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Zwischen Furcht und steter Hoffnung

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Knapp 10 Minuten nach dem Start in Wien überquert das Flugzeug bereits die Staatslatifundien der CSSR. Weitere 20 Minuten später gliedert sich das polnische Land unten in übersichtliche Proportionen: Bauernhöfe in einem sozialistischen Land sind die erste Provokation, die Polen zu bieten hat.

Die grauenhaft eintönigen Wohnkolosse nahe Warschau dagegen wirken passend, auch der stolze Preis von 1500 Zloty, zahlbar in Devisen, den der Gast dann in seinem Hotel erfährt. Geteilt durch 31, den offiziellen Wert des Dollar, macht er deren gerade fünfzig aus. Daß die amerikanische Devise noch immer das Drei- bis Vierfache im Jeder-mann-Kurs wert ist, folgt als Erfahrung unmittelbar darnach, wenn die Kellner im Speisesaal ungeniert den Wechsel anbieten.

Der letzte Besuch in Polen ist noch kein Jahr her. Die Grenzkontrolle für den Autoreisenden war damals gründlich - diesmal entfiel sie völlig. Westliche Zeitungen, die der Reisende nicht mitnahm, werden ihm im Hotel sofort angeboten. Der erste Treff mit einem Polen im Hotel offenbart eine bisher hierzulande unerhörte und undenkbare Furchtlosigkeit.

Gleich ein Dutzend Mal kann man am ersten Abend das unübersehbar große, weiße Schild mit der roten Aufschrift „Solidarnocz" am Rockaufschlag bewundern, hinter dem bei vielen versteckt das Parteiabzeichen sich schämt. Ist die „Solidarität", trotz aller gegenteiligen Beteuerungen Wale-sas und seiner Mannen, die neue, zweite oder doch schon im Sturmwind auf Platz 1 getragene erste Partei?

Der Besuch in einer feinmechanischen Fabrik, weit draußen im Warschauer Stadtteil Praha, erinnert sofort an ungebrochene Realitäten. Zwei Uniformierte vor der Tür - eine strenge Aufsichtsdame hinter ihr, Ausweiskontrolle, Fotografierverbot, und das alles bei einer höchst zivilen Produktion. Nicht den Fremden, behauptet zwar der herbeigerufene Betriebsleiter, gelte dieser Au/wand, sondern den eigenen Mitarbeitern und ihrer beklagenswerten Disziplin.

Schräg gegenüber wälzt sich eine Schlange von Wartenden den Bürgersteig entlang. Hier ist die Arbeitervorstadt von Warschau - die Arbeiter aber stehen um Brot. Was sie hier an Zeit verwarten, ziehen sie also der Produktionszeit ab. So stimmen die beiden Bilder zusammen.

Der drahtige Pole, Gesprächspartner am Nachmittag, ist mitten im sozialistischen Polen einer der zahlreichen gestandenen Unternehmer. In seiner kosmetischen Fabrik verdient der Arbeiter mehr als sonst der Direktor eines Staatsbetriebs, bis zu 20.000 Zloty.

Das Ziel Walesas ist hier bereits Wirklichkeit geworden: verantwortliches, leistungs- und entsprechend lohnbewußtes Handeln eines Betriebs, in dem nicht die Stundenzahl, sondern die Produktionsziffer über aller Wohlstand entscheidet. Die Probleme des Absentismus, des Diebstahls und Leerlaufs -um nur einige der vielen zu nennen, mit denen sich die Staatsbetriebe herumschlagen und denen die „Solidarität" den Kampf angesagt hat -, hier, im privatwirtschaftlich organisierten Betrieb haben sie nie existiert.

„Solidarnocz" bekennt sich beflissen zum Sozialismus - trotz des erfolgreich beendeten Kampfes gegen die „führende Rolle der Partei" in seinen Statuten. Wenn die wirtschaftspolitischen Ziele der Freien Gewerkschaften aber problemlos in einem nichtsozialistisch strukturierten Betrieb erreicht werden - was Walesa natürlich, wie ganz Polen, weiß -, wieviel kann man dann von dem Lippenbekenntnis zum Sozialismus halten?

Mitten in den bewegten Tagen Ende November, da nacheinander der Sejm, das polnische Parlament, und das Zentralkomitee der Partei ungewohnt lautstark tagen, überschreibt der Kommentator einer großen Warschauer Tageszeitung seinen Bericht mit „Gute Prognose". Morgen schon, wenn die Auslandsverschuldung mit über 12 Milliarden Dollar zur Debatte steht, kann es wieder heißen „Schlechte Perspektive".

Dieses Wechselbad an Stimmungsund Panikmache begleitet den polnischen Alltag seit über 30 Jahren. Die Polen blieben nur dadurch halbwegs trocken, daß sie durch stillen, erfolgreichen passiven Widerstand oder - wie jetzt geschehen - durch laute Aktivität dafür sorgten, daß sie nicht auch noch aus dem Regen in die Traufe, sprich: aus dem Scheinsozialismus in den Kommunismus gerieten. Das war und bleibt auch der bremsende Regulator im Siegeszug der „Solidarität".

Präzis sagt es ein neues Warschauer Bonmot: „Lieber 100 Zloty weniger, als 1 Rubel mehr verdienen.", Daraus aber eine Zustimmung zum total abgewirtschafteten Sozialismus herzuleiten, käme der Sympathieerklärung eines Patienten zu seinem Kreislaufleiden gleich, weil dies immer noch besser als der Krebstod sei.

In der Kanonika-Straße, nahe der hochgotischen Kathedrale in der Warschauer Altstadt, drängen sich in diesen Wochen die Menschen vor Dutzenden großformatigen Fotos. Drei Räume voll Hoffnung und Bangen. Walesa kniend, Walesa auf den Schultern, Walesa als Volksredner - fast so andächtig wie vor dem Madonnenbild im Hochaltar der Kathedrale nebenan, das von langen polnischen Fahnen gesäumt ist, stehen die Warschauer vor den Fotos.

Das ausgelegte riesenhafte, schon halb gefüllte Besucheralbum bezeugt, wie dieser Mann vom seelischen Gleichklang seines Volkes getragen wird. Heilige und Helden waren bei den Slawen schon immer einander zum Verwechseln ähnlich - auch darin, daß sie leider nach kurzer Glanzzeit bald tragisch endeten.

Noch ist Polen nicht verloren. Noch ist Walesa ein erfolgreicher Held und kein Märtyrer, noch gewinnt die „Solidarität" eine Schlacht nach der anderen gegen falsche Freunde wie offene Feinde. Noch rennen die aufgescheuchten ostdeutschen und tschechischen Anrainer nur mit Verbalinjurien gegen die Mauern des 40-Millionen-Volkes an.

Sie wissen, was sie 1968 nur ahnten und was selbst Dubcek in seinen Konsequenzen verborgen war: daß den Polen nicht nur die Endstufe Kommunismus, sondern auch schon der Sozialismus, der doch als Heilsweg sich selbst empfehlen müßte, aus tiefstem Herzen zuwider ist. Und sie ahnen, daß es schon längst nicht mehr nur an Walesa liegt, ob es im Polen von morgen überhaupt noch einen nennenswerten Sozialismus geben kann.

Ob es dann aber auch ein Ubermorgen für Polen geben kann? Ein einziger, langandauernder Streik der Eisenbahn, dieser Nabelschnur der UdSSR zu ihrem zuverlässigsten und westlichsten Vorposten, der DDR, könnte darauf die Antwort bereits geben.

Im Gegensatz zur Hitlerzeit ist Polen heute durch keinen Vertrag mit dem Westen verbunden. Ostdeutschland kann ungestört mit dem Säbel rasseln -keine diplomatische Kanzlei des Westens braucht wenigstens verbal zu intervenieren. Die Polen sind völlig auf sich allein gestellt.

Polonia Semper fidelis - Polen ist immer voll Glaubens und Vertrauens. Das ist ihr Wahlspruch. Die einzige Wahl im Nachkriegspolen, die unanfechtbar ist.

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