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Ein Atheismus ohne Kompromiß

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„Ein Jammerschrei ertönt in der russischen Kirche. Mit diesen Worten charakterisierten die beiden orthodoxen Priester Eschliman und Jakunin schon 1965 eine fast ausweglose Situation, als sie an ihren Patriarchen Alexij einen offenen Brief schrieben, der seine Runde durch das ganze Land machte und als eines der mutigsten Dokumente in die neuere Kirchengeschichte eingehen wird. Damals freilich, 1965, hoffte man nach Chruschtschows Sturz auf eine entscheidende Wendung zum Besseren. Damals gaben Eschliman und Jakunin aber auch eine Darstellung des eigentlichen Dilemmas, in dem sich die Christenheit der Orthodoxie in der Sowjetunion befindet: „In dieser Zeit schwerer Prüfungen wandten sich die Herzen der Gläubigen in der Hoffnung auf Hilfe an ihre Hirten; denn diese sollten für ihre Schafe eintreten, um sie vor Plünderung zu schützen. Eine Flut von Beschwerden und Eingaben, unterschrieben von Tausenden von Orthodoxen, ergoß sich über die Eparchialbischöfe .und die Leitung des Moskauer Patriarchats ..., aber alle Hoffnungen waren umsonst! In den bischöflichen Büros empfing man die Fürsprecher des kirchlichen Kummers mit höflicher Gleichgültigkeit und kühler Herzlosigkeit wie lästige Bittsteller..., zehn tausende geschlossene Kirchen und Dutzende von geschlossenen Klöstern beweisen, daß das Moskauer Patriarchat seine Pflicht vor Christus und vor der Russischen Kirche nicht erfüllt hat; denn die Atheisten konnten die Kirchen nur schließen, weil sie des Schweigens der höchsten Kirchenleitung sicher waren...“

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„Ein Jammerschrei ertönt in der russischen Kirche. Mit diesen Worten charakterisierten die beiden orthodoxen Priester Eschliman und Jakunin schon 1965 eine fast ausweglose Situation, als sie an ihren Patriarchen Alexij einen offenen Brief schrieben, der seine Runde durch das ganze Land machte und als eines der mutigsten Dokumente in die neuere Kirchengeschichte eingehen wird. Damals freilich, 1965, hoffte man nach Chruschtschows Sturz auf eine entscheidende Wendung zum Besseren. Damals gaben Eschliman und Jakunin aber auch eine Darstellung des eigentlichen Dilemmas, in dem sich die Christenheit der Orthodoxie in der Sowjetunion befindet: „In dieser Zeit schwerer Prüfungen wandten sich die Herzen der Gläubigen in der Hoffnung auf Hilfe an ihre Hirten; denn diese sollten für ihre Schafe eintreten, um sie vor Plünderung zu schützen. Eine Flut von Beschwerden und Eingaben, unterschrieben von Tausenden von Orthodoxen, ergoß sich über die Eparchialbischöfe .und die Leitung des Moskauer Patriarchats ..., aber alle Hoffnungen waren umsonst! In den bischöflichen Büros empfing man die Fürsprecher des kirchlichen Kummers mit höflicher Gleichgültigkeit und kühler Herzlosigkeit wie lästige Bittsteller..., zehn tausende geschlossene Kirchen und Dutzende von geschlossenen Klöstern beweisen, daß das Moskauer Patriarchat seine Pflicht vor Christus und vor der Russischen Kirche nicht erfüllt hat; denn die Atheisten konnten die Kirchen nur schließen, weil sie des Schweigens der höchsten Kirchenleitung sicher waren...“

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Die orthodoxe Kirche ist heute mehr denn je eine Kirche der Laien und mutigen Priester im Untergrund. Der sichtbare Eisberg bischöflichen Glanzes ist — von wenigen Ausnahmen abgesehen — zum harmlosen Dekor des roten Establishment geworden. Und was man sich seit der Ära Brestchnjew-Kossygin dafür eingehandelt hat, ist wieder nidits weiter als höfliche Distanz, in keiner Weise aber ofne. .Abkehr - der offtzteBm Linie der Partei eines Lenin, Stalin ufiiaECiiWSscl tschW. Jmmi5JbTi9v aHöf

Analphabeten und Fanatiker

Der massivste Stoß gegen die Kirche erfolgte in den Jahren 1959 bis 1963. Damals wurden von den noch vorhandenen 20.000 bis 22.000 Kirchen in der Sowjetunion etwa 10.000 gesperrt. Einige weitere wurden bis

1965 geschlossen. Heute schätzt man die Zahl der offenen Kirchen auf 8000, wobei allerdings etwa ein Prozent im Laufe der Jahre 1967/68 wieder geöffnet wurde.

Doch was man in der in konfessionellen Fragen ausgesprochen anti- liberalen Chruschtschow-Ära an grundsätzlichen Einschränkungen aufgeibaut hat, wird nach wie vor nicht abgebaut.

• Die in zahllosen durch die sowjetische Presse hochgespielten Prozessen verurteilten Priester und Laien sind nach wie vor in Haft. Es wurde keinerlei Amnestiemaßnahme ergriffen, obwohl zahllose Gruppen alller nichtkriminellen Gefangenen immer wieder amnestiert werden.

• Die 1958 erlassene Bestimmung, daß das Sakramentespenden regi- strierungsrpflichbig sei, ist nach wie vor in Kraft. Demzufolge müssen sich Personen, die kirchlich heiraten oder ihre Kinder taufen wollen, bei der Vertretung des staatlichen Kirchenrates die Erlaubnis holen. Das gleiche gilt hinsichtlich der übrigen Sakramente, die die Geistlichen zur Meldepflicht zwingen.

• Die lokale Kirchenverwaltung ist nicht mehr frei in der Bestellung ihrer Organe, sondern mußte sogenannte „Zwanzigerschaften“ bilden. Derzufolge sind 20 ernannte Gemeindemitglieder für alle Vermögens- und verwaltungsrechlichen Fragen verantwortlich. Wie es um diese „Zwanzigerschaften“ bestellt ist, geht deutlich aus einem Dokument hervor, das von einem Bevollmächtigten des zuständigen „Rates für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR“. kurz „ROK“ genannt, in einem Gebietssowjet verfaßt wurde: „Man muß berücksichtigen, daß die gegenwärtigen Zwanzigerschaften in allen Kirchengemeinden kein besonderes Vertrauen erwecken. Sie bestehen fast vollständig aus alten Leuten, Analphabeten. Fanatikern, und wir können ihnen kein staatliches Gut anvertrauen.“ Auf diese Weise ist natürlich jede Form der Manipulation auf unterster Ebene möglich, ohne daß besondere Zwangsmaßnahmen ergriffen werden müssen.

Zu dieser zerstörenden Systematik gesellt siich die Sorge der Orthodoxen über ihre Biachöfe., Vor allem ist es auch die Furcht vor de Zeit,' wenn der heute SOjijhrigę Patriarchu nicht, mehr leben sollte. Man fürchtet, daß dann der Patriarchenstuhl nicht neu besetzt werden würde und die Kirche in eine ähnliche Lage wie in den zwanziger Jahren kommen könnte. Das noch immer bestimmende Planziel der Partei, bis 1980 den Kommunismus einzuführen und die Kirchenfrage bis dahin einer „Endlösung“ zuzuführen (L. Iljitschow auf dem ZK vom 25. November 1963), wird heute mit anderen Mitteln forciert als in der Chruschtschow-Ära. Denn man setzt heute auch auf eine „Evolution“ in der russischen Kirche und bei den anderen Konfessionen, wozu auch der „progressive Linkskatholizismus" gezählt wird. Die Atheismuszeitschrift ..Wissenschaft und Religion" (2/1969) kennzeichnet diese „Evolution“ durch zwei Charakteristiken:

„1. Politische Loyalität gegenüber dem sozialistischen Staat und der sozialistischen Gesellschaft,

2. Versuche einer sozialen Interpretation der Orthodoxie im Sinne eines .kommunistischen Christentums'.

Christlicher Sozialismus?

Allerdings sind diese Strömungen in der Orthodoxie nicht völlig neu. Dostojewskij etwa suchte seinen Weg zu einer sozialen Ordnung nicht im atheistischen Sozialismus, sondern meinte, daß der „wirkliche" Sozialismus „nur mit der Hilfe Christi“ errichtet werden könnte, der der größte ,,Sozialreform er“ sei. In diesen religiösen Erlösungstheorien trafen sich auch die Slawophälen mit den roten Revolutionären. Etwa um die Jahrhundertwende bildete sich ein linker Flügel der Orthodoxie heraus. 1905 hob Lenin das „Erscheinen christlicher Sozialisten und christlicher Demokraten als einen neuen Faktor des russischen Lebens" ausdrücklich hervor.

Mit einer „lebenden Kirche“ suchte unmittelbar nach der Revolution ein Flügel der Orthodoxen Kontakt zu den Bolschewiken. Metropolit Sergius vollzog die Hinwendung der Kirche zum Sowietstaat. an der sich in den höheren Rängen der Orthodoxie kaum etwas geändert hat.

Wenngleich der Ausgleich natürlich stark unter dem Aspekt der Taktik und des Überlebens schlechthin gesehen werden muß, ist die manchmal überloyale Haltung der Bischöfe Gegenstand der härtesten Kritik sowohl in der russischen Kirche selbst als auch im Ausland.

Das Wachstum der Sekten

So wundert es auch nicht, wenn eine in den letzten Monaten geradezu hektische Sektentätigkeit den Kommunisten weit mehr zu schaffen macht als die ausgehöhlte loyale Aktivität der führenden Orthodoxie. Zahlreiche Beweise für die Verfolgungen der Sektenangehörigen sind vorhanden, Schriftmaterial mehrerer Sekten wird am intellektuellen „schwarzen Markt“ in Moskau und Leningrad, im Kaukasus und der Ukraine weitergegeben.

Da es in der Sowjetunion keine statistischen Angaben über die Religionszugehörigkeit bei den Volkszählungen oder im Meldewesen gibt, müssen separate Erhebungen ange- sitellt werden, um das Ausmaß der Sekten festzustellen.

A. O. Jerisev veröffentlichte im Kie- wer Verlag „Naukova dumka“ eine „Soziologische Untersuchung über Religiosität“, diie sich auf mehrere Distrikte der Ukraine bezieht. Demzufolge ist in den Kreisen der Jugend ein bemerkenswerter Zulauf zu den Sekten augenfällig und die Zahl der Sektierer gegenüber den Orthodoxen ist erstaunlich.

Es bekennen sich (in Prozent der Gesamtbevöltoerung) als

Nur 23 Prozenit der Sektenmitglieder wurden durch eine gläubige Erziehung in ihrer Familie „gläubig“, 25 Prozent hingegen durch Agitation und Wohltätigkeit der Sekten, was angesichts ihrer Verfolgung ein bemerkenswertes Zeugnis des religiösen Untergrundes ist.

Die Bedeutung der Sekten ist auf die allgemein um sich greifende Sub- jektiviierung des Religiösen zurückzuführen, die überdies ln Rußland Tradition hat. Dazu kommt der Reiz des Widerstandes, den gewisse Sekten den Gläubigen bieten. Und weil die Möglichkeiten des Protestes in der Sowjetgesellschaft nicht allzu häufig sind, macht sich in dem natürlichen Gesellschaftsvakuum auch der religiöse Widerstand der Sektengruppen bemerkbar. Denn allzulang schon sind die Sekten die einzigen,

die sich getgen die Repressalien wehren.

Propaganda: für die Kirche verboten, für den Atheismus erlaubt

Der „Rat für religiöse Angelegenheiten“ (ROK) unter dem Minister W. Kurojedow ist heute jenes staatliche Organ, das die Einhaltung der konfessionellen Vorschriften beaufsichtigt. Dieses Staatsorgan ist regional organisiert und besitzt Ausgliederungen in den Republiken, den sogenannten Gebieten und Bezirken. Deutlich ist eine Parallelgliederung zur Kirche vorhanden. So ist überall dort, wo auch offene Kirchen bestehen, ein Organ des ROK vorhanden.

Doch der Rat sieht seine Aufgabe nicht etwa in der Hilfestellung und im Kontakt mit den kirchlichen Organen, sondern besitzt die Aufgabe der

Propagierung des Atheismus. Und diesen Auftrag der Partei erfüllen die Organe des ROK auch mit dem Eifer einer „Antikirche“.

So gelingt es heute, die Kirche in den intimsten Lehensbereichen zu kontrollieren und mit einem ausgeklügelten System von Vorschriften zu schikanieren.

Freilich, die Holzprügelmethode der Chruschtschow-Ära ist so gut wie vorbei. Die Mehoden sind diffiziler geworden. Die Zeitschrift „Zurna-

list“ (3/1968) ging selbst mit den Methoden des Kirchenkampfes und der (selbstverständlich im Gegensatz zur Religion erlaubten) atheistischen Propaganda ins Gericht: „Die zeitgenössische Wissenschaft hat viel getan zur Erforschung der Religion und Religiosität. Im Rahmen der Akademie für Gesellschaftswissenschaften gibt es eiin Institut für wissenschaftlichen Atheismus, an vielen Hochschulen des Landes existierten spezielle Lehrstühle. Immer häufiger erscheinen ernsthafte Untersuchungen, die auf konkretem Material aufgebaut sind ... sie alle kämpfen gegen die Kommißmethoden im Atheismus.“

Auf den Schattenseiten ...

Die grundsätzlichen, institutionellen Schranken in der Sowjetunion aber sind es, die allen Beteuerungen des Regimes zum Trotz und entgegen allen Loyalitätserklärungen eines gedemütigten, aber servilen Episkopates die Stellung der Kirchen und der Gläubigen unverändert trist, ia aussichtslos erscheinen lassen. Die Hoffnungen, die viele Beobachter im Westen an die ökumenischen Bestrebungen knüoften, sind enttäuscht worden. Was die orthodoxe Kirche tun darf, bestimmt ein Ministerium im Kreml.

Der atheistische Marxismus ist auf dem Weg, in der Sowjetunion immer mehr zu versteinern und sich zu zementieren. Alle Hoffnungen auf einen „humanistischen Sozialismus“, der ohne seinen atheistischen Mantel auskommt, werden täglich zerschlagen. Ürtd die Dogmen dei' Illu- sionisten im Westen führen sich in der grauen Realität sowjetischer Städte und Dörfer deutlich ad absur- sum: der heutige Kommunismus reduziert sich nicht mehr auf ein soziales und politisches Programm, sondern wird seinen hegelianisch- messianischen Atheismus als notwendiges ideologisches „Salz“ bewahren, ja verstärken.

Und so urteilte die „Komsomolskaja Pravda“ auch über eine Realität in der Sowjetunion:

„Heute ist die Religion endgültig auf die Schattenseiten des Lebens übersiedelt. Nur hier findet säe jetzt im wesentlichen ihre Herde...“

So bleibt die Hoffnung auf den Menschen — auch auf den Sowjetmenschen — und seine unsterbliche Seele.

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