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Der russische „Vatikan“

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Wieder mehren sich die Nachrichten über das religiöse Leben im Reiche der Sowjets. Gleichzeitig zeigen diese Nachrichten eine beginnende neue Aktivität des Moskauer Patriarchen. an. Denn die wichtigste dieser Nachrichten ist die Meldung, daß die Residenz des Patriarchen im Dreifaltigkeitskloster des heiligen Sergius in dem Städtchen Sagorsk, etwa eine Stunde Bahnfahrt von Moskau, gewaltig ausgebaut werden soll. Vor allem der Palast des Patriarchen soll ausgebaut werden, um die Geltung des russischen Patriarchates weithin sichtbar zu machen. Wenn dabei behauptet’ wird, nach dem Neubau soll die Residenz des Patriarchen an Pracht und Größe defi. Vatikan übertreffen, so ist das natürlich eine Uebertreibung. So imponierend die ganze alte Anlage dieses Klosters ist, auch in Jahrzehnten von Bautätigkeit kann natürlich das russische Patriarchat den in vielen Jahrhunderten entstandenen Vatikan nicht übertreffen. Richtig ist aber auch, daß das Moskauer Patriarchat noch nie eine so imponierende Residenz hatte wie jetzt. In der Zeit vor Peter dem Großen lebte der Patriarch in einem verhältnismäßig bescheidenen Palais im Kreml. Schon heute ist der Sitz des russischen Patriarchen auch eindrucksvoller als die Residenz seines Kollegen und Konkurrenten, des ökumenischen Patriarchen im Quartier Phanariot in Istanbul. Die Neubauten wollen den Sitz des Moskauer Patriarchen tatsächlich auch äußerlich zum Weltzentrum der orthodoxen Christenheit machen. Wenn die orthodoxe Kirche nicht nur in Rußland eine deutliche Kampfesstellung gegen die römisch-katholische Kirche einnimmt, wenn insbesondere das Moskauer Patriarchat darauf hinzielt, die römisch- katholische Kirche in den Satellitenstaaten zu untergraben, sie von Rom zu trennen, um dann eine Art „umgekehrte Union“ durchzuführen, bleibt es doch fraglich, ob heute schon die Spitze der russischen pravoslawen Kirche diesem Ziele zustrebt. Es ist ein sehr, sehr weites Fernziel.

Das nächste Ziel ist wohl aber die geistige Autorität, welche der ökumenische Patriarch in Konstantinopel außerhalb Rußlands in der orthodoxen Kirche besitzt, auf Moskau zu übertragen. In diesem Sinne soll Moskau, oder richtiger gesagt das Dreifaltigkeitskloster des heiligen Sergius, ein „Vatikan“ der byzantinischen Kirche werden. Von 1917 bis 1930 lebte der Patriarch im Don-Kloster bei Moskau. Das war schon bescheiden genug.

Nach 1932 war der Sitz des Patriarchates mehr als bescheiden. Die damaligen Gesetze erlaubten es nicht, daß ein Geistlicher in einem dem Staate oder der Gemeinde gehörenden Gebäude wohnte. So mußten die Gläubigen ihrem kirchlichen Oberhaupt ein Haus bauen. Es war ein niedriges Holzhaus und lag ganz an der Peripherie der Stadt, in.einer armseligen Gasse. In einem winzigen Vorzimmer schrieben an einem alten Küchentisch zerlumpte Geistliche ihre Gesuche. Ein kleiner Kanzleiraum. Ein Speisezimmer mit untapezierten Holzwänden und wenigen zusammengewürfelten Möbeln.

Auch das Zimmer, n welchem den Verfasser 1932 der Verweser des Patriarchenthrones empfing, war mehr als ärmlich. Nur die alten, prachtvollen Ikonen an den Wänden verschönerten es.

Und jetzt — auch ohne Neubauten — ist das Dreifaltigkeitskloster ein äußeres Symbol der Macht. Es war einst das reichste und berühmteste Kloster Rußlands. Nicht nur ein religiöser Wallfahrtsort, sondern auch ein nationales Heiligtum. Im alten Rußland, vor Peter dem Großen, war es eine der stärksten Festungen, Moskau vorgelagert. Wiederholt zerschellte der Ansturm der Tataren an seinen Mauern. Sie hielten auch stand als 1608 und 1613 die Polen, die Moskau besetzt hielten und ihren Prinzen Wladislaw auf den Zarenthron bringen wollten, das Kloster belagerten. Der kriegerische Widerstand der Mönche des heiligen Sergius ermöglichte damals die Einsetzung der neuen nationalen Dynastie der .Romanow. Darauf hält sich die russisch-orthodoxe Kirche nicht wenig zugute — denn wäre der. polnische Prinz auf den russischen Thron gelangt, dann wäre vielleicht auch der Katholizismus in Rußland durchgedrungen. Und immer noch hält die orthodoxe Kirche den Papst für ihren Feind Nr. 1.

Die trotzigen Mauern und Türme, die einst den „Sturm des Papstes“ ausgehalten haben, stehen heute noch. Diese Mauern umschließen eine ganze kirchliche Stadt. Es stehen noch die großen Gebäude, in denen die Mönche wohnten und in denen heute die Verwaltungskanzleien des Patriarchates untergebracht sind. Auch das Palais ist noch da, in dem einst, wie vor Peter dem Großen, der Patriarch von ganz Rußland wohnte, wenn er im Kloster war. Eben dieses Palais soll jetzt so prachtvoll ausgebaut werden.

Doch es gibt noch ein kleineres Palais, die einstige Wohnung des Abtes. Dann ein schönes Gebäude für Ehrengäste. Sehr viele Wirtschaftsgebäude. Endlich zwei Kathedralen und elf andere Kirchen. Im Dreifaltigkeitskloster des heiligen Sergius leben nicht nur der Patriarch pnd sein Gefolge. Dort ist nicht nur die ganze Verwaltung des Patriarchates untergebracht. Auch die theologischen Lehranstalten der Moskauer Erzdiözese, die Theologische Hochschule (Geistliche Akademie) und ein Priesterseminar befinden sich dort. Außerdem der Buch- und Schriftenverlag des Patriarchates und die Redaktion des Blattes, das das Patriarchat herausgibt. Das Kloster ist auch Sitz des Rates des Patriarchen, der „heiligen Synode“, gewissermaßen eines russischen Kardinalskollegiums.

Es ist ein imponierendes geistliches Zentrum, durchaus entsprechend den Herrschaftsansprüchen der russischen orthodoxen Kirche und ihrer Lehre von Moskau als dem dritten Rom.

Allgemein wird angenommen, daß die russische Kirche sich einfach den roten Gewalthabern im Kreml unterworfen hat und für die bloße Möglichkeit, die Existenz zu fristen, sich blindlings zur Dienerin dieser atheistischen Diktatur erniedrigt. Das ist nicht der Fall. Als nach der Revolution 1917 der erste seit Peter des Großen Zeit gewählte Patriarch Tichon in aller Oeffentüchkeit den Widerstand gegen die Sowjetmacht und ihre Gesetze befahl, da konnte kein roter Terror diese Kirche brechen. Zehntausende von Priestern besiegelten mit einem oft furchtbaren Märtyrertod diesen Widerstand. Als der Patriarch Tichon dann 1922 das erste Mal in seinem berühmten Manifest die Sowjetregierung als gesetzliche Macht anerkannte und einen Frieden mit dieser Macht schließen wollte, da brach seinen Widerstand nicht dieser blutige Terror. Es waren ganz andere Kräfte, ganz andere Manöver, welche ihn zu dieser Unterwerfung veranlaßten. Nicht einmal die Tatsache allein, daß die Sowjets im Bürgerkrieg gesiegt hatten und auf einen Sturz der Sowjetmacht nicht mehr zu rechnen war. Was jedoch den damaligen

Patriarchen umstimmte, war das Auftauchen eines neuen Schismas innerhalb seiner Kirche. Eine Art Reformation innerhalb dieser Kirche. Es entstand damals die Erneuererkirche, die sogenannte „lebendige Kirche“, die sich nicht nur der Revolution anpaßte, nicht nur die orthodoxe Kirche reformieren wollte, sondern sie sogar zu bekämpfen begann. Dazu kam noch, daß den protestantischen Freikirchen, vor allem den Baptisten, die erst durch die Revolution in Rußland legal geworden sind, ein tiefer Einbruch in die pravo- slawe Bevölkerung gelang. Die orthodoxe Kirche in der Ukraine versuchte sich auto- kephal zu organisieren. Das hattd keine reli-giöse, wohl aber eine eminent kirchenpolitische Bedeutung für das Moskauer Patriarchat. Denn diese autokephale ukrainische Kirche war ukrainisch-nationalistisch und scharf antirussisch. Dadurch war das historische Gedankengebäude, auf dem das russische Patriarchat begründet ist, die direkte Genesis der russischen Kirche vor dem Kiewer Großfürstentum und der Christianisierung Kiews, bedroht.

Doch ausschlaggebend für den Patriarchen waren die Gerüchte, daß die Sowjetregierung bereit war, mit dem Vatikan zu verhandeln und die Propaganda für die Union zu gestatten. Damals war es ein Kniefall der Kirche. Damals hatte Lenin gesiegt. Für das Manifest des Patriarchen hat er nichts versprochen und nichts zugestanden

.1934 war das ganz anders. Die überfüllten Kirchen zu Ostern 1933, der geistige Auf schwung, den das religiöse Leben, trotz furchtbarer Verfolgungen, plötzlich zeigte, die Tatsache, daß, trotzdem das Priestertum eine sichere Anwartschaft auf ein Martyrium war, sich noch immer Jugend zu den Priesterseminaren meldete, der Widerstand der Bauern: das alles zwang Stalin zum plötzlichen Nachgeben. So unvermittelt 1922 das Manifest des Patriarchen Tichon kam, so unvermittelt kam jetzt das Nachgeben der Sowjetregierung. Sie war es, welche die ersten Schritte einleitete: Nachlassen der Verfolgungen, Einstellung der Schließung weiterer Kirchen, Eindämmung der antireligiösen Propaganda. Aus dem Waffenstillstand wurde später eine Bundesgenossenschaft. Denn es ist zweifellos, daß die russisch-orthodoxe Kirche seit 1934 gewaltigen Einfluß gewonnen hat. 1929 war die Geistlichkiet rechtlos, verfemt, erniedrigt und verachtet Seit 1936 ist der Geistliche gleichberechtigter Bürger, durch die Gesetze geschützt, als „Intelligenzler“ im Nebenberuf auch zum Staatsdienst zugelassen. Die hohe Geistlichkeit wird in der Oeffent- lichkeit geehrt, der Patriarch sogar demonstrativ mit einem hohen Orden ausgezeichnet. Die schärfsten Bestimmungen des Religionsgesetzes sind gemildert oder sogar ganz aufgehoben worden. Noch immer sind die Schulen laizistisch. Doch die radikale antireligiöse Propaganda ist verboten. Es darf nur „wissenschaftliche“ Propaganda gegen die Religion betrieben werden, welche das religiöse Gefühl nicht beleidigen darf. Abgeschwächt ist auch das Verbot der religiösen Propaganda. Die Kirche darf jetzt, wenn auch noch gehemmt. Druckschriften und Bücher verlegen und vertreiben. Sie darf sogar unter der heidnischen Bevölkerung eine Missionstätigkeit entfalten. Aufgehoben ist das Verbot religiöser Handlungen in der Oeffentlichkeit außerhalb der gottesdienstlichen Räume und in staatlichen Gebäuden. In einem beschränkten Ausmaß können jetzt wieder öffentliche Kirchenprozessionen durchgeführt, ja das Fest der Wasserweihe außerhalb der Kirche gefeiert werden. Theologische Hochschulen und Priesterseminare können jetzt frei in aller Oeffentlichkeit tätig sein. Die Geistlichkeit; hat jetzt auch wieder Zugang zu den Krankenhäusern. Auf vollkommen neuer

Grundlage ist das materielle Dasein der Kirche gestellt. Bis 1937 durfte die Kirche keine Gebühren erheben. Sie war ausschließlich auf die freiwilligen Gaben der Gläubigen angewiesen. Es war strafbar, wenn der Geistliche, etwa für eine Hochzeit, auch nur andeutungsweise Bezahlung verlangte. Dem Staate gegenüber mußten für jede Gemeinde mindestens 25 Personen die persönliche materielle Haftung übernehmen, sonst wurde das Kirchengebäude nicht „verpachtet".

Jetzt darf die Kirche Mitgliederbeiträge und Gebühren erheben, ja diese Beiträge sogar eintreiben. Bis 1937 war jede „wirtschaftliche“ Tätigkeit der Religionsgenossenschaften verboten. Heute dürfen sie Verlage, Druckereien, Werkstätten unterhalten, soweit diese Unternehmungen für die Ausübung des kirchlichen Dienstes notwendig sind.

Schon das allein würde für ein leidliches Verhältnis zwischen Kirche und Staat genügen. Doch seitdem die sowjetische Innenpolitik russisch-nationalistisch, die Außenpolitik imperialistisch-panslawistisch ist, verdichtete sich das Verhältnis von pravoslawer Kirche und Staat zur engen Bundesgenossenschaft. Die russische Kirche nützt jetzt dem Sowjetstaat, und die außenpolitische Ausbreitung der Sowjets der russischen Kirche. Die der russischen Kirche so verhaßte Union wurde nicht nur in Galizien, sondern auch in allen Satellitenstaaten liquidiert. Nicht zugunsten des Atheismus, sondern zugunsten der pravoslawen Kirche. Die orthodoxen Kirchen Rumäniens, Bulgariens, bis zu einem gewissen Grade auch Serbiens wurden vom ökumenischen Patriarchat losgelöst und orientieren sich jetzt auf Moskau. Das Moskauer Patriarchat schuf ganz neue, von ihm abhängige „autokephale“ orthodoxe Kirchen in Ländern, die mehrheitlich römisch-katholisch oder protestantisch sind. So entstanden die autokephalen pravoslawen Kirchen in der Tschechoslowakei, in Polen, in Albanien. Moskau ist sehr nähe daran, innerhalb der Welt der byzantinischen Kirche mit Hilfe der Sowjetmacht wirklich das dritte Rom zu werden.

Der ökumenische Patriarch in Istanbul kämpft noch um seine letzten Positionen. Im Streite zwischen der bulgarischen Kirche mit dem ökumenischen Patriarchat hat sich Moskau natürlich auf die Seite der Bulgaren gestellt. Der Kampf geht jetzt um die Jurisdiktion über die finnische pravoslawe Kirche und über die pravoslawe Kirche außerhalb des Ostblocks, vor allem in Amerika. Wenn die Spannungen zwischen Ost und West nach- lassen, so ist auch hier der Sieg dem Moskauer Patriarchat gewiß. Das wird aber gleichzeitig einer Verstärkung des russischen Einflusses in Amerika gleichkommen. Noch bleiben dem Konstantinopler Patriarchen außer den orthodoxen Diasporakirchen in Europa und Amerika nur noch Griechenland und der Orient. Doch der Patriarch in Antiochia hat sich offen auf die Seite Moskaus gestellt. Der Patriarch in Alexandrien unterhält mit dem Moskauer Patriarchen freundschaftliche Beziehungen. Der Patriarch von

Jerusalem ist vorläufig noch „neutral". Wie lange noch? Denn seit jeher hat das Patriarchat in Jerusalem von der Unterstützung Rußlands gelebt. Gelingt es aber Moskau, die drei orientalischen historischen Patriarchate unter seinen Einfluß zu bringen, dann hat cs auch seinen Einfluß auf die orientalischen Kirchen außerhalb der Pravoslawie erstreckt. Heute schon lebt die armenisch-gregorianische Kirche im Schatten’ des Moskauer Patriarchates. Wenn dem Moskauer Patriarchen der Einbruch in den mittleren Orient gelingt, dann erstreckt sich sein Einfluß auch auf die Kirche des heiligen Johannes in Abessinien, auf die koptischen und chaldaeischen Kirchen, mit einem Wort, auf alle orientalischen Kirchen außerhalb der Jurisdiktion des Vatikans. Als nächste Etappe richtet sich also das Moskauer Patriarchat zum entscheidenden Kampf gegen die bisherige pravoslawe Oekumene. Der ökumenische Patriarch beabsichtigte schon 1951 ein Weltkonzil der pravoslawischen Kirche einzuberufen. Da Moskau dem widerstrebte, gelang ihm das nicht. Jetzt will der Patriarch Alexej ein solches Weltkonzil nach Moskau einberufen. Daher die gewaltigen Bauvorhaben mit Unterstützung des Kreml im russischen „Vatikan". Es naht die letzte Runde im Kampf zwischen Moskau und Konstantinopel um das Primat. Siegt Moskau, dann ist es das dritte Rom innerhalb der byzantinischen Kirchenwelt und dann ist der Weg frei zum Kampf gegen alle anderen Kirchen der Welt und das Weltprimat.

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