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Ein Nationalismus besonderer Art

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Hinsichtlich des Nationalismus müssen wir Mitteleuropäer einen großen Sprung machen, um den in der Sowjetunion allgemein herrschenden Nationalismus und den der russischen Kirche besonderen Patriotismus richtig zu verstehen. Schließlich waren es die vaterländischen großen Reden Stalins in den kritischen Kriegsjahren sowie die kulturpolitische nationalrussische Linie Shdanows, die mithalfen, dem russischen Volk Siegesmut zu geben und die Kraft, die Erfolge des Sieges zu sichern. Ein Volk, welches unter größten Opfern einen Krieg gewonnen und dabei Gebietserwerbungen wie niemals zuvor zu verzeichnen hatte, entwickelt ein nationales Selbstbewußtsein, auch wenn es auf Grund seiner Gesellschaftsordnung nationalen Gefühlen mit Vorbehalt gegenüberstehen müßte.

Eine russische Kirche

Anders verhält es sich mit dem Patriotismus der russisch-orthodoxen Kirche. Abgesehen davon, daß auch etliche der geistlichen Würdenträger dieser Kirche national gesinnte Russen sind, weil sie den Krieg in seiner ganzen bedrückenden Härte als Russen mitgemacht haben, war doch diese Kirche stets nicht nur mit dem jeweiligen Staatsgefüge, sondern auch mit dem Schicksal des russischen Volkes aufs engste verbunden. Nur zwei Beispiele seien dafür angegeben: Schon im 16. Jahrhundert gab es eine Richtung in der Orthodoxen Kirche, welche lehrte: „Gott übergab dem Zaren die Gewalt und die Pflege aller die Kirche und die Christenheit betreffenden Dinge” (Josif von Wolokolamsk, t 1515). Nicht nur Iwan der Schreckliche, sondern auch Peter der Große liegen in ihrer Auffassung von dem Verhältnis von Herrscher und Kirche auf dieser Linie, wie es ja zum Beispiel bei der Abschaffung des Patriarchates unter Peter dem Großen (1721) zum Ausdruck kam. Er erklärte in einer Versammlung, die ihn um die Erhaltung des Patriarchates bat: „Hier ist euer Patriarch” und führte damit den Absolutismus auch auf kirchlichem Gebiet in Rußland ein. Dieser dauerte bis zur Revolution im Jahre 1917. Schon Katharina II. zog alles Kirchengut an sich (1764) und machte daher die Kirche vollständig von der Staatsgewalt abhängig. Diese Funktion des Zarentums gegenüber der Kirche wurde durch das Regime des Rates für kirchliche Angelegenheiten im Rat der Minister abgelöst. Es gab in Rußland niemals eine freie Kirche im freien Staat nach unserem Begriff.

Das zweite Beispiel: Die russische Kirche zählt in Estland nur rund fünf Prozent der Bevölkerung; die übrigen Christen sind meist Lutheraner. Dennoch verfügt sie allein in Tallinn über sieben Kirchen und unterhält dort einen Erzbischof und einen Archimandriten nebst zwei Erzpriestern und anderen Priestern. Es liegt sehr nahe, diese unverhältnismäßig starke Begünstigung der russisch-orthodoxen Kirche in Estland neben der Konfessionalpolitik einer Katharina II. in Polen (1772) und eines Nikolaus I. in Lettland und Estland (1845) zu stellen, wem auch vor dem gemeinsamen atheistischen Hintergrund und im Zuge der ökumenischen Verbundenheit gewiß das Verhältnis zwischen Orthodoxen und Lutheranern heute brüderlich ist. Die russisch-orthodoxe Kirche ist eben eine russische Kirche.

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