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Ein lebender Leichnam

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Von Millionen „Dissidenten“ in der Sowjetunion hat der russischorthodoxe Metropolit Juvenalij, früherer Außenamtsleiter des Moskauer Patriarchats, einmal gesprochen. Er beantwortete damit eine Frage nach der Haltung der Kirche gegenüber dem atheistischen Staat. Gleichzeitig wollte er damit zum Ausdruck bringen, daß Religion in der Sowjetunion noch lange nicht vom Aussterben bedroht sei.

Eine Distanz zu jenen orthodoxen Gläubigen, die im Westen als „Dissidenten“ bekannt wurden, Mitglieder von Komitees zur Verteidigung der Rechte der Gläubigen, von Helsinki-Gruppen, unabhängigen Friedensbewegungen oder der im Untergrund tätigen sogenannten Christlichen Seminare, ging aus Juvenalij s Worten aber ebenso hervor. Man sieht in der russisch-orthodoxen Kirche in „Dissidenten“ nicht aus religiösen Gründen, sondern wegen ihres „verbrecherischen“ Verhaltens gegenüber dem Staat verurteilte Gläubige.

In allerjüngster Zeit hat hier aber ein Umdenken eingesetzt: die Kirche nimmt „Dissidenten“-Geistliche wieder in ihren Dienst, wenn sie sich von ihren „gesetzeswidrigen Handlungen“ distanzieren. Daß es sich dabei aber nur um die Inanspruchnahme von unveräußerlichen Menschenrechten handelt, wird von offiziellen Kirchenvertretern nicht gesehen.

Die Einstellung des Moskauer Patriarchats zu jener „Untergrundkirche“ innerhalb der Russischen Orthodoxie, die den atheistischen Staat bekämpft (siehe Seite 9), wird im westlichen Ausland als totale Anpassung an das kommunistische Regime angeprangert. Die russisch-orthodoxe Auslandskirche, die das Moskauer Patriarchat nicht anerkennt, sieht in den Moskauer Priestern und Bischöfen nur Vertreter des

KGB und lehnt Kontakte deswegen ab.

Fest steht, daß jeder ins westliche Ausland reisende russisch-orthodoxe Bischof natürlich seinen Frieden mit dem staatlichen Kirchenamt haben muß. Diese Bedingung, deren Annahme seitens des Moskauer Patriarchats auch das Uberleben der Kirche gewährleistete, darf aber nicht vollständige Ablehnung der Moskauer orthodoxen Hierarchie bedeuten, die immerhin als Sprecherin einer der 14 autokephalen orthodoxen Kirchen mit Rom einen ökumenischen Dialog führt.

Nach wie vor hat das Dokument des Patriarchen Sergej aus dem Jahre 1927 Gültigkeit, in dem der Wüle bekundet wird, als „Rechtgläubige die Sowjetunion als unsere irdische Heimat anzuerkennen“. Für viele Kritiker der Moskauer Kirche bedeutet diese Erklärung, daß die Kirche „kommunistisch“ geworden ist.

Dem könnte man als Anfrage entgegenhalten, ob auch der Wiener Kardinal Theodor Innitzer Nazi war, nur weil er das „Heil Hitler“ verwendete.

Frieden mit dem Staat bedeutete für die russisch-orthodoxe Kirche das Schließen zahlreicher Kompromisse. Daß dabei nicht selten übers Ziel geschossen wurde, dürfte auch klar sein. Doch vor vorschnellen historischen Urteilen sollte man sich hüten. Ging es doch vielen Metropoliten nur darum, den Gläubigen das sakramentale Leben zu gewährleisten, indem sie das Martyrium der Lüge auf sich nahmen.

Deswegen die Moskauer Kirche als „lebenden Leichnam“ zu bezeichnen, der vom Staat nur zu Propagandazwecken am Leben erhalten werde, wird der Situation der Russischen Orthodoxie nicht gerecht. Aber im Westen wird das „unpolitische“ Verhalten dieser Kirche nicht verstanden.

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