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Katholischer Bischof im „dritten Rom"

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Er macht ganz den Eindruck eines Menschen, den fast nichts mehr erschüttern kann: Tadeusz Kondrusiewicz, seit dem 13. April 1991 Erzbischof und Apostolischer Administrator für den europäischen Teil Rußlands.

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Er macht ganz den Eindruck eines Menschen, den fast nichts mehr erschüttern kann: Tadeusz Kondrusiewicz, seit dem 13. April 1991 Erzbischof und Apostolischer Administrator für den europäischen Teil Rußlands.

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Im November 1989, gerade zum Bischof geweiht, begann Tadeusz Kondrusiewicz die unter der kommunistischen Herrschaft völlig vernichteten kirchlichen Strukturen in Weißrußland wieder aufzubauen. In nur wenigen Monaten gelang ihm das fast Unmögliche. Er holte Priester und Ordensfrauen aus Polen zur Verstärkung des völlig überalterten und zahlenmäßig stark reduzierten Klerus nach Weißrußland, eröffnete ein neues Priesterseminar in seiner Heimatstadt Grodno, sorgte für die offizielle Registrierung von Dutzenden von Pfarreien und spornte die Gläubigen an, ihre Kirchen zu renovieren oder wiederaufzubauen. Als er im Sommer 1991 nach Moskau übersiedelte, übernahmen zwei Bischöfe seine Nachfolge: Alexander Kaskiewicz als Bischof der Diözese Grodno im Westen und Kazimierz Swiatek als Bischof von Minsk-Mohilew im Osten Weißrußlands.

Sechs Pfarreien betreut von sechs Priestern, zwei von ihnen älter als 80 Jahre, und eine unbekannte Anzahl von Gläubigen waren die Überbleibsel der katholischen Kirche im europäischen Teil Rußlands. Am 31. Juli 1991 wurde dieses Gebiet offiziell als Apostolische Administratur registriert und erhielt den Status einer juristischen Person. Erst dadurch wurde es Erzbischof Kondrusiewicz möglich, seine neue „Diözese" aufzubauen. „Heute haben wir 34 Pfarreien und weitere 15 sollen in den nächsten Wochen registriert werden. Aber wir haben weder Kirchen noch sonstige Gebäude. Selbst in der St. Ludwigskirche in Moskau sind wir nur Gäste, seit Jelzin" die Kirche der französischen Regierung zurückgegeben hat", erklärt Kondrusiewicz gleich zu Anfang unseres Gespräches.

Seine „Diözese" erstreckt sich auf ein Gebiet von vier Millionen Quadratkilometern mit etwa 100 Millionen Einwohnern. Es gibt schätzungsweise 250.000 .bis 300.000 Katholiken, doch genaue Statistiken fehlen. Sie sind polnischer, litauischer, deutscher, weißrussischer oder ukrainischer Abstammung. In letzter Zeit kommen immer mehr Russen zur Kirche. Größere katholische Gemeinden existieren in Moskau, in und um St. Petersburg, im Wolgagebiet, im Königsberger Gebiet und im nördlichen Kaukasus.

Die Tatsache, daß durch die Ernennung von Kondrusiewicz zum Apostolischen Administrator für den europäischen katholischer Bi-

Teil Rußlands ein schof nach Moskau ins Herz der russischen Orthodoxie kam, stieß dort auf erbitterten Widerstand. Das orthodoxe Patriarchat protestierte sofort gegen diese Form des katholischen „Proselytismus" und verwahrte sich gegen die „katholische Invasion in kanonischen Gebieten der orthodoxen Kirche". Ist dieser Vorwurf berechtigt? Entschieden weist ihn der Erzbischof zurück: „Jesus sagte, geht hinaus in alle Welt und verkündet mein Wort. Wenn das Patriarchat sagt, die katholische Kirche würde in kanonische Gebiete der orthodoxen Kirche eindringen, so stellt sich doch umgekehrt die Frage, wer diese Gebiete festgelegt hat."

Russen nach Hause schicken?

Erinnert man sich an die Geschichte der katholischen Kirche in Rußland, scheinen die Vorwürfe der orthodoxen Kirche tatsächlich unhaltbar. Im Jahre 1917, kurz vor Ausbruch der Oktoberrevolution, zählte sie im europäischen Teil Rußlands noch über eine halbe Million Gläubige in 150 Pfarreien, davon 13 in St. Petersburg und drei in Moskau. Sie verfügte über zwei Priesterseminare in Saratow (für die Deutschstämmigen) und in St. Petersburg, über eine katholische Akademie in St. Petersburg, sowie über etliche katholische Schulen, davon allein 72 in St. Petersburg und 27 in Moskau.

„Diese Zahlen beweisen nicht nur, daß die katholische Kirche bereits vor derOktoberrevolution in Rußland präsent war", erklärt Kondrusiewicz, „sie beweisen auch, daß sie dort über gut entwickelte Strukturen verfügte. Was wir heute tun, ist nichts anderes, als die von den Kommunisten vernichteten Pfarreien wiederaufzubauen und zwar überall dort, wo die Gläubigen zu uns kommen und uns darum bitten." Und wie steht der Erzbischof zu dem Vorwurf des Proselytismus? ,.Proselytismus heißt, Menschen durch Ausübung von materiellem oder psychologischem Druck zu bekehren. Wenn nun aber einige Russen aus freien Stücken zu uns kommen und getauft werden wollen, sollen wir sie dann wieder nach Hause schicken, nur weil sie Russen sind?"

Für den Erzbischof sind dies offensichtlich brennende Fragen. Allein in Moskau empfingen im vergangenen Jahr 500 Erwachsene die Taufe. Welche Chancen sieht er aber in dieser zugespitzten Lage für einen ökumenischen Dialog mit der orthodoxen Kirche? „Wir sind Schwesterkirchen und müssen auch wie Schwestern friedlich in einer Familie leben", lautet seine spontane Antwort. „Wir haben viele Gemeinsamkeiten, unseren Glauben, die Bibel, die Glaubenslehre. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage in unserem Land sollten wir zusammenarbeiten, beispielsweise im karitativen Bereich. Wir müssen für bessere und engere Kontakte zwischen unseren Kirchen sorgen. Nicht zuletzt stehen wir gemeinsam vor der Gefahr der sich ausbreitenden Sekten in Rußland, die den Dialog weder mit der orthodoxen noch mit der katholischen Kirche suchen."

Das ungeheure geistliche Vakuum, das 70 Jahre des militanten Atheismus in Rußland hinterlassen haben, bietet einen ausgezeichneten Nährboden für Sekten aller Art, seien es Hare Krishna, Moon, Zeugen Jeho-vas oder fundamentalistisch protestantische Sekten wie zum Beispiel einige Gruppierungen der Pfingstler. Unter dem Motto „Wolga '92" und „Ob '92" hat eine dieser fundamentalistischen protestantischen Sekten zwei große Dampfschiffe angemietet. An Bord Sind einige Dutzend „Missionare", die die beiden Flüsse im europäischen Teil Rußlands und in Sibirien entlang schippern, predigen und Unmengen religiöser Schriften unter das Volk verteilen. An einem einzigen Sonntag tauften die Prediger einer solchen Sekte in Bransk 3.000 Leute.

Abgesehen von all diesen Schwierigkeiten gilt die größte Sorge des Erzbischofs dem Wiederaufbau der katholischen Kirche, der vor allem durch den Mangel an Priestern und das Fehlen von Kirchen und kirchlichen Gebäuden behindert wird. Erst vor kurzem haben die Behörden die Katharinenkirche in St. Petersburg zurückgegeben. Diese Kirche, einst das Zentrum des Katholizismus in Rußland, wurde von den Kommunisten als Konzerthalle zweckentfremdet und brannte vor einigen Jahren aus. Zurückgeblieben ist eine Ruine, deren Renovierung sieben bis acht Millionen Dollar kosten wird. Zurückgegeben wurde auch die Kirche der Unbefleckten Empfängnis Mariens in Moskau, die ebenfalls völlig renoviert werden muß. Für die Gemeinden von Saratow, Wolgograd, Marks und Sowjetsk, dem früheren Tilsit, plant der Erzbischof den Bau von vier Kirchen.

150 angehende Religionslehrer

Mit finanzieller Unterstützung durch das internationale Hilfswerk Kirche in Not/Ostpriesterhilfe eröffnete Erzbischof Kondrusiewicz im November 1991 das katholische theologische Kolleg St. Thomas von Aquin in Moskau. Ziel dieses Instituts ist die Ausbildung von Laien zu Religionslehrern und Katechisten. Bis jetzt haben sich 150 Studenten an dem Kolleg eingeschrieben.

Derzeit werden die Pfarren im europäischen Teil Rußlands von 25 Priestern zwölf verschiedener Nationalitäten betreut. Seine ersten fünf Priesteramtskandidaten schickte Kondrusiewicz zur Ausbildung nach Grodno (Weißrußland). Es werden noch Jahre vergehen, bis er genügend Seminaristen hat, um an die Eröffnung eines eigenen Seminars zu denken. Solange es an Priestern, Ordensleuten, engagierten Laien mangelt, sind Bücher, Radio und Fernsehen die wichtigsten Hilfsmittel, um den geistlichen Hunger der Menschen zu stillen. Auch 1992 will Kirche in Not/Ostpriesterhilfe die Ausstrahlung religiöser Radioprogramme durch Radio „Blagowest" wieder mit 500.000 Dollar unterstützen, sowie den Aufbau einer Video-Abteilung zur Vorbereitung religiöser Fernsehprogramme und den Druck religiöser und theologischer Literatur in russischer Sprache.

Der Beitrag wurde von „Kirche in Not/Ostpriesterhilfe" zur Verfügung gestellt.

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