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Eine totgeschwiegene Million

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Der Leidensweg des polnischen Volkes ist noch keineswegs zu Ende, die Diaspora längst nicht abgeschlossen. Dieser Bericht beschäftigt sich mit der Situation der Polen, die derzeit auf dem Territorium der Sowjetunion leben — es sind fast eineinhalb Millionen. Ein Thema, das im Ostblock nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert wird...

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Der Leidensweg des polnischen Volkes ist noch keineswegs zu Ende, die Diaspora längst nicht abgeschlossen. Dieser Bericht beschäftigt sich mit der Situation der Polen, die derzeit auf dem Territorium der Sowjetunion leben — es sind fast eineinhalb Millionen. Ein Thema, das im Ostblock nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert wird...

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Es gibt viele Dinge, in denen sich Polens starker Mann Edward Gierek von seinen Vorgängern unterscheidet. Er ist auf jeden Fall realistischer und offener. Das beweist nicht zuletzt seine Haltung gegenüber den Auslands-Polen. Fast 34 Millionen Menschen leben in der Volksrepublik, mehr als zehn Millionen im Ausland! Die zahlenmäßig stärkste Gruppe findet sich in den USA (6,500.000) und 1,430.000 leben auf dem Staatsgebiet der UdSSR.

Während frühere Warschauer Regime die Auslands-Polen ignorierten oder sie aufforderten, nach Hause zurückzukehren, ermutigte Gierek seine Landsleute, „draußen“ zu bleiben und als „Botschafter“ ihrer Heimat zu wirken. Diese Erklärungen bezogen sich allerdings nur auf die Polen im kapitalistischen Ausland. Die Existenz einer polnischen Minorität in der Sowjetunion wird in den offiziellen Massenmedien totgeschwiegen.

Wieslaw Adamski, stellvertretender Außenminister und Generalsekretär der „Polonia-Gesellschaft“, erklärt das so: „Den Polen in der Sowjetunion muß man keine besondere Aufmerksamkeit widmen, denn die sowjetischen Behörden versorgen sie mit allem, was sie brauchen. Sie haben ihre eigenen Schulen und kulturellen Einrichtungen und sie brin-

gen mehr polnische Publikationen heraus als die übrigen Auslandspolen zusammen.“

Der Londoner „Guardian“ vermerkte in diesem Zusammenhang, die Warschauer Behörden würden mit keinen Besuchsziffem von sowjetischen Staatsbürgern polnischer Herkunft herausrücken. Außerdem wären die Sowjet-Polen verärgert darüber gewesen, daß keine Delegation von ihnen zu dem „Forum 74“ (einem großen Exilpolen-Treffen anläßlich des 30. Jahrestages der Entstehung der Volksrepublik) eingeladen worden war. Auch gibt es keine offiziellen Angaben über polnische Schulen und kulturelle Einrichtungen in der UdSSR.

Kein Wunder, daß dieser Zustand, verbunden mit der Unmöglichkeit der Kontaktaufnahme selbst zwischen Verwandten in Polen und der UdSSR, Unzufriedenheit hervorgerufen hat. Westlichen Nachrichtenagenturen verdankt die Öffentlichkeit das Bekanntwerden einer spektakulären Protestaktion:

Reuter, UPI und AFP berichteten

Anfang Dezember des Vorjahres über eine Petition, die Anton Slo-nimski, einer der führenden polnischen Literaten, an den Kultusminister Jozef Tejchma gerichtet hatte. Er hatte seinen Sekretär Adam Michnik ausgeschickt, um auch andere Intellektuelle zu einer Unterschrift unter dieses Dokument zu bewegen. Nachdem er die 15. Unterschrift eingeholt hatte, wurde Michnik verhaftet. Zwar wurde er nach zwei Tagen entlassen, die Petition jedoch beschlagnahmt.

Hier auszugsweise ihr Wortlaut:

„In einer Zeit internationaler Entspannung haben ethnische Minderheiten und nationale Minoritäten in allen Staaten ihr unbestreitbares Recht auf Bewahrung ihrer Tradition, Kultur, Sprache und Religion, garantiert durch die Charta der Vereinten Nationen, bewiesen.

So haben auch viele Millionen Polen, die im Ausland leben, ihre Verbindungen mit der Heimat verstärkt, unterstützt durch die polnischen Behörden und den Staat.

Es ist bedauerlich, daß dies nur zu einem unbefriedigenden Grad auch auf eine große Gruppe, nämlich die Polen in der Sowjetunion, zutrifft.

Wir appellieren daher an die Regierung, dafür Sorge zu tragen, daß auch den Polen in der Sowjetunion

Caito

die gleichen Rechte zugestanden werden wie unseren Landsleuten in anderen Ländern.

Es ist eine dringende Sache und unserer Meinung nach unvermeidlich, die Kontakte zwischen den Polen in der Sowjetunion und dem Heimatland auszuweiten, das Reisen zu erleichtern, sowohl für einzelne als auch für Gruppen; dazu die Teilnahme der Polen aus der Sowjetunion an Kongressen, Festen und Ferienlagern für Kinder zu fördern ...

Wir wünschen unseren Landsleuten in der Sowjetunion, sie könnten ihre Bedürfnisse und Notwendigkeiten vertreten, speziell im Hinblick auf Kultur, Erziehung und Religion.“

Der Text dieser Petition deutet darauf hin, daß sowohl dem Autor wie den Mitunterzeichnern Informationen vorliegen, die auf eine äußerst mißliche Lage der polnischen Minderheit in der UdSSR schließen lassen.

Wie immer, wenn es um Minderheitenfragen geht, präsentiert jede Seite ihre eigenen, „einzig richtigen“

Bevölkerungszahlen. In diesem Falle schwanken sie zwischen 1,167.000 (sowjetischer Zensus von 1970) und der polnischen Schätzung von 1,430.000, veröffentlicht in der atheistischen Wochenzeitschrift „Argumenty“ “am 23. Juli 1972.

Eine solche Disparität würde eigentlich nach einer akademisch fundierten soziologischen Untersuchung rufen. Da eine solche Studie jedoch fehlt — offenbar wagt es niemand, sie durchzuführen —, muß sich jeder ernsthafte Versuch einer Zahlenfestlegung auf die letzten verfügbaren Daten plus Schätzungen stützen. Eine solche „Annäherungs-giifer,“ schließt allerdings bedeutende soziologische Faktoren aus—r nämlich die natürliche Bevölkerungsbewegung (Todesfälle, Geburten), Mischehen mit Angehörigen anderer Nationalitäten, Pressionen des Staates, Umsiedlungen und ähnliches mehr.

Die Bedeutung dieser „Sekundärfaktoren“ illustriert ein Zahlenvergleich: 1959 registrierte der sowjetische Zensus 1,380.000 Polen, 1970 nur noch 1,167.000. Im gleichen Zeitraum sank der Anteil von Sowjetbürgern polnischer Herkunft, die Polnisch als ihre Muttersprache angaben, von 45,2 auf 32,5 Prozent.

Offenbar finden es die Angehörigen der polnischen Minderheit aus verschiedenen Gründen — Karriere, Sozialprestige — nicht mehr für opportun, auf ihrer ethnischen Herkunft zu beharren. (Wie auch in anderen Gebieten der Sowjetunion, zum Beispiel in Armenien und Georgien, eine zunehmende „Russifizie-rung“ festzustellen ist).

Wie kam es nun zur Bildung der polnischen Minderheit in der UdSSR?

Im September 1939 annektierte die Sowjetunion wesentliche Teile Vor-kriegs-Polens, die jetzt Teile der Ukrainischen, Weißrussischen und Litauischen Sowjetrepubliken sind. Vor dem Krieg lebten dort 5,274.000 Polen. Diese Zahl ist unbestritten und tauchte auch in offiziellen polnischen Organen, darunter die Militärzeitschrift „Wojskowy Przeglad Historyczny“ (Nr. 1/1967) auf. Ungefähr 1,7 Millionen Polen wurden nach Sibirien deportiert. Ein Teil von ihnen verließ die Sowjetunion noch während des Krieges. 115.000 Polen kämpften als „General-An-ders-Armee“ 1942 im Nahen Osten gegen die Hitler-Wehrmacht. Zwei Jahre später verließen 50.000 Polen, die Kosziuszko-Armee, ihre Quartiere in der UdSSR. Sie bildeten den Kern der zukünftigen Armee des kommunistischen Polen. Der überwiegende Anteil der Deportierten, nämlich rund 850.000, fanden in Stalins Lagern den Tod.

In den ersten beiden Nachkriegsjahren wurden 1,496.000 Polen hinter die Grenzen des jetzigen Polen „repatriiert“. Am 15. Oktober 1945 erklärte der damalige Vorsitzende des Nationalen Volksrates, Boleslaw Bierut: „Vier Millionen Polen aus

dem Osten werden repatriiert.“ Stanislaw Mikolajczyk, damals Vorsitzender der Bauernpartei Polens, stimmte zu.

Beide müssen gewußt haben, daß vor dem Krieg rund 5 Millionen ihrer Landsleute im Osten gelebt hatten. Sie gaben also den Verlust von rund einer Million zu, ohne auf die Gründe näher einzugehen ...

Und noch einen anderen Schluß lassen die Worte Bieruts und Miko-lajczyks zu, nämlich daß rund 2,5 Millionen Polen tatsächlich in der UdSSR zurückgeblieben sind. Daran ändert auch die Rückführung von 230.000 Ost-Polen in den Jahren 1956 bis 1959 nichts.

Und wo sind die 900.000 Polen geblieben, die vor dem Krieg bereits auf dem Gebiet der Sowjetunion, vornehmlich in der Ukraine und in Weißrußland gelebt haben? Die Antwort: Sie wurden von Stalin schon in den dreißiger Jahren umgebracht oder nach Sibirien verbannt. Wie viele von diesen Menschen noch leben, wo ihre Kindear Ä^ü3d. jiMift heute niemand. Die Taiga schweigt.

Die Rechnung — ohne Stalins Säuberungen — sieht demnach so aus:

Polen in den von der UdSSR annektierten Gebieten: 5,274.000.

Davon sind abzuziehen:

General-Anders-Armee 115.000

Kosciuszko-Armee 50.000

Tote und Vermißte 850.000

Rückführung 1945 bisl947 1,496.000

Rückführung 1956 bis 1959 230.000

2,741.000

Die Differenz dürfte der wirklichen Anzahl von Polen in der Sowjetunion nahekommen, nämlich 2,533.000, fast doppelt so viel wie von Polen oder der Sowjetunion zugegeben werden...

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