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Plädoyer für gegenseitige Achtung

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Die Russische Orthodoxie wird verdächtigt, mit der Sowjetmacht kollaboriert zu haben. Doch die Kirchen in der früheren Sowjetunion haben - entgegen vorschnellen Urteilen -schwerste Verfolgung erlitten.

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Die Russische Orthodoxie wird verdächtigt, mit der Sowjetmacht kollaboriert zu haben. Doch die Kirchen in der früheren Sowjetunion haben - entgegen vorschnellen Urteilen -schwerste Verfolgung erlitten.

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Die Kirchen Ost und Südosteuropas haben in unserer Zeit die schwerste Christenverfolgung der Kirchengeschichte überstanden. Am ärgsten waren die von alters her auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion beheimateten Kirchen betroffen. Die Zahl der Märtyrer und Bekenner ist unüberschaubar, und das Aufblühen der Kirchen nach dem Ende der Sowjetmacht zeigt, daß sich das Blut der Märtyrer wie in alter Zeit, so auch in unserem Jahrhundert als Same der Christenheit erwies.

Doch leider geschah es, und man kann nur mit Beschämung davon sprechen, daß christliche Emigrantenkreise aus Osteuropa und in-tegralistisch denkende westeuropäische Christen, die in der Sicherheit eines westlichen Staates mit Re-ligions- und Redefreiheit lebten, die Russische Orthodoxe Kirche verächtlich als „sowjetische Kirche” apostrophierten, denn Rußlands Kirchenführer haben zwangsläufig nach einem „modus vivendi” mit den kirchenfeindlichen Behörden suchen müssen. Dieser erwies sich wegen der Bechtlosigkeit der Kirche und wegen ihrer Schwäche gegenüber dem totalitären Staat als ein enges Korsett. Die scharfen und lieblosen Kritiker überhörten, daß russische Hierarchen damals davon sprachen, daß sie sich einem Martyrium der Selbstverleugnung unterzogen. Sie beachteten nicht, daß viele Hierarchen bewußt auf die Reputation verzichteten, die sie als unbeugsame Widerstandskämpfer persönlich hätten erwerben können; daß sie statt dessen Kompromisse eingingen, damit sie dem christlichen Volk um einen Preis, der bisweilen sehr hoch war, wenigstens die Spendung der heiligen Sakramente sicherten.

Niemand bestreitet, daß es beim Kompromisse-Schließen Fehler gab. Die Kritiker, die hämisch auf einschlägige Fehler verweisen, bedenken zu wenig, daß keiner, der in einer schwierigen Situation zu Kompromissen gezwungen wird, vorherwissen kann, was sich später daraus entwickeln wird. Sie nehmen auch nicht zur Kenntnis, daß der Geist Gottes den Kirchen Rußlands in jener Epoche, in der viele Bischöfe das Martyrium der Selbstverleugnung auf sich nahmen, in besonderem Maß beistand und ihnen gerade damals die Kraft zu einem beispielhaften Zeugnisgeben verlieh. Bedauerlicherweise erheben sich neuerdings auch in Rußland Stimmen, die den Verurteilungen zustimmen. Leider gibt es Fälle, in denen über Menschen, die nicht nur Selbstverleugnung übten, sondern Gefängnis und Eagerhaft ertrugen, und sogar über solche, die zu Blutzeugen wurden, mit wenig oder fast ganz ohne Ehrfurcht gesprochen wird. Von selbstüberheblichen Besserwissern werden sie heutzutage bisweilen für Fehleinschätzungen verurteilt, die ihnen trotz ihrer Aufrichtigkeit unterlaufen sind. Die Russische Orthodoxe Kirche war bis 1917 Staatskirche gewesen, und bis zum Untergang der Zarenmacht hatten alle, die für die Übernahme eines kirchlichen Führungsamtes in Frage kamen, eine Ausbildung erhalten, durch die sie zu weitgehender Kollaborationsbereitschaft mit den staatlichen Organen erzogen wurden. Zwar hatte es an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert unter Rußlands Orthodoxen sehr ernste Bedenken dagegen gegeben, daß die Kirche weiterhin in der durch Peter I. eingeleiteten Weise an den Staat ausgeliefert bleibe. Daß das Bussische Landeskonzil von 1917/18 das Patriarchat wiedererrichtete (vgl. furche 33/1997, Seite 17) und Verfügungen zum Schaffen neuer Gremien gab, um der Kirche eine Führungsautorität zu sichern, die nicht wie der Heilige Regierende Synod in staatlichem Auftrag handeln sollte, war ein wichtiges Resultat des Drängens auf Neubesinnung und ganz allgemein auf eine gründliche pastora-le Erneuerung in der Russischen Orthodoxen Kirche zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Doch es ist zweierlei, nach einer neuen Haltung zu verlangen oder auch bereits die Verhaltensweisen erlernt zu haben, die es braucht, um das alltägliche kirchliche Leben gemäß der neuen Einstellung zu gestalten. Sowohl in den Verfolgungen der zwanziger Jahre, als auch unter den veränderten Bedingungen der sogenannten „neuen Kirchenpolitik” Stalins nach dem Zweiten Weltkrieg mußten aufrechte orthodoxe Christen, denen das Wohl der Kirche Christi am Herzen lag, die aber auf keine langjährigen Erfahrungen vom Verhältnis einer selbständigen Kirche zur Staatsmacht zurückblicken konnten, in vielen Einzelsituationen nach eigenem Gutdünken die Verfahrensweise wählen.

Ökumene im Westen

Umso mehr waren sie trotz des Mangels an Erfahrungen auf sich alleine gestellt, weil es die Sowjetmacht nicht zugelassen hatte, daß die russische Kirche die vom Iandeskonzil 1917/18 vorgesehenen eigenständigen kirchlichen Gremien tatsächlich einrichtete. Die vom Konzil gewünschte Eigenständigkeit der Kirche hat darum nie volle Wirklichkeit werden können. Darf jemand Fehlentscheidungen, die von aufrechten Christen in solcher Lage getroffen wurden, zum Anlaß nehmen, ihnen die verräterische Gesinnung von Kollaborateuren nachzusagen?

Außerdem erfolgte, während Rußlands Kirchen in der Verfolgung lebten, in der nicht-kommunistischen Welt eine Neubesinnung auf das gegenseitige Verhältnis zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche. Im Lauf der Neubesinnung fanden beide Kirchen zu jener Ekklesiologie zurück, die bis ins 18. Jahrhundert ihr gemeinsames traditionelles Erbe war; sie lernten wieder einzusehen, daß sie beide von Gott beauftragt sind, zum Heil der Menschen das Evangelium zu predigen, die heiligen Sakramente als Gnaden- und I Ieilsmittel zu spenden und ihre Gläubigen zum ewigen Leben zu führen.

Zwei Jahrhunderte lang war diese Einsicht verdunkelt gewesen, und auf beiden Seiten war man überzeugt gewesen, daß es dem Willen Gottes entspräche und dem Heil der Seelen förderlich wäre, wenn man die „getrennten Christen” zur Konversion veranlaßt. Vor dem Ausbruch der kommunistischen Kirchenverfolgung war dies unangefochten die nahezu einhellige Überzeugung von Katholiken und Orthodoxen gewesen. Beim heimlichen Weitergeben des Glaubens an die Kinder und Kindeskinder gaben Rußlands Gläubige auch diese Überzeugung weiter. Nur eine verschwindende Minderheit von Rußlands Bischöfen und Theologen, die zu ökumenischen Treffen ins Ausland reisen durften, erfuhr etwas von der Bückbesinnung auf die traditionelle, aber etwa 200 Jahre fast vergessene Lehre, die in den Kirchen der nichtkommunistischen Welt vor sich ging; der breiten Mehrheit von Klerus und Laien blieb sie verborgen.

Daß unter diesen Umständen viele Christen - Katholiken ebenso wie Orthodoxe - aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion derzeit die neue ökumenische Einsicht ihrem kirchlichen Verhalten noch nicht zugrunde legen können, verwundert nicht. Wie sollten sie diese auch kennengelernt haben?

Wechselseitiges „Heimholen”

Unter staatlichem Schutz war die Bussische Orthodoxe Kirche im 19. Jahrhundert in den Gebieten, die bei den polnischen Teilungen zum Zarenreich gekommen waren, in der

Lage gewesen, die unierten Katholiken auf ihre Seite zu holen. Sie war überzeugt, dies im Gehorsam gegen das Evangelium tun zu sollen. Es wäre schweres Unrecht gegenüber den damaligen russischen Hierarchen, wenn man ihr geistliches Anliegen übersähe und ihr Mittun bei den vom Staat gewünschten Bekehrungsaktionen allein aus weltlichen Motiven erklären wollte.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten sich Katholiken die politische Entwicklung Rußlands zur Religionsfreiheit zunutze, um orthodoxe Russen für die Unterstellung unter das Hirtenamt des Papstes, des Nachfolgers Petri zu gewinnen, indem sie in St. Petersburg eine neue, mit Rom unier -te Gemeinschaft gründeten. Aufgrund der damals geläufigen Ekklesiologie erschien ihnen dies als für das Heil der Seelen erforderlich. Von eben derselben Ekklesiologie waren der Jesuit und Bischof Michel d'Herbigny und alle, die mit ihm zusammenarbeiteten geleitet. Es ist zu berücksichtigen, daß dies geschah, ehe die katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu der Einsicht zurückfand, daß auch die orthodoxe Kirche die Gnaden- und Heilsmittel der Kirche Christi verwaltet. Vielmehr waren die beteiligten Katholiken damals überzeugt, daß sich die orthodoxen Katholiken außerhalb der Kirche befänden und des Heimholens bedürftig seien.

Als im Gefolge des Zweiten Weltkriegs Galizien und Karpato-Ruthe-nien der Sowjetunion eingegliedert wurden, gab es ein neues „Heimholen” von Katholiken in die orthodoxe Kirche. Es war ein von der Sowjetmacht veranlaßtes und im Ablauf allein von den Polizeibehörden geleitetes Unternehmen. Abermals standen Kleriker im Dienst der Ereignisse, und aufgrund der damals verbreiteten ekklesiologischen Ansichten müssen wir einräumen, daß zumindest ein Teil von ihnen es gut meinte. Neben den aufrichtig Überzeugten gab es an -dere Kleriker, die sich aus Angst vor den Behörden und aus übergroßer Bereitschaft, deren Willen zu erfüllen, zum Mittun gewinnen ließen. Auch von ausgesprochener Erpressung durch die Behörden und von schweren Zwangsmaßnahmen gegen nicht kooperationswillige Kleriker hat man Kenntnis. Die Sowjetbehörden nahmen die einen wie die anderen für eine Aktion in den Dienst, deren Ablauf jeder Christlichkeit Hohn sprach und die Religionsfreiheit mit Füßen trat, und sie erlaubten niemandem, auch nur die leiseste Kritik an dem Vorgehen zu üben.

Keine Möglichkeit -außer Schweigen

Sogar dem Moskauer Patriarchen Aleksij I. wurde Schuld angelastet, obwohl dieser das Mittun verweigerte, wie sich bei genauer Lektüre der einschlägigen Veröffentlichungen ergibt. Auf seine Art ist er zum Dulder geworden und verhielt sich den Geschehnissen gegenüber wie einer, der über sich ergehen läßt, was er nicht abwenden kann; wie einer, der sehr genau weiß, daß er, wenn er protestieren wollte, dies im äußersten Fall durch Schweigen tun darf, weil jedes unerwünschte Wort aus seinem Mund bitter gerächt würde, und zwar nicht an ihm selbst, wahrscheinlich auch nicht an den Rischöfen, wohl aber an zahlreichen Priestern und Gläubigen seiner Kirche. Er schwieg, weil ihm keine andere Möglichkeit mehr blieb, als durch Schweigen nicht zur Ursache zusätzlicher Leiden von Orthodoxen zu werden.

Wenn wir guten Grund für sachliche Einwände gegen das haben, was bestimmte Menschen taten, dürfen und sollen wir deren Verhalten fehlerhaft nennen. Dann haben wir auch die Pflicht, vordem Wiederholen derselben Handlungen zu warnen, denn es ist angebracht, aus der Geschichte Lehren zu ziehen. Was aber die ethische Qualität des Handelns von Menschen anbelangt, die Fehler begingen, sollen wir des Herrenwortes eingedenk sein: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet”. Anstatt ein Urteil fällen zu wollen, sollen wir, um uns der heiligen Schrift gemäß in gegenseitiger Achtung zu überbieten, lieber, wo immer es möglich ist, die Annahme machen, daß das Handeln trotz seiner Fehlerhaftigkeit „nach bestem Wissen und Gewissen” geschah.

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