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In Russland bekennen sich mehr Leute zur Orthodoxie, als an Gott glauben: Nur eines der Paradoxa im Zusammenspiel zwischen Staat und Religion in der postsowjetischen Gesellschaft.

Mit ihrer nationalistisch-patriotischen Haltung füllt die russische orthodoxe Kirche das ideologische Vakuum im russischen Staat. Durch ihren Kuschelkurs mit der Staatsmacht läuft sie allerdings langfristig Gefahr, im Volk ihre Autorität zu verlieren. Auf moralischer Ebene sei die ohnehin nicht vorhanden, weil sich die Kirche nie einer inneren Reform unterzogen habe, meint der russische Religionssoziologe Nikolaj Schaburow. Im Gespräch mit der Furche analysiert der Leiter des wissenschaftlichen Zentrums für Religionforschung an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität das Nahverhältnis zwischen Kirche und Staat, die innerkirchlichen Machtkämpfe und die wahren Vorbehalte gegen einen Papstbesuch.

Die Furche: Welche Dynamik nahm die Beziehung zwischen russischem Staat und orthodoxer Kirche in den letzten zehn Jahren?

Nikolaj Schaburow: Die Entwicklung verläuft nicht gradlinig. Die Orthodoxie hat keine Erfahrung damit, in einer offenen Gesellschaft gleichwertig mit anderen Konfessionen zu leben. Sie hat nur Erfahrung als Staatsreligion und als Verfolgte zur Sowjetzeit. Die Epoche der Ungewissheit nach der Perestrojka rief großes Unbehagen bei vielen Geistlichen hervor, sodass sie einen bestimmten staatlichen Status suchen. Offiziell tritt die Kirche für eine Trennung vom Staat ein, in Wirklichkeit aber erachtet sie das byzantinische Modell, das bis 1918 galt, als ideal.

Da auch der Staat nach dem Kommunismus eine Ideologie brauchte, fand er Interesse an der Kirche, die ihre traditionelle Ideologie in Form von Patriotismus und einer historisch staatsbildenden Rolle anbietet. Übrigens wollten unterschiedliche politische Kräfte die Kirche zur Auffüllung des Vakuums nützen - auch einige Liberale sehr plump. Boris Jelzin suchte besondere Beziehungen zur Orthodoxie. Mit Putin schien ein mehr pragmatischer Zugang zu kommen, zumal gewisse Kräfte im Kreml sehr zurückhaltend gegenüber dem Patriarchat sind.

In den letzten drei Jahren haben wir eine undurchsichtige Situation. Aber die Tendenz zu einer privilegierten Stellung der Orthodoxie vor anderen Religionen scheint sich zu verstärken. Auf Regionalebene hat die Orthodoxie bereits so etwas wie staatsreligiösen Status, auf Bundesebene nicht, aber die starke Tendenz dorthin besteht. Aber noch hat sie nicht alle Ziele - wie die Einführung des Schulfaches "Grundlagen der orthodoxen Kultur" - erreicht.

Die Furche: Weshalb sucht die Staatsmacht die Unterstützung der Orthodoxie?

Schaburow: Die Kirche hat genug Autorität in der Bevölkerung, denn obwohl nur drei bis fünf Prozent ihrer Gläubigen praktizierende Christen sind, steht ein bedeutender Teil der Bevölkerung doch positiv zur Orthodoxie - als Trägerin einer Kontinuität der nationalen Identität. Beamte schreiben der Orthodoxie gewisse Kräfte zu, die sie historisch zur Bildung einer russischen Staatlichkeit befähigt. Die Autorität der Kirche gründet nicht unbedingt auf der Verstärkung der Religiosität, sondern auf der nationalen Identität. Es ist paradox: laut Statistik bekennen sich mehr Leute zur Orthodoxie als an Gott glauben.

Die Furche: Welcher Gefahr unterzieht sich die Kirche durch die Allianz mit dem Staat?

Schaburow: Kurzfristig ist die Allianz vorteilhaft, denn die Orthodoxie ist innerlich zu schwach für Konkurrenzbedingungen. Die Gefahr ist langfristig, denn keine Staatsmacht existiert ewig. In einer neuen Etappe könnte die Kirche, befleckt durch die Allianz mit dem Regime, ähnlich wie nach dem Fall der Monarchie einen katastrophalen Autoritätsverlust erleiden.

Die Furche: Kann nicht auch der Staat an dieser Allianz Schadennehmen, da die Kirche doch isolationistisch orientiert ist?

Schaburow: Die Säkularisierung des 20. Jahrhunderts ist nicht umkehrbar. Ein jäher Schritt zur Verkirchlichung wird also nicht stattfinden. Die Hoffnung auf eine religiöse Wiedergeburt nach der Perestrojka erwies sich als Illusion. Wie sehr die Staatsmacht Offenheit und eine Annäherung an Europa will, weiß ich nicht genau. Sie deklariert dies, aber auf der etwas niedrigeren Ebene der Beamten ist eine isolationistische, antiwestliche Stimmung zu konstatieren. Die Kirche, die die isolationistische Gesellschaftsschicht repräsentiert, bringt die Politik natürlich in Richtung dieser Stimmung.

Die Furche: Warum ist das Verhältnis der Orthodoxie zum Islam unproblematisch, zu den christlichen Konfessionen aber völlig gespannt?

Schaburow: Die russische Orthodoxie sieht sich als eine Art ethnische Religion. Daher wirbt sie auch nicht bei den so genannten ethnischen Muslimen - und umgekehrt. Darüberhinaus steht ihr der Islam bei antiwestlichen und antiglobalistischen Gefühlen näher. Gegenüber christlichen Konfessionen, die aktiv auf ethnisch russischem Boden arbeiten, ist man extrem empfindlich. Für mich ist es irgendwie ein Rätsel, dass die Katholiken negativer bewertet werden als die Protestanten, die viel aktiver und erfolgreicher auf russischem Boden agieren.

Vielleicht kommt das daher, dass im russischen Bewusstsein der Westen traditionell mit dem Katholizismus verbunden ist. Es herrscht große Unsicherheit gegenüber Katholiken. Von einem höheren Mitarbeiter im Moskauer Patriarchat habe ich gehört, dass die Katholiken es vermögen, die schöpferische-künstlerische Intelligenz an sich zu ziehen, was die Orthodoxie schwächen würde. Der Widerstand gegen einen Papstbesuch aber scheint mir nicht im Vorwurf des Unitarismus in der Westukraine und des Proselytismus begründet, sondern vielmehr darin, dass bei einem Treffen Aleksij II. wie ein russischer Bürokrat hinter dem geistlichen Potenzial des Papstes verblassen würde.

Die Furche: War der Besuch des römischen Kurienkardinals Walter Kasper Ende Februar ein wesentlicher Schritt in den Beziehungen?

Schaburow: Nein, aus einer Reihe von Gründen: In beiden Kirchen wird über die Nachfolger an der Kirchenspitze nachgedacht. Niemand ist in dieser Situation zu einem ernsthaften Schritt bereit.

Andererseits sind einige Katholiken hier enttäuscht, dass Rom gute Beziehungen mit der Moskauer Patriarchat um jeden Preis - auch auf Kosten der russischen Katholiken - herzustellen bereit ist. Das ist nicht sehr weitsichtig, denn das Moskauer Patriarchat ist nicht die ganze Orthodoxie. Die Autorität des Moskauer Patriarchats wird irgendwann zu Ende gehen - da ihre Leute allzusehr mit ihren eigenen Interessen beschäftigt sind.

Die Furche: Welche Stärke haben die Gruppen im innerkirchlichen Machtkampf?

Schaburow: Die nationalistischen und fundamentalistischen Kräfte zeigen die größte Aktivität. Am extremsten sind die charismatisch-eschatologischen Starzen mit ihrem mystizistischen Radikal-Antiglobalismus. Der kirchliche Antisemitismus ist außergewöhnlich verbreitet, das "Protokoll der Weisen von Zion" wird in kirchlichen Läden in großer Zahl verkauft.

Der Westen wird als vor allem säkularisierte Kraft aufgefasst und die westliche Kirche auch von diesem Geist der Säkularisierung, Modernität und Globalisierung durchdrungen - daher auch die große Sympathie zwischen orthodoxen Fundamentalisten und Lefebvristen, die angeblich einige unsere fundamentalistischen Druckerzeugnisse finanziell unterstützen.

Der liberale und ökumenische Flügel, der Anfang der neunziger Jahre lautstark war, ist praktisch zerschlagen und nicht mehr bemerkbar, er stellt keinen Bischof. Die Kirche will sich offenbar nicht sonderlich an einem dynamischen, jüngeren, moderneren Teil der Bevölkerung orientieren. Sie ist eine Kirche der Strukturen, die sich in keiner Weise nach dem Fall des Kommunismus erneuert hat.

Als dritte Gruppe gelten die pragmatischen Clans - hier sind die Trennlinien nicht theologisch-weltanschaulicher Natur, sondern im Machtkampf wie etwa der Kampf zwischen Kirill von Smolensk und Method von Woronesch; letzterer wurde nach Kasachstan verbannt. Als Schüler des prokatholischen Nikodem Rotter galt Kiril früher als verhältnismäßig liberal und ökumenisch orientiert. Er ist aber vor allem Pragmatiker, denn derzeit ist Liberalität nicht "in", so gibt er sich isolationistisch, wenn auch gemäßigt.

Die Furche: Wird er Nachfolger von Aleksij II.?

Schaburow: Im jetzigen Moment, ja. Was in einem Jahr sein wird, kann ich nicht sagen, denn alles läuft sehr verschlossen ab. Kirill ist eine starke Figur und klug. Wenn er Patriarch wird, ist schwer zu sagen, welche Politik er durchführen wird.

Die Furche: Hat die Kirche den Zeitpunkt für Reform schon versäumt?

Schaburow: Ich denke, ja. Hätte sie sie gleich nach der Perestrojka durchgeführt, könnte sie heute eine Rolle als moralische Autorität in der Gesellschaft spielen. Diese Autorität hat sie nicht, weil sie keine eigenständige Position einnimmt und immer der politischen Konjunktur nach dem Mund redet - sei es beim Antisemitismus, beim Tschetschenienkrieg, bei der Xenophobie und den Ausschreitungen der Skinheads. Kiril stellte kürzlich einen Kodex für christliche Unternehmer vor, das ist (nicht zufällig in Zusammenhang mit der Causa um den Erdölkonzern Yukos) wieder ein Versuch, der jetzigen politischen Mode zu entsprechen.

Die Furche: Nach Gerüchten ist der konservative Geistliche Tichon über Vermittlung des Bankunternehmers Sergej Pugatschew der Geistliche Putins.

Schaburow: Die Gerüchte gibt es. Einerseits sind sie seltsam, denn meine Vorstellungen über Putin und Tichon gehen sehr auseinander. Andererseits hat niemand diese Gerüchte dementiert - abermals typisch für die jetzige Zeit, da alles möglich ist.

Die Furche: Wie kommentieren Sie, dass sich die russische orthodoxe Kirche in einer Liste von Organisationen, die von Saddam Hussein Bestechungsgelder kassierten, an ziemlich prominenter Stelle befand. Im Jahr 2002 rätselten Medien, warum eine hochrangige Orthodoxe Kirchendelegation mehrere Tage in Bagdad zubrachte.

Schaburow: Ich weiß das auch nur aus der Presse. Es ist durchaus möglich, dass es mit der Kooperation so war; aber ob es so war, kann ich nicht sagen. Es gibt seitens vieler Hierarchen eine große Sympathie zu autoritären Regimen - etwa zum Iran. Aber konkrete Anschuldigungen kann ich genausowenig bestätigen wie vor einigen Jahren die Anschuldigungen einer Involvierung der Kirche in den Alkohol- und Tabakhandel. Möglich ist alles, denn für das jetzige Moskauer Patriarchat sehe ich keinerlei moralische Beschränkungen in dieser Hinsicht.

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