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Aufbruch in Rußland?

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Der religiöse Glaube erlebt in der Sowjetunion einen unvermuteten Aufschwung. Das ist die knappe Bilanz der jüngsten Entwicklung.

Einer der unumstößlichsten Grundsätze des Leninschen Manifestes besagt, daß die Religion mit der wissenschaftlichen Aufklärung von selbst verschwinden werde. Nach fast 60jähriger atheistischer Erziehung tritt nun genau das Gegenteil ein: gerade die Intelligenz in der Sowjetunion schließt sich religiösen Gedankengängen auf, viele finden den Weg zu Gott.

Einen Lehrsatz von Lenin umzustoßen, bedeutet für Sowjetideologen in etwa dasselbe wie die Aufhebung eines Dogmas, Die Entwicklung der letzten Jahre mobilisierte infolgedessen ein Heer von Wissenschaftlern in allen Teilen der UdSSR, um in verstärktem Maße, unterstützt von wissenschaftlich erarbeiteten Forschungsergebnissen, den Kampf gegen die Religion aufzunehmen. Seit September 1974 arbeitet ein eigenes Institut, das direkt dem Innenministerium (KGB) unterstellt ist. Auf Allunionsebene wurden neue Richtlinien erlassen, die im nächsten halben Jahr zur Ausführung kommen werden. Das Strafmaß, das von Gerichten über bekennende Christen verhängt wird, ist schon jetzt von 1 bis 3 auf 5 bis 10 Jahre erhöht worden. Die Fälle, in denen den Eltern die Erziehungsrechte entzogen werden, weil die Kinder zu Hause christlich erzogen werden, mehren sich. Von einem staatlichen „Toleranzedikt“ kann vorerst keine Rede sein. Die vom Staat anerkannten Kirchenleitungen sind in einer neuen babylonischen Gefangenschaft“. Hunderttausende von Gläubigen sind in Haft.

Aller Verfolgung zum Trotz breitet sich der Glaube aus. Man kann heute schon sagen, daß er in der Sowjet union den Sieg über den Atheismus des zwanzigsten Jahrhunderts davongetragen hat.

In einem Gespräch mit einem evangelischen Christen erläuterte kürzlich der orthodoxe Schriftsteller Anatolij Lewitin-Krasnow die Vorgänge in der Sowjetunion. Lewitin- Krasnow emigrierte am 20. September 1974 in den Westen und lebt heute in der Schweiz. Von Beruf Gymnasiallehrer, setzte er sich aktiv für seinen Glauben ein, vertrat darüber hinaus nachhaltig die allgemeinen Menschenrechte und ging für seine Standhaftigkeit, seinen Mut und seine Unbeirrbarkeit auf insgesamt zehn Jahre in Haft. Von neuem vom KGB bedroht, entschloß er sich zur Emigration.

Lewitin bestätigt in seinem Gespräch den religiösen Aufbruch unter der sowjetischen Intelligenz, wobei ein großer Einfluß von Dostojewski, Solowjew, Berdjajew, Bulgakow, Florenski j, Pasternak und Solschenizyn ausgeht. Besonders unter der intelligenten und aufgeschlossenen Jugend breiten sich diese Ideen aus, worunter nicht selten die Kinder aktiver Kommunisten, ja Tschekisten sind.

Diese neuen Kräfte, so vermutet Lewitin, werden das Gesicht der orthodoxen Kirchen bald entscheidend prägen. Die einfachen Leute, Arbeiter und Bauern, wenden sich weniger der orthodoxen Kirche als den religiösen Gemeinschaften zu, in der Mehrzahl den Evangeliums- christen-Baptisten. Dort wird allgemein verständlich gesprochen. Bibellesungen und Predigt sind russisch.

Am erstaunlichsten erscheint es, daß auch viele Juden zur christlichen Religion finden. Offenbar hat die Synagoge in Rußland nicht mehr den alten Einfluß auf die Menschen, erklärte Lewitin.

Viele Juden lassen sich taufen. Sie gehen hauptsächlich zu den orthodoxen Priestern Dimitrij Dudko und Alexander Min, von denen auch die Jugend sehr stark angezogen wird.

Pfarrer Dudko wurde bekannt durch die Abendgespräche nach der heiligen Messe in seiner Moskauer Pfarrei. Sie hatten einen so starken Zulauf und fanden ein so nachhaltiges Echo bei der Jugend, daß die Behörden aufmerksam wurden und Pfarrer Dudko 1974 seines Amtes enthoben wurde. Wie Lewitin jetzt mitteilte, hat Dudko eine neue Pfarrei in einem Dorf, 60 Kilometer von Moskau entfernt, erhalten. Nun strömen vor allem die Jugend, aber auch viele Erwachsene, in immer größeren Scharen in dieses Dorf.

Einen ebenfalls sehr großen Einfluß übt Vater Min aus. „Ich habe nicht genug Hände, um zu taufen“, sagte dieser Geistliche kürzlich. Er schrieb im übrigen auch mehrere Bücher, die im Samisdat kursieren;

eines von ihnen, eine volkstümliche Glaubensunterweisung, wird hier im Westen in den Missionsgebieten erfolgreich verwendet.

Pfarrer Min amtiert in einer kleinen Kirche unweit von Moskau, er zählt zu den populärsten Persönlichkeiten der Moskauer Intelligenz. Professoren, Schriftsteller und Künstler suchen das Gespräch mit ihm, vor allem aber auch die Jugend, die progressive, denkende, urteilende Jugend, die im staatlich befohlenen Materialismus kein geistiges Genügen mehr findet.

Lewitin schloß das Gespräch mit der Feststellung ab, daß es den Sowjets nicht nur nicht gelungen sei, die Religion in Rußland zu zerstören, sondern es gelinge ihnen auch nicht mehr, neue Initiativen und Erfolge der religiösen Bewegung zu verhindern. Dabei muß bedacht werden, daß nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung jemals Gelegenheit hatte, mit religiösen Fragen konfrontiert zu werden. „Bei meinen Lageraufenthalten lernte ich sehr viele junge Menschen kennen, die nicht die geringste Ahnung von Christus hatten, obwohl sie sich für religiöse Fragen aufgeschlossen zeigen“, sagte Lewitin. Könnte die Religion in Rußland frei verbreitet werden, würde dort eindeutig ein gewaltiger religiöser Aufbruch stattfinden.

Der Generalsekretär der Evange- liumschristen-Baptisten in der UdSSR, Georgij Vins, wurde kürzlich vom Kiewer Gericht zu fünf Jahren Gefängnis und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Der langerwartete Prozeß fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, obwohl der zuständige Richter Frau Vins eine öffentliche Verhandlung zugesagt hatte. Lediglich Frau und Schwester des Angeklagten wurden zugelassen. Vins wurde nach § 209 StGB der Ukrainischen SSR verurteilt („Angriff gegen die Persönlichkeit und Rechte der Bürger unter dem Anschein der Ausübung von religiösen Riten“). Er verteidigte sich selbst, nachdem er den offiziellen sowjetischen Verteidiger als befangen abgelehnt hatte. Ein Atheist könne nicht einen Häftling verteidigen, der wegen seines Glaubens angeklagt sei, argumentierte Vins.

Der Ökumenische Rat der Kirchen beantragte daraufhin, die Verteidigung von Vins einem ausländischen Anwalt zu übertragen. Verfassungsmäßig ist dies in der UdSSR zugelassen und entspricht internationalen Rechtsgrundsätzen. Im Fall Vins erhielten die ausländischen Anwälte keine Genehmigung. Ein schwedischer Rechtsanwalt und zwei Mitglieder der schwedischen Kirche der Evangeliumschristen-Baptisten, die zur Beobachtung des Prozesses entsandt werden sollten, erhielten von der Sowjetunion kein Einreisevisum.

Georgij Vins ist Generalsekretär der staatlich nicht zugelassenen Sektion der Evangeliumschristen-Baptisten, die in der Sowjetunion starken Zulauf, besonders unter Jugendlichen, zu verzeichnen haben. Diese sogenannte Initiativniki weigern sich, ihre religiösen Grundsätze staatlichen Forderungen zu unterwerfen, die auf Unterwanderung und Selbstzerstörung der religiösen Gemeinschaft abzielen.

Vins hatte erst kurz vor seiner Verhaftung im März eine dreijährige Gefängnishaft beendet. Er wurde während der Untersuchungshaft in strenger Isolierung gehalten.

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