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Der Bischof aus der Kälte

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Die Masse schwarzen Stahls eines sowjetischen Panzers dominiert auf ihrem imposanten Betonsockel den ganzen Platz und überrascht den Reisenden aus dem Westen. In Grodno sind die sowjetischen Symbole nämlich noch nicht abgeräumt worden und Hammer und Sichel - einige Kilometer weiter nördlich, in Litauen, Symbole der Schändlichkeit - sind noch nicht von den öffentlichen Gebäuden entfernt worden. Trotzdem hat sich

etwas verändert in dieser an den Ufern des Niemen, nicht weit der polnisch-litauischen Grenze gelegenen weißrussischen Stadt mit ihren 300.000 Einwohnern. In der Tat hat soeben ein katholisches Priesterseminar seine Tore geöffnet und 39 junge Sowjets fünf verschiedener Nationalitäten bereiten sich aufs Priesteramt vor.

Es ist noch gar nicht lange her, daß die Kirche in der Sowjetrepublik Weißrußland (sie zählt elf Millionen Einwohner) verfolgt wurde, ruft Tadeusz Kondrusiewicz, Apostolischer Administrator von Minsk, in Erinnerung. „Unsere Kirche war zum Tode verurteilt", sagt der 44jährige Bischof, den Papst Johannes Paul II. im Juli 1989 an die Spitze der etwa 2,5 Millionen Katholiken lateinischen Ritus in Weißrußland gestellt hat. Kondrusiewicz ist der erste in Weißrußland ernannte Bischof seit 62 Jahren. Ohne Bischof, ohne Priesterseminar, alle Klöster geschlossen, die Priester im Exil oder nach Sibirien deportiert, der Religionsunterricht verboten und den Jungen der Atheismus eingetrichtert - da gab man nach menschlichem Ermessen nicht mehr viel auf das Überleben des Katholizismus in Weißrußland. „Und trotzdem", so das junge Oberhaupt der weißrussischen Kirche, „trotzdem haben die Leute den Glauben nicht verloren!"

Bevor die Kommunisten an die Macht kamen, gab es in Weißrußland ein halbes tausend Kirchen, die zu Lagerhäusern, Werkstätten, Schulen, Anstalten, Konzert- und Kinosälen und anderem mehr umgewandelt wurden. Vor zwei Jahren waren erst 120 Kirchen geöffnet - halb so viele wie heute! Trotz des Drucks von außen ist das Praktizieren der Religion nicht verschwunden: 1987 haben in der Franziskanerkirche von Grodno 65.000 Menschen kommuniziert, 1989 waren es schon mehr als 100.000. Im Juni 1988 haben 150 Kinder dort ihre erste heilige Kommunion empfangen, aber im Juni dieses Jahres waren es schon dreimal so viele.

Die Leute drücken sich nicht mehr die Hausmauern entlang, wenn sie zur Messe gehen, sie fürchten nicht mehr, ihr Vorgesetzter in der Fabrik oder im Büro könnte einen ausführlichen Polizeibericht über ihre religiösen Aktivitäten erhalten, was beruflichen Stillstand oder

den Verlust des Arbeitsplatzes für sie und ihre Familie bedeutete.

Grodno war zuerst litauisch, dann polnisch; 1793 unterzeichnete hier der polnische Reichstag mit Rußland den Vertrag der zweiten Teilung Polens. Die Stadt zählt eine starke polnische Minderheit. Übrigens sind die Katholiken Weißrußlands zum größten Teil polnischer Herkunft, auch wenn manche von ihnen unterdessen russif iziert worden sind und die Sprache ihres Herkunftslandes nicht mehr unbedingt kennen. Echte Weißrussen katholischer Konfession findet man eher selten, und wenn, dann besonders unter der ..Intelligentsia". Heute bemerkt man jedoch unter den jungen Leute viele, die auf der Suche sind und sich für den Katholizismus interessieren. Auch vom orthodoxen Glauben zum Katholizismus konvertierte Jugendliche findet man.

„In der Tat", so sagt ein Priester in Grodno, „sieht man die katholische Kirche in dieser Sowjetrepublik als .polnisch' an", was nicht ungefährlich ist zu einem Zeitpunkt, da die interethnischen Spannungen in der UdSSR immer heftiger werden.

Im Hof des ehemaligen Bernhardiner-Klosters spielen im bleichen

Sonnenlicht und bei scharfer Kälte ein Dutzend junge Seminaristen im Straßenanzug Fußball und toben sich ohne Hemmungen aus. Gleich werden sie sich zum Essen in die Stadt begeben. Was gar nicht so einfach ist: Sie müssen ein Restaurant finden, das ihnen eine Mahlzeit serviert. Mancherorts wurde ihnen der Zugang schon verwehrt, denn man ist in Grodno noch nicht an ganze Gruppen von Priestern und Seminaristen gewöhnt. Nicht alle mögen das Gebet vor dem Essen hören, meint ironisch ein Professor am Seminar. Dennoch und obwohl es einen strengen Winter geben wird, lag Bischof Kondrusiewicz daran, sein Seminar in Grodno zu eröffnen.

Im Seminar von Grodno mit seinen verfallenen Gebäuden fehlt es noch an allem: Die polnische Kirche hat versprochene religiöse Literatur noch nicht geschickt. „Wir brauchen zum Beispiel Lehrstoff für Philosophie, Apologetik und sie schicken uns Werke über das Kirchenrecht", klagt einer der Professoren. Es stehen keine Bücher auf Weißrussisch zur Verfügung. Der Unterricht für die 39 jungen Seminaristen - 24 von ihnen kommen aus Weißrußland, zwölf aus der Ukraine, zwei aus Litauen und einer

aus Georgien - wird auf Polnisch gehalten, mit russischen Erklärungen für jene, die diese Sprache nicht beherrschen. Der Gebrauch des Polnischen ist jedoch nicht ohne Gefahr für eine Kirche, die im Volk verwurzelt sein will, zu einer Stunde, da das Aufkommen des Nationalismus auch Weißrußland nicht verschont.

Bis vor kurzem gab es nicht einmal eine weißrussische Schule in Grodno und in anderen Städten der Republik: das Beherrschen des Weißrussischen geht also nicht nur die Kirche an, sondern die Gesamtheit der russifizierten Intelligentsia. PaterTscharnjawskij,ein weißrussischer Priester, der in der Gegend von-Minsk arbeitet, hat seine Übersetzung des Neuen Testaments ins Weißrussische fast zu Ende gebracht. Man hat jedoch bemerkt, daß er sie nicht aus der originalen griechischen Version, sondern aus dem Polnischen erarbeitet hat. Es ist schwierig, in Weißrußland Bibelwissenschaftler zu finden, die des Griechischen mächtig sind und die Übersetzung auf die üblicherweise vorgeschriebene Art machen könnten. Unterden Professoren, die polnischer Herkunft sind, gibt man sich über diese linguistische Frage durchaus Rechenschaft. Was aber tun: Rektor Stanislaw Kuczynski, der nur mühsam am Stock gehen kann, ist 75 Jahre alt; der Spiritual, Pater Michal Woroniecki, ist seinerseits 83 Jahre alt. Nur der Prä-fekt, Lucjan Radomski, der am Seminar von Kaunas in Litauen studiert hat, ist jung und gut in Form.

Um sie zu unterstützen, hält Bischof Kondrusiewicz auch Theologievorlesungen, ebenso wie drei Professoren, die mit Erlaubnis der sowjetischen Behörden aus Polen gekommen sind, aber nur teilzeitlich unterrichten. Trotz dieser etwas pessimistischen Beschreibung und den Problemen, die auf materieller wie spiritueller Ebene noch gelöst werden müssen, überzeugt der Enthusiasmus der jungen Seminaristen. Eine Kirche, die man vernichtet glaubte, beweist in Weißrußland ihre Lebendigkeit.

Der Autor ist Chefredakteur der Schweizer Katholischen Presseagenrur KIPA.

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