Christen sein, was in ihr über die Stellung der Religion verkündet wird. Bekanntlich hat Enrico Berlinguer, Chef der italienischen KP und Verfechter des Historischen Kompromisses bei den Feiern zur 60. Wiederkehr der Oktober-Revolution die Religionsfreiheit angesprochen.

Zunächst heißt es im Text des Artikels 34: „Die Bürger der UdSSR sind, unabhängig von der Herkunft der rassischen und nationalen Zugehörigkeit, dem Geschlecht der Bildung, der Sprache, dem Verhältnis zur Religion, der Art und dem Charakter der Arbeit und anderen Umständen, vor dem Gesetze gleich. Die Gleichberechtigung der Bürger ist auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Lebens gewährleistet.” Von grundlegender Bedeutung ist Artikel 52: „Den Bürgern der UdSSR wird Gewissensfreiheit garantiert, somit das Recht sich zu einer beliebigen oder gar keiner Religion zu bekennen, religiöse Kulthandlungen auszuüben oder atheistische Propaganda zu betreiben. Das Schüren von Feindschaft und Haß im Zusammenhang mit religiösen Bekenntnissen ist verboten. In der UdSSR ist die Kirche vom Staat, ist die Schule von der Kirche getrennt.”

Wenn man zunächst nur den Gleichberechtigungsgrundsatz im Verhältnis zur Religion, wie er im Artikel 34 enthalten ist mit dem Garantiegrundsatz der Gewissensfreiheit des Artikels 52 zusammenhält, könnte man meinen, daß damit vom Text her und verbal das Erforderliche getan ist. Diese dem einzelnen zustehenden individuellen Freiheitsrechte werden allerdings dadurch relativiert und beschränkt, daß ihnen die gesellschaftlichen und staatlichen Aufgaben der sozialistischen Ordnung vorangesetzt werden.

Dementsprechend heißt es im Absatz 2 des Artikels 39: „Die Nutzung der Rechte und Freiheiten darf den Interessen der Gesellschaft und des Staates, sowie den Rechten anderer Bürger keinen Schaden zufügen.” Was im Interesse der Gesellschaft liegt,

steht in der etwas langatmigen Präambel, wo von ideologischer Prinzipienfestigkeit und von Bewußtheit der Werktätigen die Rede ist und es als höchstes Ziel erklärt wird, „den Menschen der kommunistischen Gesellschaft zu erziehen”. Ein solches Vorhaben in historischer Perspektive drängt die Frage auf, wie der zu schaffende Mensch gewissensmäßig und moralisch qualifiziert sein soll, jener Mensch, mit dem die UdSSR einer neuen Epoche entgegengehen will. Artikel 6 meint dazu: „Die führende Kraft und der Kern des politischen Systems ist die KPdSU. Mit der marxistisch-leninistischen Lehre ausgerüstet, legt die KP die Grundrichtung der Entwicklung und die Linie der Innen- und Außenpolitik fest.” Was der Marxismus-Leninismus vom christlich-abendländischen Menschen hält, ist in den 60 Jahren seit der Oktoberrevolution genügend deutlich geworden. Zunächst wurden die Kirchen enteignet und die Gläubigen brutal verfolgt. Im Artikel 124 der Stalin-Verfassung von 1936 hieß es dann: „Zum Zwecke der Gewährleistung der Gewissensfreiheit für die Bürger sind in der UdSSR die Kirche vom Staat und die Schule von der Kirche getrennt. Die Freiheit der Ausübung religiöser Kulthandlungen und die Freiheit der antireligiösen Propaganda werden allen Bürgern zuerkannt.” Demnach gab es also nur antireligiöse Propaganda. Als Hitler die UdSSR angriff, ließ es die russisch-orthodoxe Kirche nicht am aktiven Einsatz für den Großen Vaterländischen Krieg fehlen, was Stalin 1943 durch eine Art von modus vivendi belohnte, durch den es der Kirche fortan erlaubt war, sich in sehr engen Grenzen zu betätigen. Im Juli 1948 durfte diese Kirche schließlich ihren 500.Gründungstag feiern.

Was kann also von dieser Art Koexistenz zwischen der Religion und dem offiziellen Atheismus erwartet werden, und was wird aus der geistigen Alternative Christentum und Marxismus-Leninismus? In den Os- nowy Marxisma, den Grundlagen des Marxismus, heißt es dazu: „Der Marxismus-Leninismus befreit die Menschheit endgültig vom Aberglauben und von der jahrhundertealten Knechtschaft. Er fordert vom Menschen ein selbständiges, freies und folgerichtiges Denken. Die Existenz irgendwelcher übernatürlicher Kräfte oder eines Schöpfers erkennt er nicht an. Er steht fest auf dem Boden der Realitäten, er nimmt die Welt so, wie sie ist, und erfindet keine Hölle und kein Paradies. Er geht davon aus, daß die gesamte Natur, einschließlich des Menschen, aus Materie besteht’“ Der Marxismus-Leninismus versteht sich als die Gesinnung der Arbeiterklasse und als eine wissenschaftliche Weltanschauung. Die Klasse der Bourgeoisie dagegen ist daran interessiert, die Religion am Leben zu erhalten. Werden aber, so meinen die Ideologen des Marxismus-Leninismus, die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Religion beseitigt, so verschwinden damit auch automatisch ihre erkenntnistheoretischen Wurzeln. Von daher läßt sich also voraussagen, wie auch auf Grund der neuen Oktober- Verfassung eine kommende Religionspolitik praktiziert werden wird.

In der wohl führenden Darstellung des aus Teplitz-Schönau in Böhmen stammenden und vor zehn Jahren in London verstorbenen Walter Kolarz „Die Religion in der Sowjetunion” Jieißt es: „Während der gesamten Geschichte der SU ist die Religion die sichtbarste Alternative zum Kommunismus geblieben. Sie ist der einzige Gegner, der wenigstens einen Teil seiner institutionellen Formen bewahren konnte. Die Anerkennung dieser Tatsache hat nichts mit persönlicher Überzeugung zu tun. Sie drängt sich Gläubigen wie Ungläubigen auf, die zu einer richtigen Einschätzung der russischen Wirklichkeit kommen wollen. Jede Beurteilung der Lage Rußlands, wenn sie das Fortleben der Religion außer acht läßt, ist unvollständig.” In diesen vergangenen Jahren hat sich gerade durch die Entwicklung der letzten Zeit vieles bestätigt, was Kolarz damals erkannt hat. Allein die Tatsache, daß es heute so etwas wie einen Eurokommunismus gibt, der sich gezwungen sieht, sich von einer Religionspolitik im Sinne Moskaus zu distanzieren und so etwas wie eine garantierte Koexistenz oder einen historischen Kompromiß zu suchen, ist ein eindeutiger Beweis dafür, daß es in Europa keine Zukunft ohne den christlich-abendländischen Menschen geben wird. Alle bisherigen Verfassungstexte und Parteiprogramme konnten nicht verhindern, daß es auch heute noch um viele Milhonen mehr Bekenner des christlichen Glaubens als organisierte Gottlose und militante Atheisten gibt. Trotz aller Herabsetzung des Glaubens, in dem man einen Obskurantismus und ein überholtes Lebensbewußtsein erkennen will, entsteht innerhalb oder außerhalb der neuen Oktober-Verfassung ein ungewolltes Verhältnis zum Glauben. Solange in Rußland die großen Denker und tiefen Grübler, wie Dostojewsky, Tolstoj, Solowjew und Berdjajew, aber auch Pasternak und Solschenizyn, nur antiquarisch oder im Samisdat erhältlich sind, wird die Ersatzreligion des Marxismuns-Leninismus den Hunger der russischen Seelen nicht stillen können.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung